Russische Fragen, Auskünfte und Erkenntnisse zum Zweiten Weltkrieg
Seit 2001 kultiviert das russische „Pressezentrum“ (Press-centr) eine interessante Art von Diskussion (www.smi.ru/interviews/ – Seite nicht mehr abrufbar / Stand: 14. November 2014 – Snapshot in der Internet Archive Wayback Machine vom 17. April 2006): Man nimmt einen Prominenten, einen Experten etc. und fordert praktisch die ganze Welt auf, ihm per Internet Fragen zu stellen. Da dieses Angebot in russischer Sprache formuliert ist, darf vermutet werden, dass Russisch auch die alleinige Sprache dieses Frage-Antwort-Spiels ist, was den Kreis der Teilnehmer naturgemäß einschränkt. Andererseits fühlen sich die russischen Fragesteller unübersehbar unter sich, was die ganze Diskussion auf ein staunenswert hohes Niveau hebt und sie in familiärer Offenheit ablaufen lässt – sozusagen in einer Jetzt-mal-unter-uns-Nähe.
Der bislang letzte Antwortgeber war der Historiker Georgij A. Kumanev (*1931, Bild), „Leiter des Zentrums für Militärgeschichte Russlands im Institut für russische Geschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften“. Kumanev stammt aus der Region Gor’kij, früher und jetzt wieder Nishny Nowgorod, wo er 1954 ein Geschichtsstudium abschloß und seither eine geradlinige und aufsteigende Karriere absolvierte: 1955 Mitarbeiter der sowjetischen Akademie der Wissenschaften, 1959 Promotion, 1971 Habilitation, später Mitgliedschaft in der Militär-Akademie, mehrere hohe Staatsauszeichnungen, Mitglied des russischen Schriftstellerverbands und ähnliches mehr. Kumanev mag nicht gerade zu den ganz progressiven Historikern Rußlands gehören, aber er ist auch alles andere als ein konservativer „Betonkopf“. Zudem ist er ein Wissenschaftler, der fachliche Akribie, Informiertheit über den Stand der Forschung und eine sehr leserfreundliche Darstellungsweise vereint. Fleiß zeichnet ihn auch aus, aber der ist eine Vorbedingung bei den Press-centr-Debatten: Die Fragen werden über zwei, drei Wochen gesammelt, wohl auch ein bisschen vorsortiert und dem jeweiligen Experten gebündelt zur Beantwortung übergeben. An Kumanev gingen Fragen zum Zweiten Weltkrieg, die er am 6. Mai 2006 detailliert, exakt und sehr persönlich beantwortete. Herauskam eine tiefenscharfe Momentaufnahme russischer Sichtweisen zum „Großen Vaterländischen Krieg“ (wie der Zweite Weltkrieg bei Russen nach einem Diktum Stalins genannt wird) und russischer Bildungslücken, die nach jahrzehntelanger Propaganda-Berieselung unvermeidlich sind. Eine summarische Würdigung von Kumanevs Leser-Dialog dürfte auch für nicht-russische Interessierte von Wert sein.
Wie viele russische (und deutsche) Opfer forderte der Krieg?
Seit Jahrzehnten wird Russen wieder und wieder die Zahl von „20 Millionen Kriegsopfern“ als offizielle Angabe unterbreitet. 2005 sprach Präsident Putin plötzlich davon, „dass die Sowjetunion rund 50 Millionen Menschen verloren“ habe. Beide Zahlen erschienen wenig glaubwürdig, und so war die Frage an Kumanev verständlich, wie viele Opfer es wirklich waren. Der Historiker bestätigte, dass „unter Chrušćev“, also in den späten und 1950-er und frühen 1960-er Jahren, „tatsächlich“ nur von 20 Millionen Opfern die Rede gewesen war. „Woher nahm man diese Zahl?“ Es folgte ein erstaunlicher Exkurs über sowjetische Opfer-Arithmetik.
