Moi, Arne: Das Lager. Ein Norweger in Bergen-Belsen. Göttingen 2002.
„Aber dann geht es mir noch heute so, dass ich innerlich eiskalt werde, wenn ich einen Deutschen seine Sprache sprechen höre.“ Der das 1977 schreibt, ist 1942 als norwegischer Seemann in deutsche Gefangenschaft geraten, und er hat zwischen dem 6. Februar bis zum 8. April 1945 die „ganz besondere Hölle“ des KZ Belsen überlebt. Erst jetzt, 25 Jahre nach der norwegischen Erstveröffentlichung, hat die Niedersächsische Landeszentrale für Politische Bildung eine Übersetzung der Erinnerungen von Arne Moi ermöglicht, die unter dem Titel: „Das Lager. Ein Norweger in Bergen-Belsen“ im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht erschienen ist. Der nur knapp 100-seitige Text unterscheidet sich von anderen Büchern ehemaliger Belsen-Häftlinge, weil er das Konzentrationslager in der Heide als gewollte Verlängerung von Auschwitz interpretiert, weil er die Mörder im Einvernehmen mit der deutschen Bevölkerung handeln sieht und weil er sich jeglicher Versöhnungsperspektive verweigert. „Oft haben wir geglaubt,“ schreibt Arne Moi an seine ehemaligen Mithäftlinge gewandt über das KZ 1944/45, „das ständige Schrumpfen des großgermanischen Reiches und die dadurch bedingte zunehmende Überfüllung der Lager hätten die Verhältnisse verursacht, die sich in Belsen ergaben, ganz einfach weil es nach und nach zu einer Unmöglichkeit wurde das Lager so zu verwalten, dass es funktionierte. Diese Annahme ist falsch. Belsen wurde bewusst als Ersatz für die Gaskammern von Birkenau genutzt, nachdem man Auschwitz hatte evakuieren müssen.“ Lange vor Browning und Goldhagen hat Arne Moi auch ausgesprochen, dass niemand glauben solle, der gewöhnliche Deutsche habe von alledem nichts gewusst. Es sei zwar ebenso verständlich wie menschlich, dass die Deutschen ihre Beteiligung am Holocaust abstritten. „Aber sie verlangen auch noch, dass man ihnen glaubt. Und das geht einfach nicht.“ Der bodenlose Hass von damals sei in ihm gewichen, aber: „Zurück blieb eine nie endende Verachtung des Volkes, das sich für diese Dinge begeistern konnte.“ Wer sich an die emotional aufgeladene Zurückweisung von Goldhagens Thesen erinnert, wird sich kaum wundern, dass Arne Mois Text erst jetzt in Deutschland veröffentlicht wurde. Doch diese Beschäftigung mit den Tätern, deren Motive Moi exemplarisch an dem von Birkenau nach Belsen gekommenen Lagerleiter Josef Kramer zu ergründen versucht, sind nur ein wichtiger Aspekt des Buches. Mit einer erschütternden Offenheit werden auch die Entgrenzungen skizziert, zu der die Lagerhölle die Häftlinge zwang. Unter der Bedingung totaler Entmenschlichung kann moralisches Handeln nicht die Regel, sondern höchstens die Ausnahme sein. Und doch ist das Überleben nicht nur Zufall, sondern verdankt sich auch ethischer Orientierungen, wie Moi sie bei dem Lagerarzt Fritz Leo findet, oder der Solidarität der norwegischen Gruppe im Lager. Mit eindringlichen Beschreibungen des Ausnahmezustands gelingt dem Autor, was er sich vorgenommen hatte: Ein Erzählen, das mehr über die Wahrheit von Belsen sagt, als es Gerichtsprotokolle und – so füge ich hinzu – wissenschaftliche Arbeiten vermögen. „Die zwei Monate in Belsen haben mich geformt wie nichts vorher und nichts nachher“, schreibt Arne Moi: „Sie werden mich nie verlassen. Alles, was mir widerfährt, wird gewissermaßen vor dem Bezugspunkt Belsen geprüft. Für mich ist Belsen das Sinnbild der menschlichen Geschichte, das einzige, von dem wir etwas lernen können, wenn wir eine bessere Zukunft wollen.“ Ärgerlich ist, dass trotz der Herausgeberschaft der Niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung das 112-seitige Buch 16,90 Euro kostet. Manche Texte sollen offenbar nicht viele LeserInnen finden.
Autor: Reinhard Rohde
Moi, Arne: Das Lager. Ein Norweger in Bergen-Belsen. Göttingen 2002. ISBN: 3-525-35133-X, 112 S. EUR 16,90