Gerhard Besier in Zusammenarbeit mit Francesca Piombo: Der Heilige Stuhl und Hitler-Deutschland. Die Faszination des Totalitären, München 2004.
In Berlin gelangte 1963 die Uraufführung „Der Stellvertreter. Ein christliches Trauerspiel“ in fünf Akten von Rolf Hochhuth auf die Bretter, welche die Welt bedeuten. In den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses rückte der fünf Jahre vorher verstorbene Papst Pius XII. spätestens seit dieser Inszenierung. Während seines fast zwei Jahrzehnte dauernden Pontifikats hatte Hitlerdeutschland durch Verfolgung und Vernichtung versucht, die Endlösung der Judenfrage in Europa herbeizuführen. Das Drama – Hochhuth recherchierte das ihm damals zugängliche Dokumentenmaterial und schuf ein Stück, welches „ein Ganzes der Kunst und der Wahrheit“ sein sollte – setzt sich mit der Haltung des Papstes als hohe moralische Instanz gegenüber den Geschehnissen im „Dritten Reich“ auseinander.
Seitdem verstummten die Vermutungen nicht, dieser Stellvertreter Gottes auf Erden habe versagt und dem Morden nicht Paroli geboten, weil er ein „deutscher Papst“ gewesen sei. Verschlossene vatikanische Archive, es gilt eine Sperrfrist von 80 Jahren, nähren natürlich Spekulationen. Seit Anfang 2003 sind einige Deutschland betreffende Bestände (bis Ende 1939) des Vatikanischen Geheimarchivs zur freien Benutzung zugänglich. Weiterhin vor Einsichtnahme geschützt bleiben das Archiv der Deutschen Nationalkirche Santa Maria dell’Anima und die Dokumentenbestände aus der Regierungs-Epoche von Papst Pius XII. Als erste Nichtkatholiken sichteten Professor Gerhard Besier, Direktor des Hannah-Arendt-Institutes für Totalitarismusforschung an der TU Dresden e. V. und dessen Mitarbeiterin Francesca Piombo das zugängliche Material. Es bietet nach Ansicht der Autoren „einige Überraschungen“, die geeignet sind, „Forschungslücken zu schließen und unsere Kenntnisse über die zwanziger und dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts zu vervollständigen“ (S.11).
Eugenio Pacelli, als Pius XII. von 1939 bis 1958 Oberhaupt der universalen römisch-katholischen Kirche, begann seinen internationalen beruflichen Werdegang kurz vor dem Ende des Ersten Weltkrieges als Apostolischer Nuntius in München, später in Berlin, um 1930 zum Kardinalstaatssekretär berufen zu werden. Durch seine Nuntiatur in Deutschland ist der vatikanische Würdenträger mit den brüchigen politischen Zuständen im konfessionell geteilten Land vertraut.
Unter den Verhältnissen der Weimarer Republik nahm die römisch-katholische Kirche einen beachtlichen Aufschwung: Länderkonkordate, Errichtung der Bistümer Aachen, Berlin, Danzig und Meißen, organisierte Jugendbewegung, kirchennahe Parteien wie Zentrum und Bayrische Volkspartei „sorgten für eine flächendeckende ‚Klerikalisierung’ des politischen Katholizismus. Die Bischöfe flankierten die häufigen Wahlen mit ihren eindeutigen Wahlhirtenbriefen“ (S. 137).
Nach einigen vergeblichen Versuchen während der Weimarer Republik erreichte der Heilige Stuhl nach intensiven Verhandlungen ein Konkordat mit der Reichsregierung, welches am 10. September 1933 in Kraft trat. Der Vertrag gewährte die Freiheit des Bekenntnisses und der öffentlichen Ausübung der katholischen Religion, die Erhaltung der katholisch-theologischen Fakultäten an den staatlichen Hochschulen, freies Besetzungsrecht der Kirche für Ämter sowie die Anerkennung des Religionsunterrichtes und trat für den Erhalt des kirchlichen Eigentums ein. Angesichts der fortschreitenden totalitären Gleichschaltungsbestrebungen im Reich hoffte der Vatikan dem drohenden Kirchenkampf Einhalt zu gebieten. Im Gegenzug opferte er gewerkschaftliche Organisationen und veranlasste sowohl die Zentrums- als auch die Bayrische Volkspartei zur Selbstauflösung. Einerseits durchbrach das Reichskonkordat die außenpolitische Isolierung Deutschlands, bestätigte dem Regime Vertragswürdigkeit und brachte andererseits innenpolitisch Legitimitätsgewinn bei den Katholiken.
