
Antonio Iturbe 2013. Dario Gonzalez Picos, Antonio Iturbe, CC BY-SA 4.0.
Sie ist nur ein vierzehnjähriges Mädchen, das der mächtigsten Vernichtungsmaschinerie der Menschheitsgeschichte gegenübersteht, aber sie wird sich nicht fügen. Diesmal nicht. Sie wird ihnen die Stirn bieten. Ganz gleich, was passiert.
(S. 12)
Auch wenn einem Buch über die Macht von Büchern eine gewisse Metaebene innewohnt, sind es nicht zwingend die literarischen Qualitäten – da liegen Max Frisch, Bertolt Brecht oder Stefan Zweig mit ihren Werken zur NS-Zeit gewiss vorne –, die „Die Bibliothekarin von Auschwitz“ zu einem so gewichtigen und herausragenden Buch machen, sondern die Nähe zu den Personen und dem Geschehen, die Iturbe aufbaut. Das gelingt ihm unter anderem mit dem Kunstgriff statt des Präteritums, das Präsens zu verwenden, um Ditas Erlebnisse in Auschwitz zu erzählen. Der Roman erzielt damit eine größere Direktheit; man fühlt sich im Geschehen drin. In dieses wirft das Buch den Leser/die Leserin auch direkt hinein: Bei einer Inspektion der Nazis unter Leitung eines wegen seiner Angewohnheit, die Hände in die Mantelärmel zu stecken, nur als Priester bekannten Offiziers und Dr. Josef Mengeles gelingt es Dita nur mit knapper Not und viel Körperbeherrschung die Bücher, die ihr anvertraut wurden und die sie kurz vor Eintreffen der Nazis noch gerade so einsammeln konnte, zu verstecken. Als sie fast enttarnt wird, kommt ihr Professor Morgenstern zur Hilfe, der allen vorspielt, verrückt zu sein, weshalb sich niemand – auch nicht die Nazis – etwas dabei denken, wenn er sich unangepasst verhält. Aber wie kam es zu jener Szene, mit der der Roman eröffnet wird?
Die Veränderungen kamen nicht schlagartig, sie vollzogen sich langsam. Aber einen Tag gab es, als sich Ditas Kindheit hinter ihr schloss wie die Höhle von Ali Baba. An jenem Tag kann sie sich noch gut erinnern. Das Datum weiß sie nicht mehr, aber es war der 15. März 1939.
(S. 19)
Dita ist ein jüdisches Mädchen und stammt aus Prag, von dort wird sie nach der Annektierung der Tschechoslowakei nach Theresienstadt ins Getto deportiert, wo sie das erste Mal mit Fredy Hirsch zu tun hat. Der ist früher schon in jüdischen Sportvereinen aktiv gewesen, engagierte sich stets in der Jugendarbeit und träumt von der Heimkehr nach Palästina. Schon vor dem Krieg wollte Hirsch jüdische Kinder aus Böhmen heraus nach Palästina schmuggeln, um den Staat Israel aufzubauen. Dita sieht zu Hirsch, der in Auschwitz der Blockälteste von Block 31, in dem er für die jüdischen Kinder des Familienlagers eine eigene Schule aufgebaut hat, ist, auf. So sehr er auch mit den Nazis zu kooperieren scheint, ist es sein persönlicher Sieg, inmitten der Todesfabrik Auschwitz die Nazis davon überzeugt zu haben, eine Schule in BIIb aufzubauen und den Kindern ein Stück Normalität zu geben und sie bislang am Leben gehalten zu haben. Das ist nur möglich, weil BIIb das Lager ist, das als Tarnung für ausländische Inspektoren betrieben wird. Hier tragen die Häftlinge Zivilkleidung und können sich zwischen der Zwangsarbeit frei bewegen. Hirsch bzw. später Edelstein und auch Dita warten auf den Besuch jener Inspektoren, um denen trotz aller davon ausgehenden Gefahr, die Wahrheit zu erzählen: Dass nebenan tagtäglich tausende Menschen vergast und anschließend verbrannt werden.
Weil Dita sprachbewandert, belesen und mutig ist, wählt Hirsch sie aus, um ihr die acht vor den Nazis versteckten Bücher seiner Schule anzuvertrauen: eine russische Grammatik sowie ein russischer Roman (da Dita keine kyrillischen Buchstaben lesen kann, erfahren wir nie welcher, aber der Comic legt nahe, dass es sich um „Krieg und Frieden“ oder „Anna Karenina“ von Lew Nikolajewitsch Tolstoi handelt), ein Geometriebuch, ein Atlas, „Wege der psychoanalytischen Theorie“ von Sigmund Freud, „Die Geschichte unserer Welt“ von H.G. Wells, „Die Abenteuer des braven Soldaten Švejk“ von Jaroslav Hašek und „Der Graf von Monte Cristo“ von Alexandre Dumas. Zu diesen gesellen sich die sogenannten „lebendigen Bücher“, Insassen, die eine Lektüre so gut kennen, dass sie sie relativ werkgetreu wiedergeben können – etwa „Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen“ von Selma Lagerlöf oder der Tanach. Obgleich Hirsch selbst keinen Hang zu Büchern hat, wird er, wenn es um die Alija geht, selbst zum Lehrer.
