Politik und Wissenschaft in der prähistorischen Archäologie. Perspektiven aus Sachsen, Böhmen und Schlesien (Berichte und Studien Nr. 56), hrsg. von Judith Schachtmann, Michael Strobel und Thomas Widera, V&R unipress, Göttingen 2009.
Der Vorbereitung eines gemeinsamen Forschungsprojektes diente eine im November 2007 stattgefundene Arbeitstagung. Vorliegender Sammelband ist das Ergebnis des in Kooperation vom Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung und vom sächsischen Landesamt für Archäologie initiierten Diskussionskreises. Für den Vergleich zwischen verschiedenen politischen Gesellschaftssystemen und benachbarten Regionen, welche im 20. Jahrhundert unterschiedliche Entwicklungen nahmen, konnten Wissenschaftler aus Polen und Tschechien gewonnen werden. Mit der Problemstellung „betritt die Forschung Neuland“, betonen im gemeinsamen Geleitwort die (amtierenden) Direktoren beider Einrichtungen.
Es dürfte keine Wissenschaft, welche mindestens seit Beginn des vergangenen Jahrhunderts etabliert war, im deutschsprachigen Kulturraum existieren, die nicht in die Turbulenzen der nationalsozialistischen Ära und in die Legendenbildung nach Ende des Zweiten Weltkrieges verstrickt gewesen ist. Zu den für deutsch-völkische, biologistisch-rassistische und schließlich ideologische Zwecke instrumentalisierten Wissenschaften gehörte auch die prähistorische Archäologie. Sie konnte länger als vier Dezennien ihr Selbstbild mit der Unterteilung in eine missbrauchte, „befleckte“ und eine „saubere“ Wissenschaft in der öffentlichen Wahrnehmung aufrechterhalten. Weshalb dieses Erscheinungsbild so lange aufrechterhalten werden konnte, verfolgte FREDERICK JAGUST (Berlin) über mehrere Handlungsstränge.
Einer der Ausgangspunkte für diese sagenhafte Erzählung liegt in einer auf der im Juni 1949 verabschiedeten Resolution des Verbandes für Altertumsforschung, die „sich in aller Form von einer Forschungsrichtung distanzierte, wie sie vom ehemaligen Führer des Reichsbundes für deutsche Vorgeschichte der NSDAP, Prof. Dr. Hans Reinerth, propagiert worden ist“ (S.285). Einem einzelnen Mann, seit 1939 Leiter der Abteilung Vorgeschichte im Amt Rosenberg, gaben die Fachkollegen Schuld für die augenscheinliche Instrumentalisierung der Ur- und Frühgeschichte. Die zu Beginn der siebziger Jahre veröffentlichten Arbeiten von Reinhard Bollmus [1] über das Amt Rosenberg und Michael H. Kater [2] über das „Ahnenerbe“ der SS führten unfreiwillig (unkritische Befragung von Zeitzeugen) die Legendenbildung fort. Erst nach der deutschen Vereinigung 1990 begann eine anfangs zögerliche, differenzierte Aufarbeitung der Vorgeschichtsforschung im Dienst des Dritten Reiches. Jagust analysiert sorgfältig Erklärungs- und Argumentationsmuster, die zur lange gehegten Annahme führten, die Vorgeschichtsorganisation der SS sei „quasi als Schutzraum für verfolgte, aber fachlich kompetente Archäologen“ (S. 288) geworden. Anhand zahlreicher Beispiele weist er nach, dass das Refugium praktisch nicht bestanden hat. Die „Verfolgten“ dienten sich entweder dem Reichsführer SS aus weltanschaulicher Übereinstimmung oder opportunistischem Grund an. Beweggründe sind unter anderem die Aussicht auf Freistellung vom aktiven Kriegsdienst, auf nationale und internationale fachliche Anerkennung, Sicherung von gutem Arbeitsplatz und Einkommen sowie vielversprechende Zukunftsperspektiven. Wenn sich humanistisch geschulte Akademiker dem opportunen Zeitgeist einer Diktatur beugen, bejahen sie in letzter Konsequenz das Regime. Eine wieder von beiden Institutionen ausgerichtete Tagung [3] im September 2009 widmete sich konkret Lebensläufen von Prähistorikern, welche aktiv an der Legendenbildung über die Rolle und Bedeutung der „Weltanschauungswissenschaft“ im Dritten Reich beteiligt waren.
