Ein Lehrstück zur Souveränität polnischer Zeitgeschichtler
Vorbemerkung: Die folgenden Zeilen gelten einem polnischen Buch, das 2012 in Poznań (Posen) erschien und in Polen ein (verdienter) Riesenerfolg war. Unsere intelligenten Nachbarn hinter Oder und Neiße verfügen nun einmal über einen intellektuellen Witz, der uns Deutschen mehr oder minder abgeht und der im nachfolgend besprochenen Buch in vollem Licht funkelt: Die Polen (schreibt Autor Piotr Zychowicz, Starjournalist und studierter Historiker) haben Hitler und Stalin über den Tisch gezogen und so im Alleingang den Zweiten Weltkrieg gewonnen. Ich war begeistert und bot der Zeitschrift „Osteuropa“ eine Rezension an, wobei ich „starken Tobak“ avisierte. „Osteuropa“ willigte umgehend ein, ich schrieb den nachfolgenden Text – den die Redaktion erst einmal zwei Jahre links liegen ließ, um ihn am Ende mit fadenscheinigen Argumenten („wir bauen den Rezensionsteil ab“) abzulehnen. Da haben sich offenkundig deutsche Osteuropa-„Experten“ den polit-korrekten Kopf zerbrochen, sich für den polnischen Autor „geschämt“ und ein etwaiges deutsches Echo durch Verzögerung der Rezension sabotiert.
Piotr Zychowicz: Pakt Ribbentrop – Beck czyli jak Polacy mogli u boku III Rzeszy pokonać Związek Sowiecki (Der Pakt Ribbentrop – Beck oder: Wie die Polen auf Seiten des III. Reichs die Sowjetunion überwinden konnten), Verlag Rebis, Poznań 2012, 360 S., 39.90 zł
Hat ein Land im Zweiten Weltkrieg größere Verluste erlitten als Polen? Autor Zychowicz (*1980), in Warschau ausgebildeter Historiker und Journalist bei der angesehenen Tageszeitung „Rzeczpospolita“, verneint die Frage und gibt in seinem Buch nur wenige Stichworte zur Erinnerung: Millionen Tote, Zerstörungen, KZs, „Generalgouvernement“, Katyń, enorme Territorial- und Bevölkerungsverluste im Zuge einer „vierten Teilung Polens“. Diese Liste füllt drei, vier Seiten (von über 360) und dient auch nur als Ouvertüre zu Zychowiczs (bereits im Buchtitel enthaltener) These, dass Polen an seinem Unglück selber schuld war, weil es nicht als Partner Hitlers dessen siegreichen „Feldzug“ gegen die verhassten Russen mitgemacht hat. Das wird in beeindruckender Faktenkenntnis und phantasievoller Akribie dargelegt, mutet aber an, als triebe hier jemand mit Entsetzen Scherz und riefe dazu „Jetzt alle: Klatschmarsch!“
Natürlich hat es nie einen „Pakt Ribbentrop – Beck“ gegeben, aber es hätte einen geben sollen! Im Deutschen Rundfunkarchiv (DRA) ist ein Mitschnitt der Reichstagssitzung vom 21. Mai 1935 archiviert, in der Parlamentspräsident Göring alle Abgeordneten aufforderte, sich zur Totenehrung für Józef Piłsudski zu erheben: „Das deutsche Volk (…) steht in tiefer Teilnahme am Grabe des großen Marschalls der uns befreundeten polnischen Nation“. Ein lebender Piłsudski, so Zychowicz in Übereinstimmung mit anderen polnischen Historikern, hätte den polnischen „Don Quichotte“, Außenminister Józef Beck, vor „fatalen Irrtümern“ bewahrt. Der Marschall wollte um jeden Preis den Krieg mit Hitlers Deutschland vermeiden, denn der „hätte das Ende des polnischen Staates bedeutet“, während die „perfiden Regierungen“ Frankreichs und Englands Polen täuschten und einen deutsch-sowjetischen Krieg förderten, während Stalin nach Rache für 1920 gierte, „als wir (Polen) ihm das Messer an den Hals setzten“. Zychowiczs Buch ist mit zeitgenössischen Bildern und Karikaturen reichlich garniert, die alle eines bezeugen: Polen war damals Deutschlands „Vielliebchen“, und hätte Warschau Piłsudskis Kurs fortgesetzt… Der Leser kommt ins Träumen.