Überhaupt vertritt er seinen Zionismus mit glühender Leidenschaft, worin sich dann auch eine Schattenseite von Ditas Idol offenbart, die sie – in Anbetracht der Situation auch völlig verständlich – nicht wahrnimmt: Hirsch sieht in den Juden selbst ein Herrenvolk und glaubt, die Nazis würden sie nur vernichten wollen, weil sie die einzige wirklich Konkurrenz darstellen würden, wenn es darum ginge, den Titel als auserwähltes Volk zu beanspruchen. So sehr es auch verständlich ist, dass die Juden, die unter dem Nationalsozialismus zu leben und vor allem zu leiden und zu sterben hatten, in ihrem Zusammenhalt und in Anbetracht des von den Nazis etablierten Gedanken „Wir gegen die“, als eine Art Abwehrreaktion in so ein Denken verfallen, muss man hierbei doch zwei Dinge festhalten: Hirsch hatte diese Haltung schon vorher UND Rassismus und jegliche Form von Ausgrenzung, Diskriminierung oder Elitendenken ist falsch und schadhaft – und zwar für alle Beteiligten. Was nicht heißen soll, dass die Insassen nicht einen gemeinsamen – wenn auch zumeist stillen – Widerstand proben sollten, doch genau dem verweigert sich Hirsch später, wenn auch aus berechtigten Skrupeln, als einem Großteil der Insassen des Familienlagers eine „Verlegung“ (womit die Nazis die geplante Ermordung von 3791 Menschen am 9. März 1944 meinen) blüht. Er nimmt sich, als er einen Aufstand, bei dem gerade seine Schützlinge vermutlich auf der Strecke bleiben würden, das Leben und Dita versucht bis Kriegsende herauszufinden, wieso – sie kommt nie dahinter.
Ditas einzige Zweifeln an Hirsch, die lange vor jenem schicksalhaften Tag aufkommen, haben jedoch andere Gründe, denn sie bekommt ein heimliches Treffen mit einem anderen Mann mit, bei dem Hirsch sagt, er würde alle betrügen und es dürfe nie herauskommen, dass er den anderen Gefangenen, seinen Leuten, etwas vorspiele. Dita fürchtet, Hirsch könne ein Spitzel sein und enttarnt bei der Suche nach der Wahrheit tatsächlich einen Verräter, findet dann jedoch heraus, dass Hirsch schwul ist. Das ist sein großes Geheimnis.
Abseits der Geschichte um die Bibliothek und Hirsch gibt der Roman Einblicke in die Lebenswirklichkeit, den Alltag in Auschwitz. Eindrücklich erzählt er von den morgendlichen Appellen, die oft drei Stunden andauern, von überfüllten Baracken, den dürftigen Mahlzeiten und dem damit verbundenen Hunger und auch von der ständigen Missgunst der Gefangenen untereinander. Aber auch Momente des Zusammenhalts und der Menschlichkeit, ja sogar des Trotzes gibt es: die Gefangenen betreiben nicht nur eine heimliche Bibliothek, sie Feiern Passah und singen, selbst oder vielleicht auch gerade im Angesicht des Todes. Sogar für die Liebe ist Platz, auch wenn die beiden Romanzen des Buchs wenig überraschend tragisch enden, nämlich jeweils mit dem Tod eines der beiden Liebenden: Der Schreiber Rudi Rosenberg verliert seine Alice bei der Vernichtungsaktion am 9. März und Viktor Pestek, ein abtrünniger SS-Mann, der seiner Angebeteten Renée zur Flucht verhelfen will, wird genau dabei geschnappt und nach wochenlangem Verhör getötet. Rudi allerdings gelingt nach Alices Tod die Flucht und er erzählt der Welt von den Verbrechen in Auschwitz, aber man schenkt ihm kein Gehör.
So allgegenwärtig der Tod ohnehin ist, gibt es doch ein stetig lauerndes Böses, das pfeifend durchs Lager stolziert und mehr gefürchtet wird als die Gaskammer: Dr. Josef Mengele. Für Insassen ist er der Teufel oder steht mit diesem im Bunde und huldigt ihm in Schwarzen Messen. Zeitweilig glaubt Dita, er habe es auf sie abgesehen, nur um dann zu erkennen, dass sie ihm so egal ist, dass er sich entgegen seiner Aussage nicht einmal an sie erinnert.
Kurzum: „Die Bibliothekarin von Auschwitz“ ist ein Buch über das Leben in der Hölle auf Erden, die Liebe zur Literatur, den Geist des Widerstand, der jener innewohnt, aber auch über das Erwachsenwerden seiner Protagonistin. Diese Kombination macht es zur idealen Lektüre für den Schulunterricht, weshalb wir in Zukunft – in unregelmäßigen Abständen – weiteres Material zu diesem Roman hier bereitstellen werden.
Antonio Iturbe: Die Bibliothekarin von Auschwitz. Roman nach einer wahren Geschichte. Übersetzt von Karin Will. Piper Verlag, erweiterte Taschenbuchausgabe, München, 27. Januar 2022, 496 Seiten, ISBN 978-3-492-31753-5.