Rebekka Denz/ Tilmann Gempp-Friedrich (Hg.), Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Anwalt zwischen Deutschtum und Judentum, Berlin 2021.
1936 beklagte sich Kurt Tucholsky in einem Brief an Arnold Zweig über das aus seiner Sicht würdelose Verhalten der Juden in Deutschland. Sie hätten versucht, durch bedingungslose Assimilation dem Antisemitismus auszuweichen. Dadurch habe die Spießbürgerlichkeit und Obrigkeitshörigkeit der Deutschen auf sie abgefärbt. Nicht einmal die Gewaltherrschaft des Dritten Reiches habe einen Gesinnungswandel ausgelöst.[1]
Als Tucholsky diese Zeilen schrieb, dürfte er den Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV) vor Augen gehabt haben, bzw. sein damaliges Image in der breiteren Öffentlichkeit. Dieses Image war nachhaltig von der innerjüdischen Konkurrenz, d.h. von den Zionisten, geprägt worden. Sie warfen dem CV biedere Honoratiorenpolitik, Leisetreterei, Assimilation um jeden Preis, naive apologetische Aufklärungsbemühungen und das Setzen auf den längst antisemitisch unterwanderten Rechtsstaat vor. Da das Dritte Reich alle Ziele des CV, d.h. Emanzipation, Assimilation, Aufklärung und Rechtsschutz, mit Leichtigkeit zum Scheitern brachte und ihn 1938 auflöste, kann es nicht verwundern, dass die ältere Forschungsliteratur die Kritik der Zionisten weitgehend übernommen und allenfalls abgeschwächt hat. Erst die Gesamtdarstellung von Avraham Barkai nahm eine grundsätzliche Neubewertung vor.[2]
Der von Rebekka Denz und Tilmann Gempp-Friedrich herausgegebene Sammelband fasst die Beiträge einer Konferenz an der Universität Potsdam aus dem Jahr 2018 zusammen. Die 14 Essays sind den Themenbereichen Personen, Positionen und Presse zugeordnet. Viele von ihnen stellen neue oder wenig bekannte Quellen vor und nutzen die inzwischen verfügbaren Bestände des in Moskau wiederentdeckten Archivs des CV sowie die im Onlineportal Compact Memory digital verfügbaren CV-Periodika. Dabei liegt der zeitliche Schwerpunkt der Beiträge auf der Weimarer Republik.
Nach dem Ersten Weltkrieg hatte der CV 70.000 Mitglieder in 600 Ortsgruppen. Er wurde zwar 1893 als Abwehrverein gegen den Antisemitismus gegründet, wirkte aber schon bald als selbstbewusste Interessenvertretung gegenüber dem Staat nach außen (durch den Ableger Verein der deutschen Juden) und als Bestandteil des „deutsch-jüdischen Kultursystems“ (S. 5) nach innen. Für eine Assimilation um jeden Preis warb der CV keineswegs, sondern propagierte eine deutsch-jüdische Identität, die sich sowohl gegen die Flucht in die Taufe als auch gegen die Flucht in den Zionismus wandte. Wie Christian Wiese zeigt, stützte sich der Centralverein dafür auf die Apologetik der Vertreter der Wissenschaft des Judentums, obwohl die meisten CV-Mitglieder religiös indifferent waren. Mit der Neuerfindung des Judentums als ethnische Minderheit betrat der Centralverein einen Mittelweg zwischen integrationalistischer Assimilation und nationaljüdischer Absonderung.
Die Konfrontation mit dem Antisemitismus verlor der CV nicht mangels medienwirksamer Anstrengungen. Es fehlte ihm an Verbündeten in der Mehrheitsgesellschaft. Aufklärung und Rechtsschutzarbeit, seit 1928 fast ausschließlich gegen den Nationalsozialismus gerichtet und koordiniert vom Büro Wilhelmstraße, setzten durchaus auf moderne und gut durchdachte Strategien und Methoden. So lernte der CV aus der französischen Dreyfus-Affäre und erhoffte sich durch die Aufdeckung von Diskriminierungen und Fehlurteilen einen Sympathiegewinn in der Öffentlichkeit. Von den Antisemiten übernahm er die Agitation mit Flugblättern und Aufklebern. Auch die Biografien einiger auf nationaler oder regionaler Ebene tätiger Aktivisten sowie die erfolgreiche Mobilisierung von Frauen nach dem Reichsvereinsgesetz von 1908 lassen Zweifel daran aufkommen, ob man den CV sinnvoll als biederen Honoratiorenverein einstufen kann. Er scheint eher zu den modernen „pressure groups“ zu gehören, die seit den 1890er Jahren über Massenmitgliedschaft und Lobbyarbeit Einfluss auf die Politik gewannen. Im Unterschied zu anderen Interessenverbänden war der CV, laut Tilmann Gempp-Friedrich, aber zwangsläufig in Zugehörigkeitsnarrative verstrickt und daher in einer defensiven Position nach außen und innen. Angesichts der Erosion des Liberalismus und der zunehmenden Bedeutung soziobiologischen Denkens konnte das Angebot einer deutsch-jüdischen Doppelidentität immer weniger überzeugen. Vor allem die jüngere Generation wollte als Zionisten nicht mehr deutsch oder als Sozialisten nicht mehr jüdisch sein. Dennoch blieben die Mitgliederzahlen des CV hoch, und seine Dienstleistungen in Abwehrarbeit und Rechtsschutz wurden stark nachgefragt. Jürgen Matthäus und Marie Behrendt zeigen, dass sich der Centralverein nach der NS-Machtergreifung keineswegs still und abwartend verhielt, sondern im Untergrund und in der Emigration im Rahmen der begrenzten Möglichkeiten weiterwirkte und (insgeheim) auf einen Regimewechsel hoffte. Die Ideologie vom deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens war allerdings von der Wirklichkeit überholt worden.
Obwohl die Auseinandersetzung mit der ostjüdischen Migration, dem Zionismus und der jüdischen Renaissancebewegung etwas zu kurz kommen, räumt der Sammelband überzeugend mit vielen verfehlten und tendenziösen Urteilen über den Centralverein auf. Er gibt der Antwort Arnold Zweigs an Kurt Tucholsky Recht. Es mutet fast ironisch an, dass ausgerechnet der Zionist Zweig den Assimilanten und Konvertiten Tucholsky darüber belehrte, dass die Assimilation mehr gewesen sei als eine verfehlte Strategie, dem Antisemitismus durch Anpassung zu entgehen. Die Juden hätten Deutschland – mit all seinen Fehlern – tatsächlich als ihre Heimat betrachtet.[3] Tucholsky konnte das nicht mehr überzeugen. Er hatte inzwischen Selbstmord begangen.
Autor: Thomas Gräfe
Anmerkungen
[1] Kurt Tucholsky, Juden und Deutsche, in: Ernst Loewy (Hg.), Literarische und politische Texte aus dem deutschen Exil 1933-1945, Bd.1, Frankfurt a.M. 1981, S. 265-272.
[2] Avraham Barkai, „Wehr Dich!“ Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens 1893-1938, München 2002.
[3] Arnold Zweig, Antwort an Tucholsky, in: Loewy (Hg.), Literarische und politische Texte, S. 273-279.