Ein kurzes, tragisches Leben wird zur Weltliteratur
Wer kennt es nicht, das Tagebuch der Anne Frank? Wer hat nicht voller Ergriffenheit, Trauer und Wut Anteil genommen an ihrem Schicksal, an ihrer ersten Liebe, an ihrem frühen und sinnlosen Tod? Ihre Niederschrift dokumentiert auf einzigartige Weise das jenseits aller Vorstellungskraft liegende Leid, welches die Nationalsozialisten über die Juden gebracht haben. Dieses Selbstzeugnis ist neben den Tagebüchern Victor Klemperers das wichtigste Zeitdokument, das wir aus dieser Zeit kennen. Es ist ein erschütterndes Symbol für den Genozid an den Juden in Deutschland.
Anne Frank – Ihr Leben
Geboren wird Anne (Annelies Marie) Frank am 12. Juni 1929 in Frankfurt am Main als zweites Kind der jüdischen Eheleute Edith Frank-Holländer und Otto Frank. Ihnen war bereits 1926 die Tochter Margot geboren worden. Bis zum Jahr 1933 lebt sie dort ein normales Leben, was sich nach der Machtübernahme der Nazis aber ändern soll. Da ihres Bleibens in Deutschland nicht mehr länger sein kann, flüchtet die Familie aus Deutschland. Der Vater geht, wenige Monate später gefolgt von seiner Ehefrau, als erster in die Niederlande. Anne und Ihre Schwester Margot bleiben zunächst bei der Großmutter in Aachen. In den neutralen Niederlanden, genauer in Amsterdam, finden sie Zuflucht. Bis zu Ihrem elften Lebensjahr wächst sie dort sicher und unbeschwert auf. Ab dem Jahre 1940 brechen schwere Zeiten für die Familie Frank an. Diese beginnen mit dem Angriff der Wehrmacht auf die Niederlande am 10. Mai 1940. Durch die zahlreichen Gesetze wird das Leben für die jüdischen Bürgerinnen und Bürger zunehmend erschwert. Am 6. Juli versteckt sich die Familie Frank in einem Hinterhaus in Amsterdam. Durch die Besetzung war es ihnen unmöglich geworden, das Land zu verlassen. Das Haus liegt an der Prinsengracht 263, dem Geschäftshaus, in welchem Annes Vater arbeitet. Außer der Familie Frank verstecken sich noch vier weitere Personen in diesem Haus. Dabei handelt es sich um Hermann van Pels, Auguste van Pels und Peter van Pels, die im Tagebuch den Nachnamen van Daan tragen. Auguste van Pels bekommt den Vornamen Petronella. Dazu kommt ferner Fritz Pfeffer, der im Tagebuch Albert Dussel heißt. Getarnt wird die Eingangstür zur Wohnung durch ein drehbares Bücherregal. Anne beginnt mit intensiven Aufzeichnungen, die sowohl das Leben in diesem Versteck wiedergeben, als auch tagespolitische Ereignisse. Im Mai 1944 beginnt sie mit der Reinschrift ihres Tagebuches, um es nach Ende des Krieges veröffentlichen zu können. Das „Tagebuch der Anne Frank“ endet mit dem letzten Eintrag am 1. August 1944. Am 4. August hält am frühen Vormittag ein Fahrzeug mit SS-Oberscharführer Silberhauer und drei Helfern der „Grünen Polizei“ vor dem Haus. Alle acht Versteckten werden verhaftet, auch die beiden Helfer Viktor Kugler und Johannes Kleimann. Die jüdischen Gefangenen kommen in die Konzentrationslager im Osten. Am 3. September werden sie nach Auschwitz deportiert. Anne und ihre Schwester Margot kommen schließlich nach Bergen-Belsen. Dort stirbt Anne Frank Ende Februar/Anfang März 1945, wenige Wochen vor der Befreiung des KZ, an Typhus. Ihr Todestag ist unbekannt.
