Am 13. März 1997 debattierte der Deutsche Bundestag über die Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“. Neben den ersten Reden, die im deutschen Parlament überhaupt gehalten wurden, den Verjährungsdebatten von 1965, den Auseinandersetzungen um Kohls „geistig-moralische“ Wende der 80er Jahre und den Ansprachen der Bundespräsidenten Phillip Jenninger und Richard von Weizsäcker gehört diese zu den wohl wichtigsten Zeitdokumenten der (west-)deutschen Parlamentsgeschichte. Nicht gerade wegen ihres intellektuellen Niveaus, sondern aufgrund des ihr innewohnenden und seit langem schwelenden Generationen-Konfliktes. Die Nachkriegsgeneration stand dabei der abtretenden Kriegsgeneration gegenüber und diskutierte über die Hypotheken, die diese hinterlässt. Knapp 30 Jahre zuvor entlud sich der Konflikt über die Zeit des Nationalsozialismus innerhalb der deutschen Gesellschaft erstmals – auf der Straße; nun hatte er Platz gefunden in der parlamentarischen Öffentlichkeit.
Das Thema der Debatte war die vom Hamburger „Institut für Sozialforschung“ ausgerichtete „Wehrmachts-Ausstellung“. Zum Zeitpunkt der Bundestagsdebatte war die Ausstellung schon annähernd zwei Jahre in vierzehn deutschen Städten gezeigt worden. Primäre Aufmerksamkeit hatte sie schnell bei den Veteranenverbänden gefunden, während ihr bundesweite bzw. gar internationale Publizität erst zukam, als aus Reihen der CDU und der CSU scharfe Kritik an der Ausstellung geäußert wurde. Der „Bayernkurier“ nannte die Ausstellung einen „moralischen Vernichtungsfeldzug gegen das deutsche Volk,“[1] die CSU bezeichnete sie sogar als „linke Tendenzveranstaltung zur Herabwürdigung der deutschen Soldaten in ihrer Gesamtheit.“[2] Diese Kritik erregte deshalb so große Aufmerksamkeit, weil sie in ihrer Schärfe kaum noch von rechtsextremer Hetzpropaganda zu unterscheiden war. Auf Antrag der Bündnisgrünen kam es dann im Bundestag zu einer parlamentarischen Aussprache.
So viel Aufregung nur wegen einer Ausstellung? Von manchen Publizisten und Historikern war den Ausstellungsmachern vorgeworfen worden, sie präsentierten keine wirklich neuen Fakten. Tatsächlich beschränkte sich die Ausstellung darauf, Sachverhalte, die in anerkannter Fachliteratur bereits gut recherchiert und publiziert waren, einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Anhand von ausgewählten Beispielen (Okkupationspolitik in Rußland, Feldzug in Serbien, Verhalten der 6. Armee in Weißrussland) wurde aber deutlich gemacht, dass es sich hierbei nicht um einen „normalen“ Feldzug, sondern um den „ungeheuerlichsten Eroberungs-, Versklavungs- und Vernichtungskrieg, den die moderne Geschichte kennt,“[3] gehandelt hatte. Die publikumswirksame Verbreitung von in der Fachwelt längst anerkannten Tatsachen traf besonders die Generation derer, die noch selbst als Soldaten im Zweiten Weltkrieg gedient hatten. Zu ihrem Sprecher machte sich in der Debatte der CDU-Abgeordnete Alfred Dregger: „Die Ausstellung versöhnt nicht, sie spaltet. Sie empört durch die Art ihrer Darstellung die Generation der Großväter und Väter und verwirrt die Generation der Söhne und Enkel. […] Aus solchem Selbsthaß kann nichts Gutes entstehen: kein rationales berechenbares Verhalten in der Politik und keine wirkliche Versöhnung.“[4] Die Argumente Dreggers gegen die Wehrmachtsausstellung sind nicht neu – sie sind so alt wie das „andere“ Deutschland. Ihr Tenor: Die Kritik an der Nazi-Vergangenheit schade der Einheit des (unschuldigen) deutschen Volkes. Diese Trennung von „System“ und „Volk“ ist schon beim Alterspräsidenten des ersten Bundestags, Paul Löbe, zu finden, der die erste Sitzung des neu konstituierten Parlaments am 7. September 1949 u.a. mit folgenden Worten eröffnete: „Wir bestreiten auch keinen Augenblick das Riesenmaß von Schuld, das ein verbrecherisches System auf die Schultern unseres Volkes geladen hat.“[5] Schuld hatte also das System, nicht das (unschuldige) deutsche Volk. Das ist sie: die „zweite Schuld“.[6] Diese setzt eine erste Schuld voraus – den Holocaust. Die „zweite Schuld“ ergibt sich aus der teilweise hartnäckigen Weigerung, die Verbrechen und das Unrecht in den Prozess der Nachkriegsidentitätsbildung (West-) Deutschlands zu integrieren, und sie hat sich bis heute gehalten – selbst zu Beginn des neuen Jahrtausends ist die deutsche Vergangenheit noch nicht aufgearbeitet.
