Im Vatikan denkt man in Jahrhunderten, sagt man und vom Strom der Zeiten scheint er unberührt zu bleiben. Imperien und ihre Weltanschauungen kommen und gehen, doch der Felsen Petri bleibe unverrückbar. Wenn der Gang der Geschichte für die Kirche dennoch andere Zeilen schreibt, schlägt die Stunde der Historiker. Sie analysieren nicht nur, sondern decken auch auf. Ein drastisches Beispiel der jüngsten Zeitgeschichte untersuchte der an der Brown University lehrende US-Historiker und Papstforscher David Kertzer.
In seinem neuen Buch The Pope and Mussolini untersuchte er die vernachlässigte Epoche der modernen Papstgeschichte im Vorfeld des 2. Weltkrieges in Italien. Im Herbst 2016 erschien die deutsche Übersetzung mit dem vielsagenden Haupttitel: Der Stellvertreter.
In dem opulenten Werk verfolgt Kertzer den Aufstieg Benito Mussolinis und des italienischen Faschismus an der Seite des amtierenden Papstes Achille Ratti, der sich Pius XI. nannte. Mehrere Jahre grub Kertzer tief im Päpstlichen Geheimarchiv in den Akten zum Pontifikat Pius XI., die erst 2006 freigegeben wurden. Zusätzlich forschte er im italienischen Staatsarchiv und einigen anderen Sammlungen. Kertzer stieß dabei auf brisantes Material. Pius XI. und seine straff geführte Administration kommen nicht gut weg. Nach Kertzer war der Felsen Petri gegenüber dem faschistischen Regime weder standfest geblieben noch treu den eigenen Überzeugungen. Im Vatikan hatte man nicht nur taktiert, man hatte paktiert.
Zwei einschneidende Ereignisse in den Anfangsjahren und in der Endphase des Pontifikats Pius XI. stehen dafür beispielhaft: 1. Die Lösung der „römischen Frage“ mit den Lateranverträgen von 1929 und 2. die Einführung von Rassengesetzen 1938.
Drei Jahre nach seinem Amtsantritt (1922) wollte Pius XI. endlich den isolierten Schwebezustand beenden, die den Hl. Stuhl seit über fünfzig Jahren in Italien ohne Rechte, ohne Einfluss und ohne Gebietssouveränität festhielt. Obendrein verstanden sich die Päpste seither als „Gefangene im Vatikan“. Mussolini sah in dem Angebot, einen umfassenden Staatsvertrag abzuschließen die große Chance, Papst Pius für sich und den Faschismus zu instrumentalisieren.
Im Februar 1929 war es soweit, die Lateranverträge wurden geschlossen. Als Gegenleistung verlangte Mussolini die Anerkennung des faschistischen Italiens, Goodwill gegenüber der Regierung und: Unterstützung seiner selbst als Duce der faschistischen Bewegung. Papst Pius schluckte, doch die neuen Rechte der Kirche, der souverän werdende Vatikan und die erwarteten Reparationszahlungen waren zu verlockend. Verlockend war auch, dass die Kirche und der Faschismus einen gemeinsamen Erzfeind hatten: den Kommunismus. Also, warum nicht Hand in Hand gehen und gemeinsam den Feind bekämpfen?
Trotz der neuen gemeinsamen Basis verstanden sich der Duce und Papst Pius nicht, und sie mochten sich nie. Mussolini war grobschlächtig, prahlerisch und antiklerikal; dazu wie alle Diktatoren grausam und ewig misstrauisch. Der passionierte Bibliothekar Pius XI. dagegen war ein feinsinniger Büchernarr, der die Einsamkeit der Berge liebte. Beide Führer jedoch verband ihr aufbrausendes Wesen. Sie schlugen gerne mit der Faust auf den Schreibtisch, wenn es ihnen nicht schnell genug ging oder nur etwas nicht passte. Doch der Wunsch, diplomatisch miteinander auskommen zu wollen und den geschlossenen Pakt lebendig zu halten, kompensierte alle Animosität.
Schon zwei Jahre nach dem Lateranpakt kam es zu einer ernsthaften Krise. Bereits länger war Mussolini die mächtige Laienbewegung „Katholische Aktion“ ein Dorn im Auge. Pius XI. dagegen betrachte sie als sein persönliches Ziehkind und als päpstliche Speerspitze gegen jeden Modernismus und Liberalismus in der Gesellschaft. Für Mussolini mischte sich die Katholische Aktion an der Basis zu sehr in die Belange des Faschismus ein und befahl Gegenmaßnahmen. Papst Pius war entsetzt wegen der gewaltsamen Übergriffe und Behinderungen. Er probte die Konfrontation. Doch am Ende gab er nach. Seine „Soldaten“, wie er sie nannte, sollten sich zurückziehen in den rein religiösen Bereich und dem Faschismus vor Ort das Feld überlassen.
