Thomas Tetzner: Der kollektive Gott. Zur Ideengeschichte des „Neuen Menschen“ in Russland; Göttingen 2013.
Der „Neue Mensch“ – wer ist das? In der Menschheitsgeschichte spielt der Gedanke moralischer und körperliche Verbesserung des Einzelnen und der Gesellschaft in den nachwachsenden Generationen mehr oder weniger eine tragende Rolle. Dieser Frage geht der Philosoph Thomas Tetzner in seiner in Hannover verteidigten Dissertation nach. Er bearbeitet eine Thematik, der kaum entwicklungsgeschichtlich für den russischen Kulturraum/Religion nachgegangen wurde. Die detailreiche Studie ist in drei gleich umfangreiche Hauptkapitel gegliedert. Ihre Gewichtung hätte anders gestaltet werden müssen. Das erste Kapitel behandelt die Jahrtausende währende gedankliche, religiöse und philosophische Entwicklung zu detailverliebt. Wer zu diesem Text greift, weiß im Groben um die Rolle und Bedeutung der ideellen Fortschritte und Hemmnisse des Menschenbildes zwischen Urgesellschaft, der jüdisch-christlichen theologischen Entwicklung und den philosophischen Vorschlägen im bürgerlichen Zeitalter.
Der zweite Hauptabschnitt widmet sich dem Thema neuzeitlich. Während die christlichen Volkskirchen Europas den theologischen Gedanken über die Schaffung des „Neuen Menschen“ in Vergessenheit geraten ließen, pflegte ihn die russisch-orthodoxe Kirche. Aufgegriffen wurde er von der sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelnden, europäisch beeinflussten literarisch-religiösen Intelligenz. Einen unschätzbaren Dienst erwies der Schriftsteller Nikolai Tschernyschewski der Volkstümlerbewegung, einer idealistischen politischen Strömung, welche das Volk moralisch verbessern wollte, und sozial inspirierten Literaten. Der recht einfach strukturierte und formulierte Roman „Was tun?“ entwickelt nach dem Erscheinen 1863 eine enorme Breitenwirkung. Heroische und hehre Vorstellungen des künftigen Lebens in der reformierten russischen Gesellschaft bewegen nicht nur simple Gemüter, sondern sind „Wahrheitssuchenden“ wegweisend. In diesem Fahrwasser bewegen sich Dostojewski und der Religionsphilosoph Wladimir Solowjew. Letzterer zog sich den Unwillen des offiziellen Rußlands zu, weil er sich für die Wiedervereinigung der Orthodoxen mit der Katholischen Kirche unter Führung Roms engagierte. Seine Vorstellungen von der „Gottmenschheit“ gipfelten in der Forderung: „Die sittliche Pflicht der Menschheit bestehe nicht in der bloßen Gottesbetrachtung, sondern in der Gottwerdung (Theosis), nicht in passiver Gottesverehrung, sondern im aktiven ‚Gottwirken’ (Theurgie)“.
Mit der bolschewistischen Umwälzung erfuhr die russische Gesellschaft zwar eine neue Art der ideologischen Indoktrination, aber die Visionen über das Wie der Neugestaltung der vom Privateigentum an Produktionsmitteln „befreiten“ Gemeinschaft waren im Gedächtnis der Intellektuellen geblieben. Im spannungsreichen Abschnitt „Die Planung der Evolution“ weist Tetzner nach, wie vielfältig die ideellen Gedankengebäude waren. Tenor der Vorschläge, die bis zur „Großen Säuberung 1937/38“ wissenschaftlich und öffentlich diskutiert wurden, war, daß die Umgestaltung der Welt nur gelingen könne, „wenn die Menschheit es schaffe, Zeit und Raum zu beherrschen, statt sich weiter von ihnen beherrschen zu lassen“.
Genetik, androgyne Mischwesen und korporatives Gemeinwesen bestimmen die Zukunft. In ihr lag die Hoffnung, daß die Bevölkerung der Sowjetunion von Erbleiden gereinigt, ein Fünfjahrplan in zweieinhalb Jahren erfüllbar sei. Literarisch begleitete der 1927 in die Heimat zurückgekehrte Maxim Gorki propagandistisch die Geburt des „Neuen Menschen“ auf den „Großbaustellen des Sozialismus“. Euphorisch feiert er Josef Stalin „als die aus dem Geiste des Volkes hervorgegangene Verkörperung der kollektiven Macht“. Im Verlauf der Zeit mutierte die hehre Vision vom „Neuen Menschen“ in Philosophie und Pädagogik zur „entwickelten sozialistischen Persönlichkeit“, der mit Hilfe „kommunistischer Erziehung“ die Alltagsmühen im 21. Jahrhundert meistern werde.
Thomas Tetzner versteht es, selbst hoch komplexe Zusammenhänge anschaulich und logisch strukturiert zu erläutern. Als Mittel und Methode dienen ihm komprimierte Buchvorstellungen und Kurzbiographien. Nichtalltägliche Lektüre zitiert er für das Verständnis des Lesers und inspiriert ihn zugleich, frühere, ähnlich gelagerte (russisch-sowjetische) Lektüre erneut zur Hand zu nehmen. Welche Rolle und Bedeutung der „Neue Mensch“ in utopischen und sozialistischen Vorstellungen Rußlands/der Sowjetunion zwischen Mitte des 19. Jahrhunderts und der Stalinära einnahm, ist das hervorzuhebende Verdienst dieser wissenschaftlichen Darstellung. Manche Gedanken finden sich zeitgeistbedingt auch in deutschsprachiger Lebensreformliteratur der vorvergangenen Jahrhundertwende – worauf allerdings Tetzner eben so wenig hinweist wie auf Bezüge zu westeuropäischer philosophischer und theologischer Entwicklung. Die wichtigen historischen Ereignisse der russischen/sowjetischen Geschichte, politische und gesellschaftliche Strömungen benennt der Autor und bettet sie in das breite Spektrum intellektueller Spieglungen. Leider fehlen Personenregister und Glossar.
Großzügig betrachtet sind die Durchsetzung der political correctness, die „Klimakatastrophe“, Gender-Visionen und Feminismus auch Varianten der Schaffung des „Neuen Menschen“ und der idealen Verbesserung der „Menschheit“.
Autor: Uwe Ullrich
Tetzner, Thomas: Der kollektive Gott. Zur Ideengeschichte des „Neuen Menschen“ in Russland; Göttingen 2013, 399 Seiten, 39,90 Euro