Davon kann auch eigentlich keine Rede sein, denn „nicht wir allein bestimmen, wann es genug ist, Folgerungen aus der Vergangenheit zu ziehen, die Leben und Glück einer so großen Zahl von Menschen vernichtet hat.“[7] Dennoch haben Versuche, „sich am Erbe des Nationalsozialismus vorbei zu mogeln,“[8] beinahe unablässig Konjunktur. Der Redebeitrag Alfred Dreggers aus dem Jahr 1997 steht dafür nur exemplarisch. Ein weiterer Auszug: „Wer versucht – diese Versuche gibt es – die gesamte Kriegsgeneration pauschal als Angehörige und Helfershelfer einer Verbrecherbande abzustempeln, der will Deutschland ins Mark treffen. Dagegen wehren wir uns.“[9] Dregger spielt dabei auf das wohl größte Reizwort in der Geschichte Deutschlands an: die Kollektivschuld.[10] Verwechselt wird dieser Begriff allerdings häufig mit einer kollektiven Anklage im juristisch-strafrechtlichen Sinn.
Kollektive Schuld? Kollektive Unschuld?
Deshalb dazu zunächst einmal die sehr treffende psychologische Analyse der Mitscherlichs: „Die Abwehr kollektiv zu verantwortender Schuld – sei es die Schuld von der Handlung oder die Schuld der Duldung – hat ihre Spuren im Charakter hinterlassen. Wo physische Abwehrmechanismen wie etwa Verleugnung und Verdrängung bei der Lösung von Konflikten, sei es im Individuum, sei es in einem Kollektiv, eine übergroße Rolle spielen, ist regelmäßig zu beobachten, wie sich die Realitätswahrnehmung einschränkt und stereotype Vorurteile sich ausbreiten.“[11] Das plötzliche Ende des „Tausendjährigen Reiches“ sei ein katastrophales Ereignis gewesen, so schreiben die Mitscherlichs weiter, auf das selbst bei zunehmend als widersprüchlich empfundenen Vorstellungen die große Mehrheit der Deutschen nicht vorbereitet war. Aufgrund ihrer Allmachtsphantasien (Herrenmensch vs. Untermensch) sei die deutsche Bevölkerung zu keiner wirklichkeitsgerechten Vorschau in die Zukunft mehr fähig gewesen.[12] Die Auseinandersetzung mit der Einsicht in die Dimension des begangenen Verbrechens hätte zur völligen Entwertung des Selbstgefühls führen und Melancholie auslösen müssen, wenn diese Gefahr nicht durch Verleugnungsarbeit schon im Keime erstickt worden wäre.[13] Diese Verleugnungsarbeit setzte 1945, sofort mit dem Ende des Krieges, ein, und offenbarte sich überall in der gleichen Artikulation. „Menschen, die sich nie begegnet waren und einander nicht kennen konnten, Menschen zwischen Flensburg und München, Köln und Berlin, fanden bis auf den Buchstaben genau die gleichen Entlastungsformulierungen“, die der Publizist Ralph Giordano „kollektive Effekte“ genannt hat.[14] Für ihn sind diese der „unverfälschte Ausdruck eines Verlustes an humaner Orientierung“,[15] oder, um es im Sinne des Soziologen Norbert Elias zu sagen, eines eklatanten Bruches in der Entwicklung des Prozesses der Zivilisation.[16]