Im Februar 1946 standen in der Sowjetunion „Wahlen“ an und im Vorfeld dieses Ereignisses beauftragte Stalin den Chef der Staatlichen Planungsbehörde, Nikolaj A. Voznesenskij, binnen kurzer Frist „die Zahl unserer Verluste im Zweiten Weltkrieg zu ermitteln“. Voznesenskij legte nach wenigen Tagen eine „Bilanz“ vor: 16 Millionen. Das erschien Stalin als überhöht, weshalb er die Zahl kurzerhand nach untern korrigierte: „Lassen wir es bei 7 Millionen!“ Im Sommer 1947 fand in Paris eine Konferenz der Staaten der ehemaligen Anti-Hitler-Koalition statt, auf welcher Stalins Außenminister V. M. Molotov „mit der Zahl von 7 Millionen operierte“. „Ich besitze eine Broschüre mit den Reden und Erklärungen Molotovs auf dieser Konferenz“ (fügte Kumanev hinzu). 1957, vier Jahre nach Stalins Tod, wurde das Erscheinen einer sechsbändige Kriegsgeschichte vorbereitet, wofür eine „neue Berechnung unserer Verluste in diesem Krieg“ angeordnet wurde. Eine „große Brigade“ machte sich ans Werk und ermittelte „über 25 Millionen“ (wie Kumanev aus eigener Anschauung des Berichts bekundete). Parteichef Chruščev blätterte die Materialien durch und befand: „Also, Schluß jetzt, schreiben Sie: über 20 Millionen“.
So geschah es und bei den „über 20 Millionen“ blieb es – bis Ende der 1980-er Jahre eine neue Kommission aus Akademie und Verteidigungsministerium die Frage erneut anging. Kumanev war bei der „Zivil-Kommission“ daran beteiligt, die über 18 Millionen Zivilopfer errechnete, wozu noch 8.668.400 Opfer aus der Armee kamen. Offiziell sprach man von „unwiederbringlichen Verlusten“ und verstand darunter Getötete, ihren Verwundungen Erlegene, in Lazaretten Verstorbene, spurlos Vermisste (Kumanev: „Spurlos vermisst kann ja auch heißen, dass jemand noch am Leben ist und etwa in Argentinien lebt, in jedem Fall ein unwiederbringlicher Verlust für unsere Armee war“).
Hierher gehört auch das schmerzliche Thema derer, „die in Gefangenschaft gerieten und nicht zurückkehrten“. „Laut deutschen Angaben“ waren es bis November 1941 3,5 bis 3,9 Millionen Soldaten, am 1. Februar nur noch 1,1 Millionen. „Wo waren die übrigen? Die übrigen waren umgebracht worden. Es war ein viehischer Genozid!“ Insgesamt sind in den Kriegsjahren rund 4,5 Millionen sowjetische Soldaten in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten, von denen über zwei Millionen „spurlos“ verschwanden und folglich zu den „unwiederbringlichen Verlusten“ gezählt wurden.
„Wie viele deutsche Kriegsgefangene gab es bei uns?“ „Abgerundet“ 4,2 Millionen. „Wie viele verstarben in unserer Gefangenschaft?“ Über 500.000, „obwohl ihnen medizinische Hilfe zuteil wurde“. Hinzu kam (was deutsche Gefallenen-Statistiken verschwiegen), dass ein großer Teil dieser Gefangenen keine Deutschen waren, vielmehr zu den Verbündeten Deutschlands oder zu den Freiwilligen-Legionen gehörten. Und wenn man die militärischen Gesamtverluste beider Seiten zusammenzählt, „dann kommt nahezu eine Gleichstand heraus: Wir hatten 8.660.000, der Feind 8.645.000. Und hätten wir so viele Kriegsgefangenen umgebracht, wie es die Nazis taten, also dem Feind noch höhere unwiederbringliche Verluste zugefügt, dann wären unsere Verluste im direkten Vergleich weit geringer ausgefallen“. So Kumanev, dem wohl niemand widersprechen kann. Solche Rechnungen sind schrecklich und schrecklich sinnlos, weil es sich ja in der Tat um unwiederbringliche Verluste gehandelt hat, für beide Seiten. Zudem sind die Russen (was weder Kumanev noch seine Frager ansprachen) begreiflich befangen, was Kriegsgefangene angeht: Laut Stalin waren jeder, der in Kriegsgefangenschaft geriet, ein „Verräter“, und als solche wurden die Heimkehrer angesehen, oft genug auch behandelt. Sind gerade sie in die Opferberechnungen eingegangen? Vermutlich ja, aber doch wohl stillschweigend – was für die Zukunft neue Berechnungen mit noch schmerzlicherer „Bilanz“ verheißt.
