Mythos und Wahrheit – der Theaterkritiker Alfred Kerr
Alfred Kerr, geboren als Alfred Kempner am 25. Dezember 1867 in Breslau (heute Wrocław, Polen), war eine herausragende Persönlichkeit in der literarischen Welt Deutschlands während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Als einflussreicher Theaterkritiker, Essayist und Schriftsteller prägte er maßgeblich die kulturelle Landschaft seiner Zeit.
Kerrs Karriere begann in den 1890er Jahren, als er für verschiedene Zeitungen schrieb. Seine Kritiken und Essays, bekannt für ihren scharfen Witz und ihre pointierte Sprache, machten ihn schnell zu einer bekannten Figur in der deutschen Literaturszene. Sein unverwechselbarer Stil, geprägt von Sarkasmus, Ironie und einer ausgeprägten Liebe zur Sprache, spiegelte sich in seinen Werken wider. Er wurde als einer der führenden Kritiker seiner Zeit anerkannt und war berüchtigt für seine unerbittlichen, aber oft treffenden Bewertungen.
Kerr war ein vehementer Verfechter der Moderne und unterstützte aktiv Schriftsteller und Künstler, die mit traditionellen Formen brachen. Er war ein früher Förderer von Dramatikern wie George Bernard Shaw und Gerhart Hauptmann und trug wesentlich zur Entwicklung des modernen Theaters bei. Seine Kritiken, die in Zeitungen wie dem „Berliner Tageblatt“ erschienen, waren oft kontrovers und lösten Diskussionen und Debatten aus.
Während des Ersten Weltkriegs änderte Kerr seinen Ton und wurde zu einem scharfen Kritiker der deutschen Kriegspolitik. Seine pazifistische Haltung brachte ihn in Konflikt mit nationalistischen Kreisen. In der Weimarer Republik setzte er sich für demokratische Werte und gegen den aufkommenden Nationalsozialismus ein. Seine Texte aus dieser Zeit zeichnen sich durch politisches Engagement und eine tiefe Sorge um die Zukunft Deutschlands aus.
Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 änderte sich Kerrs Leben dramatisch. Als Jude und offener Gegner des Nationalsozialismus war er unmittelbar von Verfolgung bedroht. Kerr emigrierte zunächst nach Frankreich und später nach Großbritannien. Im Exil setzte er seine schriftstellerische Tätigkeit fort und wurde zu einer wichtigen Stimme des deutschen Exils. Seine Werke aus dieser Zeit sind geprägt von Trauer um das verlorene Deutschland und der Analyse der Ursachen, die zum Aufstieg des Nationalsozialismus führten.
Alfred Kerr starb am 12. Oktober 1948 in Hamburg. Sein literarisches Erbe umfasst nicht nur seine zahlreichen Kritiken und Essays, sondern auch Gedichte und Briefe. Seine Arbeiten bieten einen tiefen Einblick in das kulturelle und politische Leben Deutschlands vom Kaiserreich bis zum Zweiten Weltkrieg. Kerr bleibt eine Schlüsselfigur für das Verständnis der deutschen Literatur- und Kulturgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts.
Literatur
Deborah Vietor-Engländer: Alfred Kerr. Die Biographie. Rowohlt, Reinbek 2016.
Hubertus Schneider: Alfred Kerr als Theaterkritiker. 2 Bände. Schäuble, Rheinfelden 1984.
Joseph Chapiro: Für Alfred Kerr: Ein Buch der Freundschaft. S. Fischer, Berlin 1928.
Deutschlandfunk-Beitrag: Alfred Kerr – ein Theaterkritiker mit aufrechtem Gang
Marcel Reich-Ranicki: Alfred Kerr – Der kämpfende Ästhet. In: Die Anwälte der Literatur. dtv, München 1996, S. 130–143.
Renate Heuer: Kerr, Alfred. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 11, Duncker & Humblot, Berlin 1977.
Siegfried Jacobsohn: Der Fall Kerr. [1911]. In: Siegfried Jacobsohn: Gesammelte Schriften. Band 2. Wallstein, Göttingen 2005, S. 119–124.