Nationalsozialistische Verstöße gegen die Buchstaben des Vertragswerkes ließen nicht lange auf sich warten: Verfolgung der Jugendverbände, Offensiven gegen die Bekenntnisschulen und Prozesse gegen Ordensgeistliche, zum Beispiel „Devisen- oder Sittlichkeitsvergehen“.
Vier Jahre nach Vertragsabschluß reagierte der Heilige Stuhl auf die Missstände mit einem päpstlichen Rundschreiben. Die Enzyklika „Mit brennender Sorge“ geht auf einen ersten Entwurf von Kardinal Michael Faulhaber zurück. Heimlich nach Deutschland geschleust, wurde sie am 21. März 1937 von den Kanzeln katholischer Kirchen verlesen. Das Schreiben prangerte das nationalsozialistische Neuheidentum und seinen „Götzenkult“ um Rasse, Volk und Staat an, klagte den Vertragspartner wegen Meineides an und warnte vor zersetzenden Religionskämpfen. Vermieden sind Andeutungen oder Hinweise auf Konzentrationslager und Judenverfolgung.
In kurzen Exkursen verweisen die beiden Autoren auf die Entwicklungen der europäischen faschistischen Bewegungen während der Zwischenkriegszeit in Staaten wie Italien, Portugal und Spanien. In Österreich begrüßte Papst Pius XI. unter anderem das politische Wirken des Prälaten Ignatz Seipel, der einen kompromisslos antimarxistischen Kulturkampf führte und erkannte „in ihm jene starke Führungspersönlichkeit, die er in Deutschland vermisste“ (S. 137). Zur Interessenwahrung der Gläubigen wie der Kirche verhandelte Eugenio Pacelli als ranghöchster vatikanischer Diplomat mit Repräsentanten verschiedener politischer Systeme. Ziel seiner Politik war eine Befestigung oder gar Erweiterung des Gestaltungsraumes für das katholische Leben in den betreffenden Ländern. Mit der Volksfrontregierung Leon Blums oder mit dem amerikanischen Präsidenten Roosevelt stand der Kardinalstaatssekretär ebenso im schriftlichen und mündlichen Dialog wie mit den Diktatoren Mussolini, Franco und Hitler. „An dem Konzept einer pluralen Gesellschaft lag dem Vatikan nichts – im Gegenteil. Der antiliberale und monopolisierende Autoritarismus Mussolinis störte den Papst so lange nicht, wie das Regime der Katholischen Aktion alle Freiheiten einräumte und der Kirche ihre Rechte über Familie und Erziehung garantierte“ (S. 308).
Sicherlich werden noch einige Jahre vergehen, bis der schriftliche Nachlass aus der Pacelli-Papst- Zeit öffentlich zugänglich sein wird. Dann erst kann die Frage beantwortet werden, weshalb die von seinem Amtsvorgänger in Auftrag gegebene Enzyklika „humani generis unitas“ nur Entwurf blieb und nicht ins gläubige Volk getragen wurde. Ihre Botschaft war unmissverständlich: „… die sogenannte Judenfrage ist in ihrem Wesen weder eine Frage der Rasse, noch der Nation, noch des Volkstums, noch der Staatlichkeit, sondern sie ist eine Frage der Religion und seit Christus eine Frage des Christentums … Nur mit Entrüstung und mit Schmerz sieht die Kirche heute eine Behandlung der Juden auf Grund von Anordnungen, die dem Naturrecht widersprechen und also niemals den Ehrennamen von Gesetzen verdienen“ (S. 285). Ob der veröffentlichte Text die Barbarei des Zweiten Weltkrieges aufgehalten hätte, ist zu bezweifeln. Aber er könnte heute als ein beredtes Zeitzeugnis über menschliche Größe, moralisches Verhalten und politische Weitsicht ablegen.
Autor: Uwe Ullrich. Erstveröffentlichung in: „Aufklärung und Kritik“, Nürnberg; Heft 2/2005, Seite 252/254
Gerhard Besier in Zusammenarbeit mit Francesca Piombo: Der Heilige Stuhl und Hitler-Deutschland. Die Faszination des Totalitären, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2004, 415 Seiten, gebunden, 24,90 Euro