Uwe Ullrich: Zur Geschichte der Juden in Dresden, Dresden 2001.
Der 62 Seiten umfassende Band erhebt keinen Anspruch, eine vollständige Geschichte der Dresdner Juden präsentieren zu wollen. Vielmehr geht es dem Autor, dem bekannten Dresdner Publizisten Uwe Ullrich, darum, entscheidende Spuren und Stationen dieser Geschichte sichtbar zu machen. Insofern handelt es sich bei dieser Abhandlung eher um „Streifzüge“ durch eine facettenreiche und spannende Geschichte, die mit der ersten „Judenordnung“ des Meißnischen Territorialfürsten im Jahr 1265 einsetzt und mit der Grundsteinlegung der neuen Synagoge in Dresden im Jahre 2000 endet. Ullrichs Anliegen wird bereits an markanter Stelle des Bandes verdeutlicht: „Wenn man über den Alten Jüdischen Friedhof in Dresden-Neustadt geht, stellt man fest, dass der überwiegende Teil der Grab(sand)steine so verwittert ist, dass die ursprünglichen Inschriften und Zeichen nicht mehr zu erkennen bzw. zu deuten sind. Ähnlich verhält es sich mit der Geschichte des jüdischen Lebens in dieser Stadt. Diese der Vergessenheit zu entreißen und einen Beitrag zur Erinnerung an jene zu leisten, die teilweise für die Entwicklung der Stadt maßgeblich waren und die uns in Gestalt von Straßennamen hin und wieder begegnen, dazu soll dieses Buch einen Beitrag leisten.“
In seinem „Streifzug“ durch die jüdische Geschichte Dresdens stützt sich Ullrich sowohl auf Forschungen Adolf Diamants, Simone Lässigs oder Nora Goldenbogens als auch auf die Tagebücher Victor Klemperers und eigene Untersuchungen. Der Band selbst hat eine längere Vorgeschichte: Bereits im Jahre 1988 veröffentlichte Ullrich eine Artikelserie zum Thema im damaligen liberaldemokratischen „Sächsischen Tageblatt“. Obwohl in der DDR der zweiten Hälfte der 1980er Jahre eine Öffnung hin zu jüdischen Themen stattfand, wurde die Artikelserie aus politischen Gründen nur gekürzt in den Druck gegeben. Genau zehn Jahre später widmete sich Ullrich erneut dem Thema und veröffentlichte nun im „Ökumenischen Wegweiser Dresden“ eine zweite Artikelserie zur Geschichte der Dresdner Juden, die in den Jahren 2000 und 2001 von der auflagenstarken ortsansässigen „Sächsischen Zeitung“ in leicht veränderter Form übernommen wurde. Bei dem Autor handelt es sich also keineswegs um einen „Konjunkturritter“, der nur auf fahrende Züge aufspringt. Die Entstehungsgeschichte des Werkes wie auch die starke emotionale Anteilnahme Ullrichs am Schicksal der Dresdner Juden sprechen hier eine eigene Sprache.
Dass der vorliegende Band auf journalistischen Vorarbeiten beruht, wird an verschiedenen Punkten deutlich: So ist z.B. die Einheitlichkeit des Textes nicht durchweg gegeben; und die fehlenden Quellennachweise im Text versucht der Autor mit dem Abdruck eines ausführlichen Quellen- und Literaturverzeichnisses abzufedern. Solche geringfügigen Einwände – wie auch der Hinweis darauf, dass die NS-Zeit fast die Hälfte des Textes beinhaltet – können jedoch den Gehalt des Bandes nicht wirklich schmälern. Der vor allem für Multiplikatoren geschriebene Text bietet immer wieder interessante Einblicke in die Welt des Dresdner jüdischen Lebens.