Das Tagebuch der Anne Frank
Anne Franks Aufzeichnungen werden im Hinterhaus durch Mitarbeiter der dort ansässigen Firma gefunden. Annes Vater Otto Frank, der als einziger die Deportation überlebt hat, publiziert sie im Jahre 1947. Anne schildert hier sowohl das Leben im Versteck, als auch tagesaktuelle Ereignisse. „Kitty“ wird für sie eine Art Freundin, der sie offen auch sehr private Dinge erzählt. Ihre heimliche Liebe zu Peter van Pels gehört vielleicht zu den bewegendsten Abschnitten des Buches. Auch die Beziehung zu den Eltern wird thematisiert. Ihr Vater wird für sie zu einer großen Stütze im Alltag, der aufgrund der Enge des Hauses und der Vielzahl der Personen nicht konfliktfrei verläuft. Ihr Verhältnis zu den übrigen Erwachsenen ist schwierig. So glaubt Anne von allen bevormundet zu werden. Wie unterschiedlich die Beziehungen zu den Eltern sind und wie differenziert und negativ sie das Verhältnis zur Mutter sieht, zeigt der Eintrag vom 3. Oktober 1942. […] Gestern gab es wieder einen Zusamenstoß, und Mutter hat sich schrecklich aufgespielt. Sie hat Papa all meine Sünden erzählt und heftig angefangen zu weinen. Ich natürlich auch, und ich hatte sowieso schon schreckliche Kopfschmerzen. Ich habe Papi endlich gesagt, daß ich „ihn“ viel lieber habe als Mutter. Daraufhin hat er gesagt, daß das schon wieder vorbeigehen würde, aber das glaube ich nicht. Mutter kann ich nun mal nicht ausstehen, und ich muß mich mit Gewalt zwingen, sie nicht anzuschnauzen und ruhig zu bleiben. Ich könnte ihr glatt ins Gesicht schlagen. Ich weiß nicht, wie es kommt, daß ich eine so schreckliche Abneigung gegen sie habe. […] Ich kann mir auch gut vorstellen, daß Mutter mal stirbt. Aber wenn Papa stirbt, das könnte ich, glaube ich, nicht aushalten. […] 1
Auch die äußeren Lebensumstände sind schwierig. Das Essen wird zunehmend schlechter, sogar Mahlzeiten müssen eingespart werden. Die Tagesabläufe werden zur Routine. Alles das geht zu Lasten der Stimmung im Hause. Dazu kommen auch Zustände der Angst. Alle Bewohner müssen sich so verhalten, dass sie für Nachbarn und Arbeiter des Betriebes unsichtbar bleiben. Lärm verursachende Tätigkeiten dürfen nur zu bestimmten Tageszeiten vorgenommen werden. Das Donnern von Kanonen und Bomben verursacht zusätzlich Angstzustände. Unter diesen schwierigen Lebensumständen schafft Anne Frank in jugendlichem Alter ein Zeitzeugnis, das seines Gleichen sucht.
Nachwort
Das Tagebuch der Anne Frank war lange Zeit nicht unumstritten. So wurde nicht selten an der Echtheit des Dokuments gezweifelt. Erst im Jahre 2001 erschien eine vollständige Ausgabe mit Teilen des Originalmanuskripts, die der Vater, Otto Frank, aus Diskretion zurückgehalten hatte. Hierbei handelte es sich um Details aus Annes Intimsphäre und um Schilderungen, die den Charakter von Annes Mutter betreffen. Die publizierenden Verlage nahmen vor der Veröffentlichung grammatikalische und stilistische Veränderungen am Manuskript vor. Somit erschien der Text in einer Weise verfremdet, dass dem Leser Zweifel an der Authentizität kommen mussten, da er reifer erschien, als von einem Mädchen in diesem Alter zu erwarten ist. Die zahlreichen Übersetzungen taten ein Übriges. Trotz allem ist und bleibt das Tagebuch der Anne Frank ein Werk von nahezu einzigartiger Relevanz. Ein junges Mädchen hatte ein Zeitzeugnis geschaffen, mit dem sich heute nur noch die Tagebücher des Viktor Klemperer vergleichen können.
Autor: André Krajewski
Literatur
Barnouw, David: Anne Frank. Vom Mädchen zum Mythos. Düsseldorf 1999.
Benz, Wolfgang / Hermann Graml /Hermann Weiß: Enzyklopädie des Nationalsozialismus, München 1997.
Bouhuys, Mies: Anne, Kitty und die beiden Paulas. Bilder aus dem Leben Anne Franks, München 1994.
Frank, Anne: Tagebuch; Frankfurt am Main 1992.
Gies, Miep: Meine Zeit mit Anne Frank. Der Bericht jener Frau, die Anne Frank und ihre Familie in ihrem Versteck versorgte, sie lange Zeit vor der Deportation bewahrte – und doch nicht retten konnte; Bern, München, Wien 1987.
Gutman, Israel / Eberhard Jäckel / Peter Longerich (Hrsg.): Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden.: 4 Bde. München 1998
Lee, Carol Ann: Anne Frank. Die Biographie, München 2000.
Lindwer, Willy: Anne Frank: Die letzten sieben Monate. Augenzeuginnen berichten. Frankfurt/Main 1993.
Schnabel, Ernst: Anne Frank. Spur eines Kindes. Ein Bericht. Frankfurt/Main 1996.