Wurde die Sowjetunion „plötzlich und unerwartet“ überfallen?
In seiner Rede vom 3. Juli 1941 hatte Stalin von dem „am 22. Juni wortbrüchig begonnenen militärischen Überall auf unsere Heimat“ gesprochen und damit das Element der „Unerwartetheit“ (vnezapnost’) des Kriegsausbruchs in die Debatte gebracht, in welcher es immer noch dominiert – auch und gerade bei Russen, jedoch nicht bei ehemaligen hohen Militärs. Mit diesen hatte Kumanev früher gesprochen und verwundert ihre Ansicht gehört, dass „es überhaupt keine Überraschung gegeben hat“. „Warum nicht?“ „Weil das ganze sowjetische Volk wusste, dass Deutschland früher oder später die Sowjetunion überfallen wird“.
Das war gewiß zutreffend, wie auch richtig war, dass gerade die sowjetische Armee zu dieser Zeit enorm „geschwächt“ war – durch Stalins Terror, dem „über 40.000“ hohe und höchste Offiziere zum Opfer gefallen waren. Die Folgen hatten sich schon im russisch-finnischen „Winterkrieg“ (30. November 1939 – 12. März 1940) gezeigt, in dem eine schlecht vorbereitete und schlecht geführte Sowjetarmee ungeheure Verluste erlitt.
Den genauen Termin des deutschen Angriffs hatte „Meisterspion“ Richard Sorge frühzeitig nach Moskau gemeldet, aber Stalin hatte dieser Meldung keinen Glauben geschenkt. Dessen Überlegungen gab Kumanev so wieder: „Der Krieg mit Deutschland ist zwar unvermeidlich, aber Hitler ist doch nicht so ein Dummkopf, dass er nun, nachdem er England nicht niederzwingen konnte, noch eine zweite Front eröffnet“. Hitler hingegen hielt den Angriffstermin für einen besonderen Geniestreich, wie Kumanev aus deutschen Unterlagen herauslas: „Man muß sich beeilen! In diesem Moment ist die Rote Armee eine Koloß auf tönernen Füßen, dem auch noch der Kopf abgeschlagen wurde“.
Mit anderen Worten: Hitler und Stalin rechneten in völlig konträren Zeithorizonten. Stalin glaubte nicht an einen Kriegsausbruch 1941, weil Hitlers Kriegsführung im Westen stockte – Hitler sah die personell entblößte sowjetische Armee und rechnete sich einen raschen Sieg im Osten aus. Stalin hatte panisch Angst davor, der Krieg könne durch irgendwelche „Provokationen“ früher als erwartet ausbrechen, und verordnete seiner Armee Zurückhaltung fast bis zur Selbstaufgabe. Kumanev hat das mit einem überzeugenden Beispiel illustriert: „Allein in der ersten Jahreshälfte 1941 haben deutsche Flugzeuge über 300 Mal den sowjetischen Luftraum verletzt, um bis zu 200 Kilometer im Landesinneren militärische und strategische Objekte zu fotografieren. Und unsere armen Flieger mussten ihnen dabei noch aus ihren Flugzeugkanzeln zuwinken und zulächeln“.
Hat der Hitler-Stalin-Pakt das „Tor zum Weltkrieg aufgestoßen“?
Zu den nicht-russischen Teilnehmern der Debatte mit Kumanev gehörte auch der Verfasser dieser Darstellung, Wolf Oschlies. Ich hatte meine Frage nach Moskau gemailt, was Kollege Kumanev von Stimmen in russischen Medien, dass der Hitler-Stalin-Pakt von 1939 „das Tor zum Weltkrieg aufstieß“, und überhaupt von der „Kooperation“ zwischen Berlin und Moskau hielt. Die Frage scheint Kumanev nicht sonderlich gefallen zu haben, aber seine Antwort war souverän: Das Tor zum Weltkrieg stießen die Westmächte auf, indem sie mit Hitler das Münchner Abkommen vom September 1938 unterzeichneten. Daran hatte die Sowjetunion nicht den geringsten Anteil, aber die Westmächte erlaubten Hitler die faktische Zerschlagung der Tschechoslowakei und die weitere Expansion in Europa. Der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt vom 23. August 1939 war einer von vielen Verträgen, die Hitler in gleicher Weise mit anderen Staaten geschlossen hatte. Hätte Moskau den Vertragsschluß abgelehnt, wäre die Sowjetunion von Hitler als potentieller Aggressor hingestellt worden, eventuell wären sogar Frankreich und England aus Angst vor Stalin auf Hitlers Seite gerückt. Aber die Sowjetunion schloß den Vertrag – „wohl wissend, dass wir einen Aggressor vor uns haben, und absolut sicher, dass der Vertrag verletzt werden wird“ (Kumanev) – und gewann dadurch „21 Friedensmonate“, die sie zur Kriegsvorbereitung nutzen konnte. Ergo: „Es gab an dem Vertrag manches Plus und manches Minus, aber das Plus war unvergleichlich größer“.