So erfährt der Leser, dass Juden bereits um 1300 eine Synagoge und einen „Judenhof“ in Dresden nutzten. Er erfährt zudem vom ersten großen Autodafé nur 50 Jahre später, als „die“ Juden für das Wüten der Pest verantwortlich gemacht wurden. Geschildert wird weiterhin die Rolle von Juden als „Geldverleiher“ im 14. und 15. Jahrhundert sowie erneute Verfolgungen, die der Kurfürst deshalb anordnete, um durch schlichten Raub die „erschöpften Finanzen wieder auf die Beine“ zu stellen (S. 10). Ausführlich gewürdigt wird die bedeutende Rolle des Dresdner „Hofbankiers“ Behrend Lehmann, der sowohl 1697 als auch 1703 dem Kurfürsten August dem Starken den polnischen Thron finanzierte. Gleichfalls erörtert wird der „Aufbruch zur bürgerlichen Gleichberechtigung“, die auch den Dresdner Juden ab 1838 per Gesetz (aber mit zahlreichen Einschränkungen) zugestanden wurde, und die mit dem Bau der berühmten Synagoge Gottfried Sempers 1840 einen ersten großen Höhepunkt erfuhr. Auch auf die „besondere Rolle“ der Dresdner jüdischen Privatbanken für die „industrielle Revolution“ (S. 25) weist der Autor ausdrücklich hin.
Dass die jüdische Gemeinde der Stadt, die von etwa 800 Juden (1763) auf ca. 3000 stieg (1900), trotz – oder gerade wegen (?) – der zahlreichen Integrations- und Assimilationsbestrebungen immer häufiger zur Zielscheibe „moderner“, nämlich antisemitisch-rasssebiologischer Hetzkampagnen wurde, beschreibt Ullrich ausführlich; ebenso den „Weg in den Abgrund“, der für die jetzt 6000 (1932) jüdischen Mitbürger nach Hitlers Machteroberung ständig steigende Leiden, Ausgrenzungen und Verfolgungen mit sich brachte. Die scharfmacherische Rolle Martin Mutschmanns, des sächsischen NS-Gauleiters, hebt Ullrich zu Recht hervor: Der militante Antisemit hatte beispielsweise im Januar 1938 eine Kundgebung in Dresden vor 2000 Funktionären anberaumt, in der eine „umfassende Abrechnung mit dem Judentum“ verlangt wurde. Mutschmann selbst forderte in seiner Rede, die den Auftakt für eine gesamtsächsische antisemitische Propagandawelle bildete, ein „Freimachen von der jüdischen Weltpest“ (S. 35). Die also nicht nur von Berliner Entscheidungszentren in Gang gesetzte Verfolgung und Ermordung der Juden führte in Dresden zu ihrer fast vollständigen Auslöschung: Von den ehemals 6000 Dresdner Juden emigrierten bis 1940 ca. 2000, weitere 1300 wurden in die Vernichtungslager deportiert, das Schicksal von 2700 jüdischen Menschen blieb „bisher unbekannt“ (S. 37). Nur 12 Dresdner Juden „begrüßten den 8. Mai 1945 als Tag der Befreiung vom Faschismus“ (S. ebd.). Die berühmte Semper-Synagoge war bereits im November 1938 in Flammen aufgegangen.
Die Zeit nach 1945 wird von Ullrich nur knapp abgehandelt: So erscheint die Ära des Neuaufbaus der Gemeinde, die erneuten Verfolgungen durch die Kommunisten nach 1950 und die Zeit der jüdischen Konsolidierung im Gefolge der friedlichen Revolution von 1989/90 nur schemenhaft. Als bemerkenswert darf hingegen die Veröffentlichung eines Interviews mit Frau Dr. Hadwig Klemperer, der zweiten Ehefrau des großen jüdischen Romanisten und Holocaust-Überlebenden gelten, das einiges vom Denken und Fühlen eines direkt Betroffenen deutlich werden lässt (S. 48-57). Ihre Ausführungen runden die „Streifzüge“ in würdiger und angemessener Weise ab.
Angesichts der gerade erst veröffentlichten Arbeiten über die Geschichte der Dresdner und sächsischen Juden (vor allem von Simone Lässig) wäre es sehr zu wünschen, dass der vorliegende schmale Band eine Aktualisierung und Erweiterung erfährt, um – auf neuestem Stand operierend – dem immer wieder aufflackernden Antisemitismus etwas entgegensetzen zu können, was auch für einen größeren Kreis von Lesern schnell und anschaulich rezipiert werden kann. Der bisherige Aufbau des Werkes (leicht überschaubare Kapitel, gut ausgewähltes Bildmaterial, eine Zeittafel und ein Verweis auf weiter führende Literaturen) käme jedenfalls einem solchen Anliegen sehr entgegen.
Autor: Dr. Mike Schmeitzner
Uwe Ullrich: Zur Geschichte der Juden in Dresden (Reihe Geschichte und Geschichten), Dresden 2001.