Nicht zuletzt auf das gute Zureden seines neuen Kardinalstaatssekretärs Eugenio Pacelli hatte Pius nachgegeben. Pacelli war ein Meisterdiplomat. Ende 1929 wurde er eigens aus Berlin abberufen, um die vatikanische Diplomatie geschmeidig zu halten. In den unruhigen 30-Jahren erfüllte Pacelli diese Aufgabe exzellent. Er verstand es, seinem Chef den ausgehandelten Pakt mit Mussolini schmackhaft zu halten.
In den letzten Monaten seines Pontifikats war der altgewordene Papst allerdings ziemlich desillusioniert. Er wollte raus aus dem faustischen Pakt mit Mussolini. Die anstehenden Rassengesetze auch in Italien und die enge Allianz des Duce mit Hitler boten ihm den Anlass. Im Mai 1938 beauftrage Pius XI. heimlich den US-Pater LaFarge SJ, eine Anti-Rassenenzyklika zu entwerfen. Das Projekt sollte geheim bleiben. Nur der Jesuitengeneral durfte davon wissen. Dass Pius seinen Kardinalstaatssekretär Pacelli überging und möglicherweise nie einweihte, war mehr als ungewöhnlich. Pius scheute den Widerstand Pacellis; er würde ihm gewiss diese Enzyklika mit Engelszungen ausreden. Das Drama nahm trotzdem seinen Lauf. Der erzkonservative Jesuitengeneral Ledóchowski verschleppte den Textentwurf der Enzyklika immer wieder. Konspirativ half ihm dabei der antisemitisch eingestellte Chefredakteur der Civiltà Cattolica, Pater Rosa SJ. Beide wussten, wie hinfällig und krank der Chef war. Erst drei Wochen vor seinem Tod übermittelten sie den Entwurf mit dem dreisten Votum, dass dieser Text gänzlich untauglich sei und man von vorne anfangen müsste. Damit war das Projekt gescheitert.
Nach dem Auftrag für eine Anti-Rassenenzyklika plante Papst Pius die kommenden Rassengesetze auch in allen Kirchenmedien öffentlich attackieren zu lassen. Es ging um den Schutz der Juden. Als der Stellvertreter durfte er antisemitische Gesetze der eigenen Regierung nicht unwidersprochen passieren lassen. Doch Mussolini bot dem Papst einen Köder an, den er letztlich nicht ablehnen konnte. Er werde die Katholische Aktion endgültig in Ruhe lassen, so Mussolini, und die von der Partei ausgeschlossenen Aktionsleute wieder in die Partito N. Fascista aufnehmen, wenn, ja wenn Papst und Kirchenpresse die Rassengesetze nicht kritisieren würden. Ein entsprechendes geheimes Abkommen wurde noch im August 1938 formuliert. Von seinen eigenen Leuten wurde Pius XI. bedrängt, es anzunehmen. Es bringe doch der Kirche große Vorteile. Der alte Papst sträubte sich, dann zögerte er, schließlich gab er nach. Fortan wurden im Osservatore Romano, in anderen Medien und von Predigern die antijüdischen Rassengesetze als das natürliche Recht eines Staates deklariert. Der Vatikan hatte die italienischen Juden um des eigenen Vorteils willen an Mussolini verkauft.
Kertzer hat das Material für sein Buch ausgiebig recherchiert und ausgezeichnet belegt. Auch wenn man streckenweise den Eindruck hat, dass Befunde in ein für die Kurie ungünstiges Licht gestellt werden, schmälert das jedoch nicht den grundsätzlichen Wert dieses Buches über die wichtige kirchenpolitische Epoche in Italien vor dem 2. Weltkrieg.
Autor: Dr. theol. Klaus Kühlwein. Mit freundlicher Genehmigung des Autors. Dieser Text ist eine leicht erweiterte und bearbeitete Fassung eines Beitrages in SPIEGEL ONLINE einestages vom 27. Nov. 2016: Papst Pius XI. und Mussolini Pakt mit dem Teufel
Buch
Kertzer, David I.: Der erste Stellvertreter. Pius XI. und der geheime Pakt mit dem Faschismus, übersetzt aus dem Englischen von Martin Richter, Theiss Verlag GmbH; Darmstadt, 2016, 607 S.