Der Anständige zeigt wieder die „Banalität des Bösen“. Diesmal ist Heinrich Himmler im Visier eines Filmes, der sich der Person auf unübliche Weise zu nähern versucht. Vor einigen Jahren wurde ein Konvolut mit persönlichen Dokumenten des Reichsführers SS und seiner Familie gefunden. Der Film mit dem provokanten Titel Der Anständige versucht sich an einer Auswertung dieser weithin unbekannten Materialien, vor allem der Briefe, die sich Himmler und seine Frau, später auch seine Tochter und seine Geliebten schrieben.
Die Regisseurin Vanessa Lepa erliegt bei ihrem Werk mutigerweise nicht der Versuchung den Zuschauer mit didaktischem Beiwerk die richtige Lesart all dieses Materials vorzulegen. Vielmehr vertraut sie darauf, dass der mündige Zuschauer die Fakten selbst interpretiert. Sie nennt die Form ihres Films „postdokumentarisch“. Das anderthalbstündige Werk kommt nicht nur ohne Interviews aus, auch Spielszenen oder Dreharbeiten an den Originalschauplätzen kommen nicht vor. Ebenso wenig prominente Historiker mit begleitender Funktion. Einzig historisches Bildmaterial und ausgewählte Zitate aus Originaldokumenten wurden verwendet.
Die Texte werden von Schauspielern wie Sophie Rois und Tobias Moretti gelesen. Im Zentrum steht die Frage wie wurde aus dem nationalistischen Kleinbürgersohn der Fanatiker, der die Strategien zur Ermordung von Millionen Juden, Homosexuellen, Kommunisten, Sinti und Roma entwarf und umsetzte? Wie sah er sich selbst und wie wurde er von seinem privaten Umfeld wahrgenommen? Wie konnte der Mann, der sich in Briefen stets auf sogenannte deutsche Tugenden berief – Ordnung, Anstand, Güte –, mitten im Grauen von Krieg und Holocaust nach Hause schreiben: „Mir geht es bei vieler Arbeit sehr gut“? Was ließ seine Tochter nach einem Besuch des KZ Dachau resümieren: „Schön ist’s gewesen …“
Eine richtige Antwort erhält der Zuschauer verständlicherweise nicht. Aber zumindest ein Gefühl für die sprichwörtliche Banalität des Bösen, die geistige Enge deutscher Kleinbürgerlichkeit und über einen Mann, der zum Monster wurde.
Eine Finanzierung des Filmes wurde angeblich von mehreren deutschen Sendern abgelehnt. Misstraute man den Interpretationsfähigkeiten des Publikums oder war die Form einfach nur zu unverdaulich für das normale Abendprogramm? Wir wünschen dem Film auf jeden Fall viel Erfolg in den wenigen Kinos, in der er seinen Weg finden wird. Und irgendwann bestimmt auch in das Nachtprogramm von ARTE.
Zu den Dokumenten hat die WELT ein Webspecial veröffentlicht: www.welt.de/himmler/
Berlinale – Sektion Panorama Dokumente
Israel / Österreich / Deutschland 2014
94 Min Deutsch, Englisch
REGIE: Vanessa Lapa
DARSTELLER: Tobias Moretti, Sophie Rois, Antonia Moretti, Lenz Moretti, Pauline Knof