Umgeben von Mördern und Zuschauern
Mit seinem Debüt als Romancier stößt der Drehbuchautor für Film und Fernsehen, Michel Bergmann, die Tür auf zu einer selten beschriebenen Welt der Juden im hessischen Frankfurt kurz nach der Befreiung vom Hitlerfaschismus. Versprengte, Überlebende, die in eine hoffnungslose Trümmerlandschaft zurückkehren und sich umgeben sehen von potenziellen Mördern, Mitläufern, Zuschauern und Gleichgültigen. Menschen, denen man jede Hoffnung ausgetrieben hat, versuchen sich mit der Haltung des Trotzdem am Aufbau einer hoffnungsvollen Zukunft, die zuerst nichts anderes bedeutet als Überleben und Überwintern in einer Ruinenlandschaft. Mit der Kraft und Energie, die sich aus den Traumata der überlebten Hölle speisen und der Gewissheit, dass nichts wirklich ein Problem ist vor dem Hintergrund der Lager, klammern sie sich ans pralle Leben. Es sind Juden, die an ihre frühere Existenz als Teilacher im Frankfurt der Weimarer Republik anknüpfen wollen. Teilacher, so klärt der Umschlag des Romans auf, ist so etwas wie ein jüdischer Handlungsreisender oder Vertreter. Das Wort „setzt sich zusammen aus dem Begriff Teil und dem hebräischen Wort laachod, Einzelhandel“. Übrigens kommen im Roman viele jiddische Wörter vor, ohne dass eine Übersetzung im Anhang zu finden ist. Autor und Verlag scheinen dies erst nach Drucklegung als mögliches Problem erkannt zu haben, weshalb jetzt ein Glossar auf die Webpage des Verlages gestellt wurde. Doch zurück zur Handlung.
Alfred Kleefeld betritt 1972 das Jüdische Altersheim in Frankfurt, in dem der Nachlass seines kürzlich verstorbenen Nennonkels, David Bergmann, gelagert ist, einem langjährigen Freund von Alfreds Mutter. Sie hatten sich in den 20er Jahren in Frankfurt kennen gelernt und eine längere Affäre gehabt. Um also seiner Mutter, die an der Mittelmeerküste zur Kur ist, einen Gefallen zu tun, beginnt er die Kisten zu sichten. David hatte in der Weimarer Republik mit seinen Brüdern zusammen das große „Wäschekaufhaus Bergmann“ aufgebaut, das ihnen allen Wohlstand bescherte und soviel Geld abwarf, dass sie den Eltern im galizischen und heutigen Nowy Sacz ein Hotel und Restaurant finanzieren konnten. Davids Abneigung gegen Büroarbeit, die Kontrolle seiner peniblen Brüder einerseits und sein Faible fürs Kaffeehaus, fürs Flanieren und Geschichten erzählen andererseits ließen ihn zum Chef der Teilacherkolonne werden. Das bescherte ihm die Freiheit fürs Kaffeehaus und seine Affären. Die Bergmanns hatten es in Frankfurt in relativ kurzer Zeit ins Bürgertum geschafft, hatten sich assimiliert und sahen sich als säkulare Juden an, die ihr Judentum nicht offensiv lebten. Kurz nach der Machtübergabe an die Nazis verabschiedeten sich die Bergmanns gezwungenermaßen von ihren Angestellten, schlossen das Kaufhaus und gingen nach Paris. In Frankreich hat David als einziger von den Bergmanns überlebt. Beim Sichten des Nachlasses taucht Alfred in Davids Leben ein und erinnert sich an viele Kindheitserlebnisse, die er mit David hatte. Anders als sein Bruder, hatte er immer ein besonderes Verhältnis zu David. Die Beschäftigung mit Davids nachgelassenen Kisten und Schachteln und die Beerdigung mit dem anschließenden Umtrunk im Café Unterleitner bilden für Michel Bergmann den Rahmen seines Romans, um die Geschichten der einzelnen Teilacher und früheren Gefährten in mehreren Kapiteln erzählen zu können. Diese sind sehr anrührend und gewähren einen Blick in eine nicht so bekannte Welt der Juden, jenseits der Displaced Persons-Camps und des Exils im Mörderland kurz nach dem Krieg.
Das Problem des Buches ist, dass Bergmann die Perspektive des jungen Alfreds ungefähr nach einem Drittel des Romans völlig aus den Augen verliert und ein Kapitel nach dem anderen ausschließlich aus der Perspektive der Teilacher erzählt. Manchmal schiebt sich eine auktoriale Stimme ohne jiddischen Jargon dazwischen und man weiß nicht, wer da spricht. Alfred und damit seine andere Perspektive tauchen erst kurz vor Schluß des Romans wieder auf, wenn das große Geheimnis offenbart wird, dessen Lösung der Leser von Beginn an ahnt. Doch trotz der Kritik an dem etwas lieblosen Setting und der halbherzigen Struktur des Romans präsentiert Bergmann abenteuerliche und schelmenhafte Geschichten vom Überleben in einer Zeit des Misstrauens und der Lügen, denn keiner wollte dabei gewesen sein und alle hatten irgendwie und irgendwo einen Juden gerettet.
Wie sich die die Teilacher ins Leben flüchten und dennoch den blanken Horror der Vergangenheit mit sich herumschleppen und diesen mit Sarkasmus bändigen, ist behutsam und schön geschildert. Die Teilacher ziehen alle Register, um sich gegenseitig mit Erfolgen beim Verkauf von Wäsche, von Aussteuerpaketen und allen möglichen Stoffen zu übertrumpfen und die Gojem dabei so richtig übers Ohr zu hauen. Max Holzmann, dessen gesamte Familie von den Nazis und ihren Schergen in den Vernichtungslagern ermordet wurde, bleibt dieser Überlebenshumor versagt. Er ist immer ernst und traurig und schafft es nur mühsam, sich einzurichten. In ihm finden die Teilacher ihren neuen Chef, für den sie sich gegenseitig gerne übertrumpfen und ins Zeug legen. Ausgerechnet Holzmann, der sich so schwer tut in einem neuen Leben anzukommen, weil er sein altes nicht vergessen kann, verliebt sich in eine Schickse, deren Verlobter nicht aus dem Krieg zurückgekehrt ist. Der Weg der Anbahnung einer Liebe ist mit Unwissenheit und Missverständnissen gepflastert und macht das schwierige und fast unmögliche Verhältnis zwischen Juden und Deutschen in jener Zeit anschaulich.
Autor: Matthias Reichelt
Michel Bergmann: Die Teilacher. Roman. Arche Literatur Verlag, Hamburg Zürich 2010. 288 Seiten, gebunden, ISBN 978-3-7160-2628-, 19,90 €