„Ich bin nicht schuld“ – Max Frischs Drama „Andorra“ in der Analyse
„Andorra. Stück in zwölf Bildern“ ist ein Drama des Schweizer Schriftstellers Max Frisch (1911 – 1991) aus dem Jahre 1961. Die Handlung spielt im fiktiven Kleinstaat Andorra (also nicht identisch mit dem realen Land Fürstentum Andorra in den Pyrenäen), der in der Parabel sinnbildlich für Frischs Heimatland Schweiz steht. Im Nachbarland, das sinnbildlich für das Deutsche Reich steht, regieren die „Schwarzen“ (wohl Verweis auf die Schwarzhemden, die italienischen Faschisten). Die „Schwarzen“ verfolgen und töten Juden und sind zudem auch eine ständige Bedrohung für Andorra, das stets einen Angriff des Nachbarlands fürchtet. Die Personen im Stück sind als Stereotype von Frisch großteils nur durch ihre Berufsbezeichnungen verzeichnet, auch wenn sich aus dem Text teilweise ihre tatsächlichen Namen schlussfolgern lassen. Einzig die Charaktere Andri und Barblin werden mit ihren richtigen Namen aufgeführt.
Andri ist auch zentrale Figur des Stücks. Vor zwanzig Jahren kam der Lehrer Can mit ihm aus dem Land der „Schwarzen“ und behauptete, das Kind, welches in Wahrheit sein leiblicher Sohn mit der Senora (eine Frau aus dem Land der „Schwarzen“) ist, sei ein jüdisches Kind, welches er vor der Ermordung bewahrt habe. Andri wird daher von den Menschen Andorras immer wieder mit jüdischen Vorurteilen belegt. So verlangt der Tischler Prader etwa eine exorbitante Summe vom Lehrer, damit er Andri als Lehrling annimmt und missbilligt dann den von seinem Gesellen Fedri gezimmerten Stuhl als Andris, während er auf Andris eigener Arbeit sitzt. Hauptantagonist ist aber der Soldat Peider, der „ein Aug auf“ Barblin hat und sie später sogar vergewaltigt, was von Andri, der mit Barblin verlobt ist, fälschlicherweise als einvernehmlich interpretiert wird, was nicht zuletzt daran liegt, dass er gewohnt ist, von aller Welt verstoßen zu werden. So interpretiert er auch die abweisende Reaktion des Lehrers, als Andri und Barblin dem Vater ihre Liebe zueinander offenbaren, dahingehend, dass selbst Can nur deshalb nicht wolle, dass Andri und Barblin heiraten, weil Andri Jude ist, obwohl es in Wahrheit daran liegt, dass die beiden Halbgeschwister sind.
Die Senora, also Andris leibliche Mutter, besucht Andorra und schenkt Andri einen Ring. Kurz darauf trifft ein geworfener Stein sie tödlich. Es wird impliziert, dass der Wirt der Täter ist. Dann marschieren die „Schwarzen“ ein und veranstalten eine „Judenschau“. Der Judenschauer identifiziert zunächst fälschlich den Gesellen und den Jemand, dann aber Andri als Juden. Der Soldat hat sich dabei längst den „Schwarzen“ angeschlossen und leitet die „Judenschau“ indirekt. Andri setzt sich zur Wehr, man schneidet ihm den Ring vom Finger und bringt ihn um. Der Lehrer begeht danach Suizid und Barblin, die als einzige wirklich bis zuletzt zu Andri stand, verliert den Verstand: Wie in der ersten Szene weißelt sie die Häuser, nun aber nicht wegen eines nahenden Feiertags, sondern um den Unrat Andorras zu übertünchen.