So weit, so schlüssig – und so geschickt in der Nichterwähnung des verbrecherischen „geheimen Zusatzprotokolls“ zum Vertrag, in dem Hitler und Stalin Osteuropa unter sich aufteilten. Die Existenz dieses Protokolls wurde von Moskau so lange und so energisch bestritten, dass sich sein neues Eingeständnis wohl noch nicht allenthalben herumgesprochen hat. Aus Sankt Petersburg fragte ein offenkundig junger Mann (wie aus seiner Formulierung im besten russischen Jugendjargon zu schließen ist), ob „in der Natur“ (= wirklich) ein Original des Vertrags existiere. Kumanev: „Ja, ich habe es gesehen. Es wird in den Fonds des Staatlichen Archivs der Russischen Föderation (GARF) aufbewahrt“. Vom Zusatzprotokoll kein Wort, der Fragesteller hatte es ja auch nicht erwähnt.
Kumanev ist irgendwann Ex-Außenminister Molotov begegnet und will ihn, so seine jetzige Erinnerung, gefragt haben, „ob es einen Vertrag, den Sie und (NS-Außenminister) Ribbentrop unterzeichneten, gegeben hat oder nicht“. Molotov soll geantwortet haben: „Na ja, ganz allgemein haben Ribbentrop und ich uns über alles abgesprochen“. Diese Erinnerung ist eine Albernheit: Daß es einen solchen Vertrag gegeben hatte, war nicht nur nie strittig, es wurde vielmehr in Wort und Bild (1. Reihe v. l. n. r.: Ribbentrop, Stalin, Molotov) förmlich in alle Welt hinausposaunt. Abgestritten haben die Sowjets nur das Zusatz-Protokoll, allen voran Molotov (1890-1986), der bis zum letzten Moment seines langen Lebens dieses als „Mythos“, „Lügenmärchen“ etc. bezeichnete. Das Protokoll war da längst bekannt, auch die ihm beigefügte Karte, auf welcher Stalin mit eigener Unterschrift bestätigt hatte, wie die künftigen Grenzen verlaufen sollten.
Es ist sicher nicht einfach oder angenehm für einen altgedienten Historiker wie Kumanev, eine solche Gaunerei einzugestehen. Und es spricht gegen ihn, dass er sich „in die Ecke gedrängt“ fühlte und dann in kommunistische Arroganz verfiel: „In letzter Zeit macht Litauen großen Lärm, dass angeblich der Pakt Ribbentrop-Molotov den Weg zur Aggression öffnete. Dabei vergessen unsere Nachbarn an der Ostsee wohl, dass sie durch diesen Pakt von Deutschland (die Städte) Wilna und Klajpeda zurück bekamen, die auch zu Deutschland gehörten, wie sie auch fünf Bezirke Weißrusslands bekamen. Na schön, drehen wir doch alles rückwärts – wenn euch der Pakt nicht zusagt, dann seid so gut und gebt die fünf weißrussischen Bezirke, Wilna und Klajpeda zurück“.
Litauen hat gar nichts „zurück bekommen“, denn es hat durch den Pakt seine Souveränität verloren und wurde eine von Stalins „Sowjet-Republiken“. Wenn es als wieder souveräner Staat heute seine eigene Geschichte reflektiert und dann solche Äußerungen wie die Kumanevs hört, dann wird es das als weiteren Beweis für die Richtigkeit seines Los-von-Rußland-Kurses verbuchen.
Wollte Stalin die „zweite Front“ oder einen „Separatfrieden“?