Wie kam es zu diesen Affekten? Erinnerung verfährt konstruktiv, d.h. die sog. Vergangenheit ist keinesfalls ein rein objektiver Bestand, sondern im individuellen wie im gesellschaftlichen Sinne ein subjektives und situationsabhängiges Konstrukt. Was erinnert und wie erinnert wird, ist also in hohem Maß abhängig von den Umständen der Gegenwart. In diesem Sinne kann auch die Nachkriegszeit in Deutschland interpretiert werden: In dieser Phase wurde die Erinnerung vollständig der Gegenwartsbewältigung untergeordnet, d.h. die Zeit der unvorstellbaren Gewalteskalation von 1933 bis 1945 wurde verschwiegen, unter den Teppich gekehrt und relativiert, oder um es mit den Mitscherlichs zu formulieren: „Nur die passenden Bruchstücke der Vergangenheit werden zur Erinnerung zugelassen.“[17] Bemerkenswert ist in diesem Kontext die erste Erwähnung von Opfern der nationalsozialistischen Herrschaft, da in der schon erwähnten Eröffnungsrede Paul Löbes weder den Toten des von den Deutschen entfesselten Weltkrieges noch den jüdischen Opfern gedacht wird, sondern den verhafteten und ermordeten ehemaligen Reichstagsangehörigen.[18] Auch in der ersten offiziellen Schweigeminute der neuen Bundesrepublik gedachte man 1950 nicht der eigentlichen Opfer, sondern den deutschen Kriegsgefangenen. In der Kurzgeschichte „Der Überlebende“ von Stefan Heym erinnert sich ein junger Deutscher, warum er keinen Widerstand geleistet hatte und deshalb überlebte:
„Wenn Sie´s nicht selbst erlebt haben, werden Sie nie begreifen. Es ist dann, als kämen Sie aus einer anderen Zeit oder von einem andern Stern zu uns herabgeschwebt -Ihre Erfahrungswelt anders als unsre, Ihre Reaktion ohne Beziehung zu unseren; daher zielen Ihre Fragen daneben, und unsere Antworten bleiben Ihnen unverständlich. Ihr Verhalten erinnert mich an den idiotischen amerikanischen Leutnant damals, 1945, der mich die Chaussee entlanghumpeln sah und mich in seinen Jeep einsteigen ließ und dann zu fragen anfing: wieso habt ihr Deutschen all das getan. Habt ihr denn nicht gewußt? Natürlich haben wir gewußt. Wir alle; auch die, die ihren Frauen und Kindern und sich selber vormachten, sie wüßten nicht. Es gibt Dinge, die der Mensch einfach weiß. Dies war eines davon. Es spaltete das Bewußtsein der Leute und gab ihrer unsterblichen Seele einen doppelten Boden, wie in einem Schmugglerkoffer. Sie erinnern sich, wie nach dem Kriege Ihnen jeder sagte, er wäre ja immer gegen die Brutalität gewesen und gegen das, was mit den Juden gemacht wurde, und gegen den Überfall auf die vielen Länder.“[19]
Die psychologische Folge dieses sowohl individuellen als auch kollektiven Verhaltens: „Schmerzliche Erfahrungen und Schuld bringen in dem Ich nicht Reifungsfortschritte in Gang, mobilisieren nicht die Fähigkeit, unter Schulddruck weiter zu denken, Enttäuschungen über das eigene Verhalten ertragen zu können und ähnliches. Die Energie des Ichs verzehrt sich stattdessen in der Abwehr der Wiederkehr des Verdrängten. Das Ich schützt die Erinnerungslücken und bleibt grosso modo, wie es war. Damit wird es rückständig. Es verliert die Fähigkeit, sich unbehelligt der Vergangenheit zuzuwenden.“[20] Und erzeugte im Endeffekt die Unfähigkeit zu trauern.