Der vollständige Titel des Dramas gibt schon viel über Max Frischs Intention preis: „Andorra. Stück in zwölf Bildern“ Bilder, nicht Szenen, zugleich hat das Drama exakt zwölf sprechende Rollen: Andri, Barblin, den Lehrer (Can), die Mutter, die Senora, den Pater (Benedikt), den Soldat (Peider), den Wirt, den Tischler (Prader), den Gesellen (Fedri), den Jemand und den Doktor (Ferrer), von denen einige zwischen den Szenen/Bildern an die Zeugenschranke (der Pater betet hingegen) treten und ihr Zeugnis oder Geständnis zu den Vorfällen ablegen, wobei fast immer die Worte „Ich bin nicht schuld“ im letzten Satz fallen. Einzig der Pater gesteht seine Schuld ein, war jedoch seiner Vorurteile zum Trotze gerade der eine Andorraner, der Andri gegenüber wohlwollend war. Die zwölf Bilder sind also sowohl die Szenen als auch die Bilder in den Köpfen der Figuren. So ist Frischs auch von ihm persönlich bestätigte Kernthese bei „Andorra“, dass das Bild, das die Menschen von anderen Menschen haben, ausmachen kann, wer sie am Ende sind: „Du sollst dir kein Bildnis machen, heißt es, von Gott. Es dürfte auch in diesem Sinne gelten: Gott als das Lebendige in jedem Menschen, das, was nicht erfaßbar ist. Es ist eine Versündigung, die wir, so wie sie an uns begangen wird, fast ohne Unterlaß wieder begehen – Ausgenommen wenn wir lieben.“ Andri, der eben nicht nur als Jude gesehen, sondern vor allem mit jüdischen Stereotypen belegt wird, fügt sich am Ende selbst in dieses Bild anderer von ihm. Eine ähnliche Situation haben wir etwa auch mit der Figur des Fuchses Nick Wilde in dem Film „Zoomania“ von Rich Moore (*1963) und Byron Howard (*1968): Er wird von anderen Tieren so sehr als verschlagenes Raubtier gesehen, dass er sich schlussendlich in eben dieses Bild fügt. Man könnte es auch mit Karl Marx (1818 – 1883) halten: „Das Sein formt das Bewusstsein.“
Gleichzeitig ist die Schuldfrage zentrale Thematik von „Andorra“ und dabei insbesondere die Kollektivschuld. Es sind die antisemitischen Bemerkungen, die kollektive Angst und Passivität und Lügen, die Andri töten. Frisch führte aus: „Ich möchte die Schuld zeigen, wo ich sie sehe, unsere Schuld, denn wenn ich meinen Freund an den Henker ausliefere, übernimmt der Henker keine Oberschuld.“ In einem Interview mit Curt Riess (1902 – 1993) sagte er zudem: „Die Schuldigen sitzen ja im Parkett. Sie, die sagen, daß sie es nicht gewollt haben. Sie, die schuldig wurden, sich aber nicht mitschuldig fühlen. Sie sollen erschrecken […] sie sollen, wenn sie das Stück gesehen haben, nachts wach liegen. […] Die Mitschuldigen sind überall.“ Dabei verkörpern die Andorraner die antisemitischen Stereotype selbst viel mehr als Andri: Der Lehrer, der lügt, der Soldat, der Barblin lüstern nachstellt, der geldgierige Wirt und ebenso habgierige Tischler, der Doktor, der von seinem Volk als einem besseren spricht und bei all dem eigenen Ehrgeiz den Juden Ehrgeiz vorwirft, und der verräterische, heimtückische Geselle.
Die Intention des von Vorurteilen generierten Bildes, das auf einer Lüge basiert, macht „Andorra“ entgegen Frischs Intention in einem Punkt aber auch ein wenig problematisch, denn ein unbedarfter und vor allem selbst in antisemitischen Klischees denkender Mensch könnte verleitet sein, die Argumentation der Andorraner anzunehmen, dass es ja anders gekommen wäre, wenn man gewusst hätte, dass er kein Jude war, weil ihn dadurch keine Schuld träfe. Allerdings hätte der Fall von Andri hinsichtlich der Rolle der Andorraner gar nicht anders gelegen, wäre er tatsächlich Jude gewesen. Vorurteile und Beschuldigungen wären auch dann völlig zu Unrecht erhoben worden. Ihn hätte dann ebenso wenig irgendeine Schuld getroffen.
Literatur
Andorra: Stück in zwölf Bildern. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1961. 63. Nachdruck 2006. (= Suhrkamp-Taschenbuch 277).
Gerhard P. Knapp, Mona Knapp: Max Frisch: Andorra. 7. Auflage. Diesterweg, Frankfurt am Main 1998.
Walter Schmitz, Ernst Wendt (Hrsg.): Frischs Andorra. 1. Auflage. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1984.