Wie äußert sich Antisemitismus in der Bundesrepublik der Gegenwart? Dieser Frage sind die Linguistin Monika Schwarz-Friesel und der Historiker Jehuda Reinharz in einer methodisch innovativen Studie nachgegangen.
Bislang hat die empirisch orientierte Antisemitismusforschung überwiegend mit Fragebogenstudien gearbeitet. Dies hat den Nachteil, dass ausschließlich die Stellungnahme von Probanden zu vorgefertigten Aussagen abgefragt wird. Auf diese Weise lässt sich die quantitative Verbreitung judenfeindlicher Einstellungen ermitteln, während die qualitative Seite des gegenwärtigen Antisemitismus unterbelichtet bleibt. Schwarz-Friesel und Reinharz haben sich hingegen mit einem sprach- und kognitionswissenschaftlichen Ansatz der Sprache der Antisemiten gewidmet: Welche Stereotypen und Feindbilder bedienen sie? Welche Argumente werden genutzt, und wie werden sie zu einem Glaubens- und Weltdeutungssystem verknüpft? Diesen Fragen wird mit einer quantitativen und qualitativen Auswertung von Hass-Zuschriften an den Zentralrat der Juden in Deutschland und die israelische Botschaft nachgegangen. Insgesamt wurden 14.000 E-Mails, Briefe, Postkarten und Faxe, die zwischen 2002 und 2012 eingingen, erfasst.
Überraschend wie alarmierend sind vor allem zwei Ergebnisse der Studie: Nur 13% aller Schreiber versteckten sich in der Anonymität. Die überwiegende Mehrzahl der Zuschriften stammt nicht von Rechts- und Linksextremisten oder von islamistischen Zuwanderern, sondern von Personen, die sich in der Mitte des politischen Spektrums verorten und über hohe Bildungsabschlüsse verfügen. Die Enttabuisierung von Judenfeindlichkeit dürfte vor allem darauf zurückzuführen sein, dass der Antisemitismus in der Israelfeindschaft einen neuen Kontext gefunden hat. Typischerweise verwahren sich die Schreiber aus der politischen Mitte präventiv gegen den Antisemitismusvorwurf, projizieren dann aber klassische Stereotype und Feindbilder des Antisemitismus auf Israel und die Israelis. Der Anti-Israelismus unternimmt eine einseitige Deutung des Nahostkonflikts, stellt die Israelis als Tätervolk (oder gar als „neue Nazis“ und „Gefahr für den Weltfrieden“) dar und unterstellt ein pro-israelisches Meinungsdiktat, das in Deutschland aufgrund der NS-Vergangenheit vorherrsche. An unzähligen Beispielen verdeutlichen die Autoren, dass dieser Anti-Israelismus mit legitimer Israelkritik nichts mehr zu tun hat, vor allem dann nicht, wenn die Schreiber alle Juden für das Handeln der israelischen Regierung verantwortlich machen und das Existenzrecht Israels bestreiten.
Während der klassische Antisemitismus an den rechten (Holocaustleugnung) und linken (Antizionismus) Rand verdrängt wurde, ist der Anti-Israelismus heute die vorherrschende und offenbar nicht mehr als extremistisch empfundene Variante der Judenfeindlichkeit. Der internationale Vergleich zeigt, dass diese Entwicklung nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa zu beobachten ist. Als spezifisch deutsch bzw. österreichisch kann hingegen die Verbindung des Anti-Israelismus mit Schuld- und Erinnerungsabwehr gelten.
Die Studie von Schwarz-Friesel und Reinharz weist einige kleine Schwächen auf, die aber die Validität der Befunde nicht schmälern. Das Kapitel über die historische Verankerung der judenfeindlichen Stereotypen vertritt die These vom ewigen Judenhass aus vormoderner christlicher Wurzel und suggeriert die Kontinuität des inhaltlichen Kerns der Judenstereotype über alle historischen Brüche hinweg. Dies entspricht nicht mehr dem Forschungsstand. Die Autoren vernachlässigen hier die saubere Unterscheidung zwischen tatsächlicher Tradierung und der nachträglichen Erfindung von Tradition durch die Antisemiten. Unklar bleibt des Weiteren, wie Schwarz-Friesel und Reinharz die antisemitischen Zuschriften in das politische Rechts-Mitte-Links-Schema eingeordnet haben. Sind sie der politischen Selbsteinschätzung der Schreiber gefolgt oder beruht die Zuordnung auf der Inhaltsanalyse?
Festzuhalten bleibt der zentrale Befund der Studie: „Israel steht als Hassobjekt im Mittelpunkt des aktuellen Antisemitismus. Der Nahostkonflikt bildet im 21. Jahrhundert den herausragenden Begründungszusammenhang für antisemitische Meinungsäußerungen und dient als Katalysator der Judenfeindschaft.“ (S. 102) Der Anti-Israelismus ist kein Phänomen der extremen politischen Ränder, sondern wird aus der Mitte der Gesellschaft artikuliert. Die Studie von Schwarz-Friesel und Reinharz legt nahe, dass die Präventionsstrategien gegen Antisemitismus neu justiert werden müssen, indem sie ihre Aufklärungsbemühungen nicht nur auf die NS-Vergangenheit richten, sondern auch auf die aktuellen Verhältnisse im Nahen Osten.
Autor: Thomas Gräfe
Monika Schwarz-Friesel/ Jehuda Reinharz: Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert, Berlin: De Gruyter 2013. ISBN978-3-11-027772-22013.