Bundespräsident Theodor Heuss sprach von der „Kollektivscham“[21] des deutschen Volkes, angebrachter scheint allerdings tatsächlich „Kollektivschuld“, denn: Schuld ist das Ergebnis von Unterlassung oder Beteiligung an einem schrecklichen Geschehen, Scham ist die Reaktion auf diese Haltung. Scham ist lediglich eine moralische Folge, während Schuld ursächlich mit dem Tatgeschehen verbunden ist. Das Präsidentenwort von der Kollektivscham ist aus diesem Grund nichts anderes als eine Unterthese von der deutschen Kollektivunschuld unter Hitler.[22] Von einer breiten Bevölkerungsmehrheit wurde die Bezeichnung „Kollektivscham“ dankbar aufgenommen – die „Volksgemeinschaft“ hatte sich nach dem Ende des Dritten Reichs kollektiv in Hitler-Gegner verwandelt, was die Mitscherlichs zu der folgenden, etwas spöttisch klingenden Formulierung veranlaßte: „Den Sprung, den so viele vom Gestern ins Heute taten, war eine blitzartige Wandlung, die man nicht jedermann so mühelos zugetraut hätte.“[23] Paul Spiegel, Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, lehnt ohne Angabe von Gründen den Begriff der „Kollektivschuld“ ab, befürwortet dafür aber „Kollektivverantwortung“, wobei seine Erklärungen denen Giordanos nicht unähnlich sind.[24]
Aus der Sicht Norbert Freis charakterisiert sich diese Phase, also die direkte Nachkriegszeit, durch die „offizielle Geheimhaltung des Verbrechens, der eine kurze Phase der verordneten Enthüllung nach der Tat“[25] folgte – die sog. Entnazifizierung mit dem juristischen Höhepunkt der Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozesse und dem alliierten Anliegen, die Verbrechen in den Konzentrations- und Vernichtungslagern einer breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen. Diese „Schock-Politik hat aber nicht die Kräfte des deutschen Gewissens geweckt, sondern die Kräfte der Abwehr gegen die Beschuldigung, für die nationalsozialistischen Schandtaten in Bauch und Bogen mitverantwortlich zu sein.“[26] Generell werde man also sagen können, dass das Beschweigen des Verbrechens dem Bekennen nach 1945 vorausgegangen ist und dies lange Zeit begleitet hat.[27] Es war ein kollektives Verschweigen.
Kollektives Verschweigen der Nachkriegsgesellschaft
Dieses kollektive Verschweigen der eigenen Vergangenheit durch die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft bildete die physische Grundlage der neuen Bundesrepublik, das im „großen Frieden mit den Tätern“[28] seinen traurigen Höhepunkt erreichte.[29] Aber hatte denn Adenauer als erster Bundeskanzler überhaupt eine andere Wahl angesichts der Tatsache, dass 1945 alle Autoritäten der deutschen Öffentlichkeit kompromittiert waren? Eine denkbare Antwort liegt in der Natur des neu eingeführten demokratischen Systems, also in dessen Abhängigkeit vom Wähler, begründet. Zudem war außer einer vagen Hoffnung auf europäische Integration auch kein Rückgriff auf ein politisches Konzept möglich gewesen, das aus einer Widerstandsbewegung gegen den Nationalsozialismus hervorgegangen wäre. Die Rückerinnerung musste folglich weiter ausgreifen, so dass die „Herrschaft einer uralten Vaterautorität“[30] begann. Für die neue internationale Rolle, welche die Bundesrepublik nun spielen sollte oder konnte, hatte die Rückerstattung und Entschädigung der jüdischen Opfer der Vernichtungspolitik eine sehr hohe Bedeutung. Die von Adenauer im September 1951 angebotene „Wiedergutmachung“ war „von den ihr zugrunde liegenden Interessen eine moralische, materielle und politische Forderung, deren Erfüllung der Rehabilitierung der überlebenden (deutschen) jüdischen Opfer galt. Sie hat indes nicht wenig auch zur Rehabilitierung der Bundesrepublik beigetragen“, wie u.a. Peter Reichel befindet.[31] Den Wiedergutmachungszahlungen der Bundesrepublik stand die resolute Ablehnung der Regierung der DDR bezüglich aller an sie gerichteten Ansprüche gegenüber, was dem westdeutschen Provisorium in der Schaffung neuer (west-) deutscher Ersatzidentitäten entgegen kam. Auf einer politischen Ebene dieses Prozesses zur Schaffung einer Ersatzidentität der „verspäteten Nation“[32] diente bis zur Deutschen Einheit der Antitotalitarismus. Mit diesem wurde einerseits die eigene Vergangenheit bemäntelt und andererseits das gesamte Interesse auf die zur dieser Zeit noch gegenwärtige totalitäre Herrschaftsform, den Kommunismus, projiziert. Im Hinblick auf die moralische Legitimierung des demokratischen Charakters der Bundesrepublik in der Phase ihrer Gründung und der Erringung ihrer Souveränität, so betont Eleonore Sterling und spricht damit auf die gesellschaftliche Ebene des Prozesses an, habe sich die Mehrheitsgesellschaft des Philosemitismus als einem Symbol und einer Ersatzhandlung bedient.