Der Theaterkritiker Alfred Kerr (Alfred Kempner) in Weimarer Republik und Exil
Kindheit und Ausbildung
Alfred Kerr, geboren als Alfred Kempner, wurde 1867 in Breslau, einer Stadt, die damals zum Deutschen Reich gehörte, geboren. Sein Vater Emanuel Kempner war jüdischer Herkunft und Alfred wuchs in einem wohlhabenden und gebildeten Haushalt auf. Schon früh zeigte sich sein literarisches Talent, und er entschied sich für ein Studium der Philosophie und Germanistik.
Während seines Studiums in Berlin und Breslau, schrieb er eine Dissertation über die Jugenddichtung Clemens Brentanos, die den Grundstein für seine spätere Karriere legte. Diese Dissertation mit dem Titel „Jugenddichtung Clemens Brentanos“ war ein bedeutender Beitrag zur Germanistik und zeigte Kerrs tiefes Verständnis für die deutsche Romantik.
Der Weg zur Theaterkritik
Kerrs Karriere als Theaterkritiker begann 1893, als er für die „Breslauer Zeitung“ schrieb. Kurz darauf zog er nach Berlin, wo er für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften arbeitete, darunter die „Königsberger Allgemeine Zeitung“ und das „Berliner Tageblatt“. Seine Theaterkritiken waren bekannt für ihre Schärfe und ihren Witz. Kerr war ein Meister der Kritik und seine Worte hatten großes Gewicht in der Theaterwelt.
In Berlin arbeitete Kerr auch für die „Vossische Zeitung“ und die „Frankfurter Zeitung“. Seine Kritiken waren nicht nur analytisch und tiefgründig, sondern auch oft polemisch. Er setzte sich besonders für neue und experimentelle Theaterformen ein und unterstützte junge, talentierte Schauspieler und Regisseure. Über den jungen Bertolt Brecht schrieb er beispielsweise: „Er ist einer der besten jungen Schauspieler seiner Generation.“
Literarische Werke und Engagement
Neben seinen Theaterkritiken verfasste Kerr auch zahlreiche literarische Werke. Zu seinen bekanntesten Büchern gehören „Welt im Drama“, „Briefe aus der Reichshauptstadt“, „Mensch in Berlin“ und „Briefe eines europäischen Flaneurs“. Diese Werke spiegeln seine umfassende Kenntnis der Literatur und seine kritische Sicht auf die Gesellschaft wider.
Kerrs Engagement ging jedoch über die reine Literatur hinaus. Er war ein scharfer Kritiker der politischen Entwicklungen in Deutschland und setzte sich vehement gegen den aufkommenden Nationalsozialismus ein. Bereits im Februar 1933, kurz nach der Machtergreifung Hitlers, sah er die Gefahr, die von der neuen Regierung ausging.
Flucht ins Exil
Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Jahr 1933 musste Alfred Kerr Deutschland verlassen. Seine jüdische Herkunft und seine kritische Haltung gegenüber dem Regime machten ihn zu einem der ersten prominenten Intellektuellen, die ins Exil gezwungen wurden. Gemeinsam mit seiner Frau Julia Weismann und seinen Kindern Judith und Michael floh er zunächst nach Prag. Dann kam nach England.
In England setzte Kerr seine Arbeit fort, obwohl die Bedingungen im Exil oft schwierig waren. Er schrieb weiterhin Theaterkritiken und arbeitete für verschiedene Exilzeitungen. In dieser Zeit entstanden auch seine autobiografischen Werke „Hitler, das rosa Kaninchen stahl“ und „Schleuder und Harfe“, die von den Herausforderungen und Entbehrungen des Exils berichten.
Leben und Werk in England
In England fand Kerr eine neue Heimat, doch das Exil war nicht einfach für ihn. Die Trennung von seiner Heimat und der Verlust vieler Freunde und Kollegen hinterließen tiefe Spuren. Dennoch blieb er als Literat und journalistisch aktiv. 1935 zog er nach London, wo er sich schnell in die Exilgemeinde integrierte.
