Jedes geschichtliche Ereignis lässt einen mit Fragen zurück. Bei der „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts, so wie der US-Diplomat und Historiker George F. Kennan, den ersten Weltkrieg nannte, ist das nicht anders. Eine wichtige Quelle, um sich ein Bild, von dessen Verlauf und von seiner Gräuel zu machen – oder auch um Antworten zu ergründen, ist die Feldpost. In ihr finden sich die Schilderungen der Soldaten über den Kriegsalltag. Selbst, wenn ihre heutigen Leser nur noch ahnen können, wie schmerzlich ein abgeschossenes Bein, wie hart die Nächte in blutverschmierten Schützengräben, wie schlimm der Gestank verrotteten Fleisches, wie verheerend ein Granatfeuer sind – und wie groß doch die Sehnsucht an Frau und Kinder, oder auch nur an die Heimat waren: Dennoch sind sie eine unverzichtbarer Fährte, um dem Lauf der Geschichte auf die Spur zu kommen. So wurden allein etwa 28,7 Milliarden Briefe, Telegramme und Postkarten zwischen den Fronten und dem deutschen Zuhause hin – und hergeschickt. Circa 6,8 Millionen Briefe schrieben deutsche Soldaten pro Tag.
Vor allem die deutsche Generalität setzte auf einen kurzen Krieg. Doch es wurde ein langes Sterben. Hat dies einer der kriegs(ver)herrlichen Monarchen und Generäle an ihren Kartentischen bedacht? Wohl kaum. Ausbaden mussten das die Soldaten mit ihrem Blut. Ihre Post aus dem „Menschenschlachthaus“, sie sind ein erschütterndes Zeugnis davon. Lassen wir uns auf sie ein, erheben wir sie in den Zeugenstand der Geschichte und bilden uns ein (vernichtendes) Urteil:
So berichtet ein Georg Sally Cohn am 28. November 1914 von einem 17-jährigen.: „Der linke Unterschenkel von einer Granate schwer zersplittert, der recht große Fleischwunde. Tränenden Auges stand der Kamerad und Freund neben dem Verwundeten, der seine Hand fest presste (…) Armer Bursch, das Bein muss fort. Er biss wacker ins Hemd, um nicht zu schreien, als er verbunden wurde…“
Am Ende vergeblich, äußerte Gaston Brion, in einem Brief : „Von der Vorsehung erbitte ich nur, dass mir diese Gnade gewährt wird: Lieber gleich den Tod, als ein schreckliches Leiden, Folge dieser fürchterlichen Verwundungen, deren Zeuge wir alle Tage sind“. Vergeblich, weil drei Tage nach seiner Verwundung hielt das Leben noch an ihm fest, ehe es ihn am 11.September 1916 mit 30 Jahren fallen ließ.
Der 22-jährige Cellist Maurice Marèchal bat in einem Brief an seine Mutter, sie um Verzeihung, als er ihr am 10. August 1914 schrieb:. „(…) Ich hätte bleiben sollen, hätte für Dich Cello üben sollen, für Dich, die so viele Opfer gebracht, für mein schon krankes Mütterchen… Ich bin, ich will nicht feige sein. Doch die Idee, dass eine idiotische Kugel meine Zukunft verpfuschen kann, das lässt mich angstvoll erzittern. (…)“. Aber er hatte Glück, er überlebte den Krieg und wurde zu einem der bedeutendsten Cellisten Frankreichs.
Weniger Glück war dem 20-jährigen Philosophiestudenten Heinz Pohlmann beschieden. Er verfasste am 1. Juni 1916 auf dem „Toten Mann“ bei Verdun einen letzten Brief an seine Eltern. Da heißt es : „Wenn Ihr diese Nachricht von mir erhaltet, dann ist wohl herbes Leid über Euch gekommen, denn dann bin ich nicht mehr auf dieser Welt. Ich kann es verstehen, aber um eins bitte ich Euch: beklagt mich nicht…Denn trotz aller trüben Erfahrungen und Nachrichten glaube ich doch an eine Zukunft. Für das neue, größere, bessere Vaterland gebe ich gern mein junges Leben“. So war Pohlmann, wie viele andere Kriegsteilnehmer, selbst im Moment der unmittelbaren Bedrohung des eigenen Lebens, nicht frei von „vaterländischem Geist“.
Die meisten jedoch dürften vor allem nach der anfänglichen Kriegsbegeisterung, „wie ein Kind geweint haben“, wie es der Gymnasiast Georg Götting aus Vechta am 27. Oktober 1916 in einem Brief aus Valmicourt ausdrückte. Weiter liest man bei Götting:. „Es sind meine schlimmsten Stunden gewesen, während meiner ganzen Kriegszeit. Anfangs ging es so gut, und nachher kam es so ganz anders. Komme, was kommen mag“. Und es kam – Anfang April 1917 – in Form eines Kopfschusses, der den Schädel des Kriegsfreiwilligen zertrümmerte.
Sein Fazit über den Krieg fasste der Berliner Technikstudent Hans Martens am 4. Februar 1915 in folgende Worte: „(…) Das ist überhaupt das Scheußliche in dem jetzigen Krieg – alles wird maschinenmäßig, man könnte den Krieg eine Industrie gewerbsmäßigen Menschenschlachtens nennen – (…) Minenwerfer sind das Abscheulichste. Sie werden lautlos abgeworfen und schlagen oft dreißig Mann kaputt“. Am 14. Juli 1915 war er „kaputt“, im Alter von 22 Jahren fiel Martens.
Der US-amerikanische Pilot Mc Connell schrieb „über“ Verdun: „Da unten ist nur der finstere braune Gürtel, ein Streifen gemordeter Natur. Wälder und Straßen sind verschwunden, von den Dörfern ist nichts geblieben als graue Flecken. Während schweren Artilleriefeuer habe ich Granaten wie Regen fallen sehen“.
Was bleibt nun als Lehre und Konsequenz aus dieser (Brief)-Geschichte? Der Harvard-Geschichtsprofessor Niall Ferguson zitiert in seinem Buch „Der falsche Krieg“ (Pantheon-Ausgabe, November 2013) aus einem Aufsatz von George Bernhard Shaw (Seite 15): „Erschießt Eure Offiziere und geht nach Hause“. Nun – so radikal muss die Bundeswehr bei ihren Auslandseinsätzen ja nicht sein. Aber nach Hause gehen – das können sie doch…
Autor: René Lindenau