[33] Philosemitismus? Philosemitisches Verhalten bedeutet in erster Linie, eine betont pro-jüdische Haltung zu zeigen, wobei der Philosoph Ernst Bloch schon 1963 darauf hinwies, dass der Philosemitismus „ein überwundenes, doch immanentes Stück Antisemitismus“ impliziere.[34] Die unumkehrbare Diskreditierung, die der Antisemitismus in Deutschland – ausgehend von den „Entnazifierungsmaßnahmen“ der Alliierten – erfahren hatte, musste so nicht unbedingt anti-antisemitisches Verhalten hervorrufen. Auf der „geistigen Suche eines Weges aus der moralischen Nachkriegskrise“[35] bekundete der Philosemitismus für Frank Stern „die postnationalsozialistische, pragmatische, moralische Orientierung des Individuums oder – wie nach 1949 – die der Republik in ihrer nach Westintegration strebenden Gründungs- und Aufbauphase.“[36] Die winzige Minderheit der überlebenden Juden wurde durch dieses philosemitische Phänomen „nur zu dem Feind, den man zu lieben hatte.“[37]
In der Gründungsphase (und noch darüber hinaus) überwog, wie weiter oben gezeigt, der Wunsch nach dem Schlussstrich (1949-1958): Exemplarisch sei hier noch Wolfgang Borcherts literarische Figur des Kriegsheimkehrers Beckmann erwähnt, in dessen tragischer persönlicher Geschichte der Judenmord nur in verschleierter Form am Rande angedeutet wird.[38] Erst der Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem 1961 und der Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963-1965 eröffneten Chancen zur Konfrontation mit dem Völkermord (1958-1979), in deren Folge erstmals der Massenmord an den europäischen Juden in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit rückte. Das Hauptaugenmerk richtete sich aber weiterhin vornehmend auf die Mörder, die immer noch unbehelligt „unter uns“[39] lebten. Erst die Ausstrahlung der amerikanischen Fernsehserie „Holocaust“ 1979 stand am Beginn einer, hervorgerufen durch die unerwartet große Zuschauerreaktion, breiten Auseinandersetzung mit dem, was von da an „Holocaust“ genannt wurde. Kay Kufeke folgert daraus, dass in den 80er Jahren eine „Personalisierung der Opferwahrnehmung“[40] stattfand, also die Opfer endlich in den Mittelpunkt der Erinnerung rückten.
Helmut Kohls ab den 80er Jahren „bewußt betriebene Gedächtnispolitik“[41] stand einer breiten Aufklärungspolitik dennoch im Weg. Er erkannte zwar wie seine Amtsvorgänger Brandt und Schmidt die Vermächtnisse des Nationalsozialismus – gerade hinsichtlich der Opfer – für das politische und gesellschaftliche Leben in der Bundesrepublik an, aber auf der anderen Seite versuchte er diese Zeit durch den Verweis auf die angeblich lange deutsche Geschichte abermals zu minimalisieren. Anstatt eine nationale Identität „wegen Auschwitz“ zu kreieren, wurde von den 80er Jahren an versucht, sie „trotz Auschwitz“ zu entwickeln. Die Kohlsche Leugnung des deutschen „Sonderwegs“ war deshalb nichts anderes als die Fortsetzung der Verleugnungsarbeit – nur in anderer Form. Zudem konnte und kann Erneuerung „nicht gelingen, wenn sich die Menschen dagegen verschließen, das Vergangene zur Kenntnis zu nehmen und zu begreifen.“[42]
Während die Form des Gedenkens und Erinnerns in den 50er und 60er Jahren vor allem von den Schwierigkeiten im Umgang mit dem Völkermord geprägt waren, so sind die seit Ende der 80er Jahre entstandenen Denkmäler Ausdruck der intensiven Nachforschungen zum Schicksal der Opfer. Die mittlerweile entstandene unüberschaubare Zahl solcher Denkmäler und Mahnmäler hat zuletzt sogar zu einer „Verstaatlichung der Gedenkkultur“[43] geführt, deren Höhepunkt der Beschluss des Deutschen Bundestags zur Errichtung eines nationalen Denkmales für die ermordeten Juden Europas im Zentrum Berlins darstellt. Aus einer zunächst rein privaten Initiative resultierte so eine nationale staatliche Einrichtung, die die Haltung der gesamten Nation zum Ausdruck bringen soll.[44]
Autor: Florian C. Knab
Literatur
Bailer-Gelanda/Benz, Wolfgang/Neugebauer, Wolfgang (Hg.): Die Auschwitzleugner. „Revisionistische“ Geschichtslüge und historische Wahrheit, Berlin 1996
Bergmann, Werner/Erb, Rainer (Hg.): Antisemitismus in der politischen Kultur nach 1945. Opladen 1990
Bergmann, Werner: Antisemitismus in öffentlichen Konflikten. Kollektives Lernen in der politischen Kultur der Bundesrepublik 1949-1989, Frankfurt am Main/New York 1997.