Seine Tochter Judith Kerr, die später selbst eine erfolgreiche Schriftstellerin wurde, erinnert sich in ihren Erinnerungen daran, wie schwer es für die Familie war, sich in der neuen Umgebung einzuleben. Alfred Kerr jedoch gab nie auf und setzte sich weiterhin für die deutsche Kultur und Literatur ein.
Rückkehr und Späte Jahre
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kehrte Kerr 1947 nach Deutschland zurück. Er wollte das zerstörte Land und die Überlebenden der NS-Zeit sehen und seine Arbeit fortsetzen. Doch die Rückkehr war schwierig. Viele seiner ehemaligen Kollegen und Freunde waren tot oder im Exil geblieben, und das Deutschland, das er vorfand, war nicht mehr das, das er verlassen hatte.
1948 erkrankte Kerr schwer. Ein Schlaganfall setzte seiner Tätigkeit ein abruptes Ende. Dennoch blieb er bis zu seinem Tod am 12. Oktober 1948 in London ein unermüdlicher Kämpfer für die Freiheit und die Kultur.
Alfred Kerrs Vermächtnis
Alfred Kerrs Leben und Werk sind ein bedeutendes Kapitel der deutschen Literatur- und Theatergeschichte. Seine scharfsinnigen und oft provokanten Kritiken haben das deutsche Theater nachhaltig beeinflusst. Seine Werke „Deutsche Landschaften“, „Menschen und Städte“ und „Erstrittenes und Durchlebtes“ sind wichtige Dokumente ihrer Zeit und bieten einen tiefen Einblick in die politischen und kulturellen Entwicklungen des frühen 20. Jahrhunderts.
Sein Kampf gegen den Nationalsozialismus und sein Einsatz für die Freiheit des Geistes machen ihn zu einem Vorbild für kommende Generationen. Seine Kinder, Judith und Michael Kerr, setzten sein Erbe fort und trugen seinen Namen und seine Ideale in die Welt hinaus.
Der Theaterkritiker Alfred Kerr
Als Theaterkritiker war Alfred Kerr unvergleichlich. Seine Rezensionen und Glossen für den „Berliner Rundfunk“ und andere Publikationen waren gefürchtet und geliebt zugleich. Er hatte ein feines Gespür für literarische Qualität und scheute sich nicht, auch berühmte Autoren und Regisseure wie Gerhart Hauptmann und Bertolt Brecht zu kritisieren.
Sein Stil war geprägt von einer brillanten Rhetorik und einem scharfen Verstand. Karl Kraus, ein Zeitgenosse und ebenfalls ein bedeutender Kritiker, schrieb über ihn: „Kerr ist ein Mann der Worte, ein Sucher und ein Seliger der deutschen Literatur.“
Schlussbetrachtung
Alfred Kerrs Leben war geprägt von großen Erfolgen und tiefen Einschnitten. Sein Beitrag zur deutschen Theaterkritik und Literatur ist unbestritten. Seine Werke sind nicht nur als Literatur wertvoll, sondern auch wichtige Zeugnisse einer bewegten Zeit. Sein Engagement für die Freiheit des Geistes und sein unermüdlicher Kampf gegen die Unterdrückung machen ihn zu einer herausragenden Figur der deutschen Geschichte.
Literatur
Deborah Vietor-Engländer: Alfred Kerr. Die Biographie. Rowohlt, Reinbek 2016.
Hubertus Schneider: Alfred Kerr als Theaterkritiker. 2 Bände. Schäuble, Rheinfelden 1984.
Joseph Chapiro: Für Alfred Kerr: Ein Buch der Freundschaft. S. Fischer, Berlin 1928.
Deutschlandfunk-Beitrag: Alfred Kerr – ein Theaterkritiker mit aufrechtem Gang
Marcel Reich-Ranicki: Alfred Kerr – Der kämpfende Ästhet. In: Die Anwälte der Literatur. dtv, München 1996, S. 130–143.
Renate Heuer: Kerr, Alfred. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 11, Duncker & Humblot, Berlin 1977.
Siegfried Jacobsohn: Der Fall Kerr. [1911]. In: Siegfried Jacobsohn: Gesammelte Schriften. Band 2. Wallstein, Göttingen 2005, S. 119–124.