Eine kritische Betrachtung
Die Geschichte der Jüdischen Gemeinde von Saloniki in der Zeit 1941/43 zeigt, bei einer genauen Überprüfung, wie gut das zuständige Wehrmachtskommando mit der SS – Eichmann Referat – und der lokalen Marionettenregierung zusammenarbeitete um die Juden erst auszubeuten und dann in den Tod zu schicken. Diese Tatsache wurde von innerjüdischer Polemik, besonders von den absurden Anschuldigungen gegen den damaligen Oberrabbiner Zwi Koretz, geradezu verschleiert. Diese Jüdische Gemeinde, Ende des XV. Jahrhundert von Sephardischen Juden, welche vor der Inquisition fliehen mussten, gegründet, hatte ihre Blütezeit unter dem Osmanischen Reich. Die Lage änderte sich nach dem Jahr 1912 als Saloniki zu Griechenland kam und verschlechterte sich zunehmend nach dem Ersten Weltkrieg und dem Griechisch/Türkischen Krieg von 1923 als über eine Million „Umsiedler“ aus der Türkei in Griechenland Aufnahme suchten. Die nationalistische Propaganda schlug auch antisemitische Töne an und viele Juden zogen es vor zu emigrieren. In April 1941 fand die deutsche Besatzung eine Gemeinde von mehr als 50.000 Juden vor, welche der Aufsicht des Militärkommandos unterstellt wurde. Oberrabbiner Koretz wurde verhaftet und nach Wien verschleppt, wo er einige Monate in Haft blieb.
Die Leitung der Gemeinde wurde dem Gemeindebeamten Saby Saltiel (zum Präsidenten ernannt) übertragen; das Verzeichnis der Mitglieder und Geldmittel wurden beschlagnahmt. Die jüdischen Zeitungen – im altspanisch/jüdischen Dialekt Ladino – wurden verboten. Viele Juden verloren ihre Wohnungen, wurden öffentlich gedemütigt oder als Geisel verschleppt. In Frühjahr 1942 wurde die Religionszugehörigkeit auf den neuen Personalausweisen angegeben.
Eichmann hatte aber „dringendere Prioritäten“: Gauleiter und Oberbürgermeister drängten auf die Deportierungen aus Deutschland, Wien und Protektorat Böhmen und Mähren. Seyß-Inquart drängte auf die Deportierung der holländischen Juden. Dazu kamen die Slowakei und die besetzte Zone von Frankreich. Und Saloniki ist bekanntlich auch weit entfernt von Auschwitz.
Am 13. Juli 1942 – in Nord Afrika und Russland war die Wehrmacht im Vormarsch – wurden 10.000 Männer zwischen 18 und 48 Jahren für die Verschickung zur Zwangsarbeit in einem Chrombergwerk und in einem sumpfigen Gebiet selektiert. Die harten Bedingungen führten zu vielen Todesfällen und Erkrankungen. Ende Oktober 1942 – nach der Niederlage von El Alamein, Rommel war auf dem Rückzug – nahm das Militärkommando ein Lösegeld von circa R.M. 100.000 an und schickte die jüdischen Zwangsarbeiter, trotz der Einwände des Bergwerkdirektors, nach Saloniki zurück.
In Dezember 1942 – in Nord Afrika hielten die deutsch/italienische Truppen nur noch Tunesien und auch in der Sowjetunion waren die Achsen-Truppen in Rückzug – musste das Militärkommando mit der Möglichkeit einer Landung von Alliierten Truppen in Griechenland rechnen und eine Jüdische Gemeinde mit vielen Männern in arbeitsfähigem und wehrfähigem Alter galt als Risiko.
Am 30. Januar 1943 zum zehnten Jahrestag der Machtergreifung, hatte Eichmann die Vollendung der Deportationen aus Deutschland, Wien und Protektorat Böhmen und Mähren melden können. Anfang Februar trafen Hauptsturmführer Dieter Wisliceny (der in Pressburg die Deportationen organisiert hatte) und Obersturmführer Alois Brunner (der die Deportationen in Wien mit großer Härte durchgeführt hatte und auch in Berlin zur „Verstärkung“ war) in Saloniki ein, um mit Kriegsverwaltungsrat Dr. Merten (der seit April 1941 die Jüdische Gemeinde „beaufsichtigte“) die Deportationen zu organisieren; Generalkonsul Schönberg und der Befehlshaber von SD und Sicherheitspolizei Paschleben standen zur Mitarbeit bereit.