Wer im eigenen Russland so viele selbstverschuldete Fehler in der Verteidigungspolitik registrieren muß, der sucht natürlich nach Ausflüchten. Russisches Lieblingsthema sind in dieser Hinsicht die wankelmütigen West-Alliierten, die den Russen zwar oft die Eröffnung einer zweiten Front gegen Deutschland und seine Verbündeten versprachen, tatsächlich aber bis zum 6. Juli 1944 damit warteten. So sagte es Kumanev, wobei er sich wohl irrte: Was bei Russen als „Eröffnung der zweiten Front“ firmiert, war die alliierte Invasion in der Normandie („Operation Overlord“), und die startete am 6. Juni 1944.
Das genaue Datum ist nicht so wichtig, denn nach Meinung einiger Fragesteller an Kumanev kam diese zweite Front oder Invasion ohnehin zu spät: Hätten die Alliierten ihre viele Versprechungen gehalten, dann wäre der Krieg „zweieinhalb Jahre“ früher beendet gewesen, hätten rund 12 Millionen Menschen weniger ihr Leben verloren, auch „Auschwitz hätte nicht arbeiten können, da es bekanntlich erst 1944 auf volle Touren kam“.
Kumanev stimmt diesen Ansichten mehr oder minder zu und erläutert das alliierte Zögern in geradezu „klassischer“ sowjetischer Manier: Der Westen „wollte nicht, dass im Falle eines Sieges aus diesem schrecklichen Krieg eine mächtige und starke Sowjetunion hervorging“. Der spätere US-Präsident Truman soll, so Kumanev, bei Kriegsbeginn geäußert haben, dass es „für die USA vorteilhaft“ wäre, wenn sich Hitler und Stalin gegenseitig schwächten und einander „so viele Verluste wie nur möglich“ zufügten. Erst später wandelte sich die westliche Einstellung, aber Tatsache blieb laut Kumanev, dass „die Hauptlast des Kampfs auf den Schultern unserer Streitkräfte lag“. Als „Beweis“ führte er an, dass „durch die Anstrengungen der Roten Armee 606 feindliche Divisionen zerschlagen wurden“, während es auf Seiten der Alliierten „nur 176 Divisionen“ waren: „Vergleichen Sie, 606 zu 176. Daraus wird doch sofort klar, wer die Hauptkraft war, die Hitlers Kriegsmaschinerie zerschlug“.
Und was war mit den Milliardenhilfen der Alliierten für die Sowjetunion? Davon findet sich bei Kumanev kein Wort, immerhin aber die Frage, ob nicht Stalins Sowjetunion im Herbst 1941 so am Ende war, dass sie „zu einem Separatfrieden mit dem faschistischen Deutschland kommen und faktisch dessen Verbündeter im Kampf gegen den anglo-französischen Imperialismus werden“ wollte. Nach Kumanev Ansicht handelt es sich um eine „Ente“ (utka), „die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion aufkam“: Angeblich habe Oberkommandierender Žukov zufällig ein Telefonat Stalins mitgehört, in welchem dieser seinen Geheimdienstchef Berija beauftragte, über den bulgarischen Botschafter Kontakte zu den Deutschen anzuknüpfen, um „mit Hitler über einen Separatfrieden zu verhandeln“. Ein „sehr verehrungswürdiger Historiker“ behauptete sogar, dass Stalin und Berija direkt im Arbeitszimmer Stalins über einen derartigen Versuch gesprochen hätten und dafür überhaupt kein Telefon benötigten. „Ich glaube nicht an diese Spekulationen“ (rosskaznja), bekundete Kumanev energisch, denn „wir haben mit Deutschland keine Separatverhandlungen gesucht, und alle Informationen, die zu diesem Thema in den Medien auftauchten, sind durch keine seriösen Beweise erhärtet“.
Was nicht ist, kann ja noch kommen. Nur das Gespräch Stalin-Berija dürfte eine Mystifikation sein: Aus anderen Erinnerungen ist bekannt, dass die beiden bei ihren russischen „Genossen“ schon darum Unwillen erregten, weil sie miteinander nur Georgisch zu sprechen pflegten. Und das verstand kaum ein Russe.
Der ganze Reichstag stand unter roten Fahnen… – Wer hisste die sowjetische Fahne auf dem eroberten Reichstag?