Benz, Wolfgang: Zwischen Hitler und Adenauer. Studien zur deutschen Nachkriegsgesellschaft, Frankfurt/Main 1991.
Benz, Wolfgang: Zwischen Antisemitismus und Philosemitismus. Juden in der Bundesrepublik, Berlin 1991
Bodemann, Y. Michal: Gedächtnistheater. Die jüdische Gemeinschaft und ihre deutsche Erfindung. Hamburg 1996.
Diner, Dan: Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit, Frankfurt/ Main 1988
Frei, Norbert/Steinbach, Sybille (Hg.): Beschweigen und Bekennen. Die deutsche Nachkriegs-gesellschaft und der Holocaust. Göttingen 2001.
Greive, Hermann: Geschichte des Modernen Antisemitismus in Deutschland. Darmstadt 1983
Giordano, Ralph: Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein, Hamburg 1987.
Mitscherlich, Alexander u. Margarete: Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens, München 1977, Erstausgabe 1967
Anmerkungen
[1] Florian Sturmfall, Wie Deutsche diffamiert werden, in: Bayernkurier, 22. September 1997.
[2] Das Parlament 13/1997 (21. März 1997).
[3] Ernst Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche, 7. Auflage München 1986, S. 436.
[4] Alfred Dregger (CDU) in der Bundestagsdebatte vom 13. März 1997. Zitiert nach: Helmut Dubiel: Niemand ist frei von der Geschichte. Die nationalsozialistische Herrschaft in den Debatten des Deutschen Bundestages, München/Wien 1999, S. 26.
[5] Paul Löbe (SPD) in der ersten Sitzung des Bundestags am 7. September 1949. Zitiert nach: Helmut Dubiel, Niemand ist frei von der Geschichte, S. 39.
[6] Verwendung des Begriffs nach seinem Schöpfer, Ralph Giordano.
[7] Alexander u. Margarete Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern, S. 41.
[8] Ralph Giordano, Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein, S. 27.
[9] Alfred Dregger (CDU) in der Bundestagsdebatte vom 13. März 1997. Zitiert nach: Helmut Dubiel: Niemand ist frei von der Geschichte, S. 26.
[10] Deutlich wurde das zuletzt bei den öffentlichen Diskussionen um die Thesen Daniel Goldhagens, der die Deutschen als „Hitlers willige Vollstrecker“ bezeichnete.
[11] Alexander u. Margarete Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern, S. 24.
[12] Alexander u. Margarete Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern, S. 39.
[13] Alexander u. Margarete Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern, S. 39.
[14] Ralph Giordano, Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein, S. 30.
[15] Ralph Giordano, Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein, S. 31.
[16] Norbert Elias, Der Prozess der Zivilisation, 2 Bände, Amsterdam 1955.
[17] Alexander u. Margarete Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern, S. 26.
[18] Helmut Dubiel: Niemand ist frei von der Geschichte, S. 40f.
[19] Stefan Heym, Die richtige Einstellung und andere Einstellungen, Frankfurt/Oder 1979, S. 55.