Dem Trio Merten, Wisliceny, Brunner konnte Oberrabbiner Zwi Koretz – in Dezember 1942 zum Oberhaupt der Jüdischen Gemeinde ernannt – nicht gewachsen sein. Rabbiner Koretz wurde in Polen geboren und hatte in Deutschland studiert, sprach daher das Deutsch der Dichter und der Denker. 1932 wurde er nach Saloniki berufen, um mit seinem Wissen das kulturelle Niveau der Gemeinde zu heben. Die vielen harte Befehle und die wenigen nichtssagenden „Versprechen“, die Rabbiner Koretz entgegen nehmen und seiner Gemeinde mitteilen musste, waren aber im Deutsch der Richter und der Henker ausgedrückt. Die Befehle mussten kurzfristig durchgeführt werden; die Versprechen und Versicherungen galten aber nur wenn sie eingehalten wurden, also nie. Noch im selben Monat Februar führte man erst den Judenstern ein und sofort danach das Ghetto, welches in mehrere, getrennte Sektoren geteilt wurde. In die verschiedenen Sektoren wurden die die Menschen gemäß ihrer sozialen Schicht eingewiesen. Die Ärmsten wurden in den Sektor in der Nähe vom Bahnhof eingewiesen und als erste, am 15. März 1943, deportiert; Wisliceny sprach von kommunistischen Agitatoren welche in diesem Sektor am Werk waren. Als Ziel gab Wisliceny die Zone von Krakau an, wo die Jüdische Gemeinde zu einer freundlichen Aufnahme bereit sein sollte. Auch polnische Geldscheine wurden zur Verfügung gestellt. Zu jener Zeit waren die Juden der Zone Krakau schon in die Vernichtungslager verschickt worden. Dieser Transport, wie die folgenden, erreichte nach einer langen Fahrt (Belgrad, Maribor Wien) Auschwitz, nicht so weit von Krakau. Wisliceny beherrschte ausgezeichnet die Kunst des Täuschens; wie er schon in Pressburg bewiesen hatte.
Aus einem weiteren Sektor wurden die Menschen in neuen Transporten „nach Polen“ geschickt. Merten versicherte dass den Juden kein Leid angetan werde. Oberrabbiner Koretz aber versuchte verzweifelt, den Ministerpräsidenten der Marionettenregierung zu einer Intervention zu bewegen. Bei einer, dank der Vermittlung des Metropoliten erreichten, Unterredung erklärte aber Johannis Rallis in dieser Angelegenheit nichts machen zu können, wie aus deutschen Berichten hervorgeht, und Oberrabbiner Koretz wurde nach diesem Versuch seine Gemeinde zu retten verhaftet. Der letzte Transport verließ Saloniki am 9. August 1943; aus der deutschen Besatzungszone – Nord Griechenland – sind circa 46.000 Juden deportiert worden, nur sehr wenige haben überlebt.
Neben den Juden die rechtzeitig entweder in die italienische Besatzungszone flüchteten oder sich mit falschen Dokumenten verstecken konnten sind zwei weitere Gruppen zu erwähnen: Der italienische Generalkonsul fühlte sich verpflichtet, die Juden, welche italienische Staatsbürger waren oder auf die italienischen Staatsbürgerschaft Anspruch hatten, zu schützen, wobei er die italienischen Rassengesetze in einer menschlichen Weise auslegte. Nach langen Debatten entschloss er sich, diese 329 „Schützlinge“ in einem Militärzug in die italienische Besatzungszone – Athen und Süd-Griechenland – zu bringen. Ein anderer Sonderfall waren 600 Juden, deren Ahnen 1492 Spanien hatten verlassen müssen, und so von einem Gesetz aus dem Jahr 1924 Gebrauch machen konnten, um unter spanischem Schutz zu stehen. Die spanische Regierung – das Franco Regime (!)– respektierte dieses Gesetz und setzte sich für diese Schützlinge ein. Nach langen Debatten und Notenwechseln wurden diese „spanischen“ Juden nach Bergen-Belsen verschickt, wo eine besondere Abteilung unter SS-Hauptsturmführer Seydl – früher Kommandant in Theresienstadt wo er von SS-Obersturmführer Burger abgelöst wurde – für Juden die man nicht verschwinden lassen konnte eingerichtet wurde. Von diesen 600 „spanischen“ Schützlingen überlebten 365.
Oberrabbiner Koretz und andere „Privilegierte Juden“ kamen nach Bergen-Belsen und nicht nach Theresienstadt, obwohl dieses „Musterghetto“ als Ziel von einem der Transporte genannt wurde. Am Ende der Transporte hatte die Militärverwaltung circa 3.5 Million Reichsmark einkassiert und die griechische Marionettenregierung erhielt die jüdischen Wohnungen und Geschäfte, für den „Griechischen Staat“ von einer Bank „treuhänderisch verwaltet“; eine merkwürdig „gerechte“ Verteilung! Aber die Rechnung der griechischen Bahnverwaltung wurde nicht bezahlt.
Oberrabbiner Koretz wurde nach dem Krieg – er war kurz nach der Befreiung gestorben – schwer beschuldigt: Die Beschuldigung durch Übergabe des Verzeichnisses der Gemeindemitglieder Verrat begangen zu haben ist absurd. Wie oben ausgeführt wurde Saby Saltiel zur „Übergabe“ gezwungen als Rabbiner Koretz in Wien inhaftiert war. Ferner war, ab 1942, in den Personalausweisen die Religion des Inhabers angegeben; so war eine Erfassung der Juden mit Hilfe der griechischen Polizei leichter mit dem Mitgliederverzeichnis. Die Kritik von Hilberg, dass Rabbiner Koretz ein ideales Werkzeug der Nazi-Bürokratie gewesen sei, berücksichtigt nicht den verzweifelten Versuch, die griechische „Marionettenregierung“ um Hilfe zu bitten und seine gleich darauf folgende Verhaftung. Oberrabbiner Koretz war, wie viele Judenräte, eine tragische Gestalt.
Autor: Dr. Wolf Murmelstein. Der Autor ist Sohn des dritten und letzten Judenältesten des Lagers Theresienstadt, Benjamin Murmelstein.