Um kaum eine Kriegsepisode existieren so viele Berichte, Anekdoten, Legenden etc., wie um die, dass sowjetische Soldaten eine Fahne auf dem Reichstag in Berlin hissten. Das entsprechende Bild soll so oft wie vielleicht kein anderes veröffentlicht worden sein, nicht selten auch in Studien über fotografische Manipulationen oder „Lügen mit der Kamera“. Dabei ist es wirklich gestellt und befehlsgemäß von einem Fotografen gefertigt worden. Und der musste das Bild mehrfach wiederholen, weil immer ein Rotarmisten-Arm mit fünf gestohlenen deutschen Uhren daran vor die Linse kam. Unter sehr vielen Veröffentlichungen des Bildes steht, die Hammer-und-Sichel-Fahne sei am 8. Mai 1945 auf dem Reichstag gehisst worden – tatsächlich wehte sie bereits eine Woche früher dort. Und so weiter. Aber wie war es wirklich?
Strategisch hatte das Gebäude des Reichstags für niemanden eine Bedeutung. Ein paar Freiwillige der französischen SS-Division „Charlemagne“ verteidigten es, Deutsche waren anderswo eingesetzt. Die Rotarmisten kümmerten sich anfänglich auch nicht darum. Ihr Auftrag war, „das Siegesbanner über Berlin zu hissen“, aber wo das genau geschehen sollte, war nicht erwähnt worden. Symbolträchtig wäre es natürlich gewesen, das Banner auf Hitlers Reichskanzlei zu stecken, aber die erwies sich als zu niedrig. Also entscheid man sich für den Reichstag, denn „der hatte beeindruckendere Ausmaße“.
So begann Georgij Kumanev seine umfangreiche Antwort auf eine entsprechende Frage, und jeder weitere Satz verriet bislang wenig bekannte Details. Der „Sturm“ (russisch: šturm) auf Berlin begann am 16. April 1945, erst Ende April war man bis in die Nähe des Reichstags gekommen. Den Rest sollten zwei Divisionen erledigen – die 150. Schützendivision unter General Šatilov und die 171. Division unter Oberst Negoda. Deren Angriff „versackte“ rasch, denn es fehlte Artillerieunterstützung und die Angreifer verfügten über lediglich drei Panzer. Zwei wurden von den Deutschen abgeschossen, der dritte blieb in einem riesigen Wasserloch vor dem Reichstag stecken. Weil die Verluste zu hoch waren, wurde die Fortsetzung des Angriffs auf die Nacht vertagt. Bei Einbruch der Dunkelheit wurden neun Fahnen verteilt, darunter auch die der 150. Schützendivision, und jeder Kommandeur hoffte natürlich, dass seine Soldaten als erste den Sieg mit wehender Fahne dokumentieren würden.
Kein einziger sowjetischer Soldat war am 30. April vor Anbruch der Dunkelheit im Reichstag, aber dennoch meldete General Šatilov seinem Vorgesetzten, General Perevertnik: „Heute, am 30. April, haben wir um 14 Uhr 25 Minuten das Siegesbanner auf dem Reichstag gehisst“. Perevertnik gab die frohe Botschaft an den Oberbefehlshaber Marschall Žukov weiter, der sie umgehend nach Moskau zu Stalin persönlich leitete, um dann einige Flaschen Champagner auf den Sieg zu leeren. Einer glaubte dem anderen, und die Wahrheit einzugestehen, dass der Reichstag noch gar nicht in sowjetischer Hand war, dazu fehlte allen der Mut. Šatilov merkte als erster, in welchen Schlamassel er geraten und andere geführt hatte, und versuchte mit Toben, Befehlen und zuletzt mit Bitten, die verfahrene Lage zu retten: „Nehmt irgendein Fähnchen, steckt es irgendwohin, von mir aus an die Treppe“. Aber selbst das war noch unmöglich.