[20] Alexander u. Margarete Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern, S. 129.
[21] Dieses Wort fiel zum ersten Mal im Dezember 1949 bei einer Ansprache vor der „Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit“, d. Verf.
[22] Ralph Giordano, Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein, S 271.
[23] Alexander u. Margarete Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern, S. 25.
[24] Paul Spiegel, Wieder zu Hause? Erinnerungen. Berlin 2001, S. 47.
[25] Norbert Frei/Sybille Steinbach (Hrsg.), Beschweigen und Bekennen. Die deutsche Nachkriegsgesellschaft und der Holocaust, Göttingen 2001, S. 8, vgl. dazu auch Kapitel 3.3.
[26] Eugen Kogon, Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager, 11. Auflage München 1983, S. 409.
[27] Norbert Frei/Sybille Steinbach (Hrsg.), Beschweigen und Bekennen. Die deutsche Nachkriegsgesellschaft und der Holocaust, S. 8.
[28] Ralph Giordano, Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein, S. 85ff. Vgl. dazu v.a. den traurigen Paragraph 131 GG. Dieser führte zur Übernahme fast des gesamten nationalsozialistischen Beamtenapparates in den Staatsdienst und stellte ihm außerdem noch einen Fürsorgeregelung in Aussicht.
[29] vgl. dazu: „Das Schuldbekenntnis als Grundlage eines „neuen“ Deutschland“. in: Jael Geis, Übrig sein – Leben „danach“. Juden deutscher Herkunft in der britischen und amerikanischen Zone Deutschlands 1945-1949, Berlin, Wien 2000, S. 317-319.
[30] Alexander u. Margarete Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern, S.22.
[31] Peter Reichel, Nach dem Verbrechen. in: Burkhard Assmuss (Hg.), Holocaust. Der nationalsozialistische Völkermord und die Motive seiner Erinnerung, S. 219. Monika Richarz schreibt dazu: „Die Bundesregierung war durchaus daran interessiert, daß Juden in der BRD lebten – quasi als Beweis der Demokratisierung des Landes.“ in: Micha Brumlik/ Doron Kiesel, Jüdisches Leben in Deutschland seit 1945, Frankfurt/Main 1988, S. 13-30, S. 20.
[32] Helmuth Plessner, Die verspätete Nation, Stuttgart 1959.
[33] Eleonore Sterling, Judenfreunde – Judenfeinde. Fragwürdiger Philosemitismus in der Bundesrepublik, in: Die Zeit, 10. Dezember 1965, S. 30.
[34] Ernst Bloch, Die sogenannte Judenfrage, in: Bloch, Literarische Aufsätze, Frankfurt/Main 1984, S. 552.
[35] Frank Stern, Philosemitismus. Stereotype über den Feind, den man zu lieben hat, in: Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart, Nr.8/1991, S. 15-26. S. 18.
[36] Frank Stern, Philosemitismus. Stereotype über den Feind, den man zu lieben hat, in: Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart, Nr.8/1991, S. 15-26.S. 19
[37] Hermann Greive, Geschichte des Modernen Antisemitismus in Deutschland, Darmstadt 1983, S. 184.
[38] Wolfgang Borchert, Draußen vor der Tür, in: Das Gesamtwerk, Hamburg 1996, S. 99-168.
[39] vgl. „Die Mörder sind unter uns“ von Wolfgang Staudte. Dieser erste deutsche Nachkriegsfilm aus dem Jahr 1946 widmete sich den Verbrechen in überraschender Deutlichkeit, d. Verf.
[40] Kay Kufeke, Der Umgang mit dem Holocaust in Deutschland nach 1945. in: Burkhard Assmuss (Hg.), Holocaust. Der nationalsozialistische Völkermord und die Motive seiner Erinnerung, S. 242.
[41] Helmut Dubiel, Niemand ist frei von der Geschichte, S. 190.
[42] Ralph Giordano, Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein, S.28.
[43] Y. Michal Bodemann, Gedächtnistheater, S. 80ff.
[44] Kay Kufeke, Der Umgang mit dem Holocaust in Deutschland nach 1945. in: Burkhard Assmuss (Hg.), Holocaust. Der nationalsozialistische Völkermord und die Motive seiner Erinnerung, S. 243.