Aber Beck setzte auf Paris und London und schlug das (noch maßvolle) Angebot Deutschlands aus, Danzig zurückzugeben und eine Autobahn durch den „Korridor“ zu bauen. Dadurch wurde Polen in den Krieg gezogen, aber wäre es auf deutsche „Offerten“ eingegangen, hätte es auch an Hitlers Seite am Krieg teilnehmen müssen. Na und? Das wäre zwar ehrenrührig gewesen, hätte dem Land aber (mindestens) zwei weitere Jahre Frieden beschert, ihm danach die einstigen Sowjetrepubliken Weißrussland und Ukraine, Teile der historischen polnischen „Rzeczpospolita“, zurückgegeben und Polen zur machtvollen Föderation in Osteuropa gemacht. Die Polen waren und blieben „extrem antideutsch“, aber den „bekennenden Antikommunisten“ Hitler akzeptierten sie als „seelenverwandt“. Und sollten sie etwa „wie die Tschechen enden“, diese stets verachteten Feiglinge?
Der Krieg wäre für Polen in zwei Etappen abgelaufen: 1939 – 1941 Polen hält Deutschland den Rücken frei, während dieses im Westen gegen England und Frankreich kämpft. Ab 1941 hätte Polen dann am siegreichen Feldzug gegen die UdSSR teilgenommen, der das kommunistische Regime und sein Gebiet zerschlagen hätte: Polen kriegt Ukraine, Rumänien Odessa, Finnland Karelien und Japan ganz Sibirien. Stalin erschießt sich, seine Kumpane aus der Parteiführung stehen „in Petersburg“ vor Gericht, seine Geheimdienstler fliehen unter Mitnahme von „Lenins Mumie“ (die sich auch noch auf dem Bahnhof verlieren), und auf dem Moskauer Roten Platz marschieren polnische und deutsche Truppen in einer Siegesparade, bei der Hitler die Festrede hält (unter Verwendung authentischer Stalin-Worte): „Wir werden siegen, denn unsere Sache ist gerecht!“
Vermutlich macht gerade solch antirussischer Hohn den Erfolg des Buchs im In- und Ausland aus. Seit November 2012 wurde es in der „Angora“, dem Wochenblatt für die polnische „Diaspora“, nachgedruckt, und in Polen hat es Zychowiczs (lesenswerter) Geschichtszeitung „Historia“ weiteren Auftrieb verschafft. Der Tenor dort ist derselbe wie im Buch: Die Polen haben in den späten 1930-er Jahren dem Westen vertraut und das war eine selbstmörderische Dummheit! Zychowicz mag den Westen nicht, er gehört zu jenen polnischen Streitern, die fuchsteufelswild auf westliche Politiker und Autoren reagieren, wenn diese gedankenlos von „polnischen KZs“ reden und damit Auschwitz, Sobibor, Stutthof u.a. meinen.
Aber Zychowiczs Buch ist nicht antiwestlich, ganz im Gegenteil findet er eine elegante Lösung für den Gewissenskonflikt des Hitler-Verbündeten Polen. Hätte Deutschland Juden und sowjetische Kriegsgefangene etwas menschlicher behandelt, wäre Polen mit seinem Alliierten ganz zufrieden gewesen. So aber wurde seine schlechte Gesellschaft erst richtig schlecht, und darum verhandelte es ab Anfang 1944 „im neutralen Lissabon“ mit England und USA, avancierte zum „wymarzony sojusznik Zachodu“ (Traumpartner des Westens), bekam weitreichende Garantien und wechselte die Seiten. Polen siegte an der Ostfront, „eroberte Königsberg, Allenstein und Danzig“, Hitler erschoss sich vor anrückenden Polen und am „Ende gewannen wir den Krieg“.
Autor: Wolf Oschlies