Gegen 21 Uhr traf die Artillerie ein, eröffnete das Feuer auf den Reichstag und ein neuer Angriff begann. In vorderster Linie befand sich der Artillerie-Aufklärer Hauptmann Vladimir Makov mit den Soldaten Zagitov, Lisimenko und Bobrov, dazu der Unteroffizier (und „Parteiorganisator“) Michail Minin. Die Fünf drangen als erste in den Reichstag ein und begaben sich auf dessen Dach. Dort befand sich niemand, so dass sie in aller Ruhe die mitgebrachte Fahne ausrollen und einen Platz suchen konnten, wo sie diese hissen würden. Sie fanden eine große Skulptur, eine Frau auf einem Pferd, die sie als eine Art Siegesgöttin identifizierten und als Fahnenträgerin für geeignet befanden – erst viel später ermittelte man, dass die Frauengestalt die „Germania“ darstellte. Während die Soldaten noch mit ihrer Fahne beschäftigt waren, traf Zagitov ein Schuß an der Brust, worauf er die Fahne rasch an Minin weiterreichte. Minin bestieg mit Hilfe seiner Kameraden die Skulptur, die plötzlich zu schwanken begann. Kumanev hat Minin, der als betagter Herr in Pskov lebt, gesprochen und von ihm gehört, welche Ängste er in jenem Moment ausgestanden hatte: „Jetzt falle ich vom Dach, was für eine Schande, in diesem Moment…“ Zum Glück wies der Frauenkopf der Skulptur eine große Einschusslücke auf, in die er rasch die Fahne steckte, um von dem „Schaukelpferd“ umgehend wieder herunter zu kommen. Zeuge dessen war Makov, der darüber General Perevertnik Bericht erstattete: „Heute, am 30. April 1945, haben wir auf dem Dach des Reichstags das Siegesbanner gehisst. Wir steckten es in den Kopf einer deutschen…“
„Dann folgte ein unanständiges Wort, ich habe den Bericht selber gesehen“, schrieb Kumanev, der auch den Fortgang der Ereignisse kannte: „Danach kamen andere Soldaten und bald stand der ganze Reichstag unter roten Fahnen“. Unter diesen Nachrückern waren die Soldaten Egorov und Kantarija, die später in ihrem Buch „Das Siegesbanner“ eine sehr ehrliche Schilderung gaben, wobei sie auch die Namen derer nannten, die mit Makov als erste auf dem Dach des Reichstags gewesen waren. Nur Bobrov durfte nicht mehr erwähnt werden: Kurz nach Kriegsende hatte er, der in Leningrad in einer Ruine hausen musste, sich über einen Parteibonzen so geärgert, dass er diesem ein Tintenfaß an den Kopf warf – was ihm ein paar Jahre Gefängnis einbrachte und die Streichung aus allen offiziellen Heldengeschichten.
Wann Minin die Fahne genau hisste, lässt sich nicht mehr feststellen – nach dem Zeugnis Makovs war es am 30. April um 22 Uhr 40 Minuten, nach den Bekundungen anderer um drei Uhr morgens am 1. Mai. Letztere waren wohl im Unrecht, kamen aber dem allgemeinen Hang nach Symbolik entgegen: Am Morgen des 1. Mai geht über dem Reichstag des Feindes die sowjetische Flagge hoch!
Welche Flagge? Auf dem Dach wimmelte es inzwischen von roten Fahnen, die von unten nicht zu sehen waren. Oberst Zinčenko, soeben ernannter „neuer Kommandant des Reichstags“, beauftragte die Makov-Gruppe, ihre Divisionsfahne am höchsten Punkt der Kuppel anzubringen. Das taten die auch, benötigten dafür aber die ganze folgende Nacht, so dass Berlin erst am Morgen des 2. Mai unter der roten Fahne stand.
Für die Beteiligten gab es Orden und Ernennungen zu „Helden der Sowjetunion“ – und zwar um so massiver, je weniger sie mit dem Geschehen zu tun gehabt hatten. Der Maulheld General Šatilov wurde so ein „Held“, die Makov-Männer sollten es auch werden, wurden im letzten Moment aber mit einem zweitklassigen Orden abgespeist. Und das ist nicht selten geschehen: Kumanev hat noch manche Frage in dieser Hinsicht beantwortet, etwa über Partisanengruppen, die erst als große Heroen gefeiert worden waren, dann aber so in Ungnade fielen, dass sie zu „Unpersonen“ wurden. Mehr noch: Journalisten, die anfänglich befohlene Jubelartikel geschrieben hatten, wurden später von Stalins Geheimpolizei vor die Wahl gestellt: Entweder die Artikel zurückziehen, oder in einem Straflager am Polarkreis zu verschwinden.
Autor: Wolf Oschlies