Dieses nationalsozialistische Gedankengut breitete sich in den deutschsprachigen Gebieten und in der Hauptstadt Prag der benachbarten Tschechoslowakei aus. „Von Einfluss waren die in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückreichenden Spannungen zwischen den sozial gehobenen Prager Deutschen, traditionell liberal und häufig deutschsprachige Prager Juden, und den oftmals weit weniger wohlhabenden Deutschen aus der Provinz, unter denen sich seit der Jahrhundertwende das deutschvölkische Ideengut ausgebreitet hatte“ (S.75). Über die ideologische Unterwanderung der Prager Universität und der Sudetendeutschen Anstalt für Landes- und Volksforschung in Reichenberg (Liberec) berichtete OTA KONRAD (Prag) ausführlich, detailreich und differenziert. Er schildert Auseinandersetzungen verschiedener Fachgebiete über die Frage, wie man sich zum Staat verhalten und welche Orientierung der Wissenschaftsbetrieb nehmen soll: staatstreu oder reichsdeutsch. Konrad verweist auf eine Geschichtsschreibung, die in ihrer Konzeption von einem deutschen Gesamtvolk und seiner außerhalb der Reichsgrenzen lebenden deutschsprachigen Minderheit ausgeht. Der Begriff Sudetendeutscher wurde zu einer einheitlichen Bezeichnung für die Deutschen in Böhmen, Mähren und Schlesien, die „zu einer gesamtsudetendeutschen Kultur zusammenwächst, ein unlöslicher Teil der deutschen Gesamtkultur, damit Westeuropa ist“ (S.79).
JARMILA KACZMAREK (Poznań) referiert in ihrem Beitrag über die Archäologie in Polens Westteil, der zwischen 1918 und 1945 zu verschiedenen Staaten (Preußen, Polen, Deutsches Reich) gehörte. Die Archäologie blickte hier auf eine lange deutsche und polnische Tradition zurück. Da die beiden Gruppierungen staatlicherseits nicht gleichberechtigt behandelt wurden, entstanden getrennte wirtschaftliche und kulturelle Institutionen. „So gab es häufig Streit um die Anzahl der übernommenen Fundobjekte, die beweisen sollten, dass die Provinz Posen schon seit Jahrhunderten von polnischer oder von deutscher Bevölkerung besiedelt worden war“ (S.252). War man sich anfangs über den slawischen Ursprung der Besiedlung einig, so begann gegen Ende des 19. Jahrhunderts, die Vertreibung der Polen aus der Provinz Posen wurde angestrebt, die Suche nach germanischen Spuren. Mit der Gründung der polnischen Republik war eine neue politische Situation entstanden und fast alle bisherigen Einrichtungen deutscher Archäologie aufgelöst oder polonisiert. Während der Zwischenkriegszeit vollzog die Posener Archäologie einen enormen Qualitätssprung, wie Frau Kaczmarek überzeugend nachweist und begründet: rasche Entwicklung der Institutionen und des Museumswesens, der Ausgrabungsverfahren und Geländeforschungen, …. Mit dem Überfall deutscher Truppen im September 1939 wurde die kontinuierliche wissenschaftliche Arbeit polnischer Prähistoriker beendet. Jetzt sollte Poznań das archäologische Hauptzentrum zwischen Königsberg und Wien und der nationalsozialistischen Kulturpolitik werden. Während der Katalogisierung konfiszierter polnischer Kulturgüter „unterliefen den Wissenschaftlern, die sich in dieser Zeit mit ihnen fremden Kulturgebieten beschäftigten, viele Fehler“ (S.258).
Welche Wege die Institutionalisierung der Bodendenkmalpflege in Sachsen 1918 bis 1945 nahm, überblickte MICHAEL STROBEL (Dresden) in seinem Beitrag. Eingangs verweist er darauf, dass Kultur und Bildung Ländersache sind und die Entwicklung des Faches immer „in starker Abhängigkeit von politischen und wirtschaftlichen Konstellationen“ (S. 169) ist. Zu Beginn der Weimarer Republik führte die Archäologie ein behördliches Nischendasein. Erst ab Mitte der Zwanziger Jahre erfahren Burgwallgrabungen und verschiedene archäologische Fundorte die notwendige offiziöse Aufmerksamkeit und Förderung. Die gehegte Disharmonie zwischen der Dresdner Zentralstelle und Bautzen, wo die Gesellschaft für Vorgeschichte und Geschichte der Oberlausitz ihren Sitz hatte, blieb erhalten. Hier wirkte sich das Fehlen eines Denkmalschutzgesetzes, – was auf Privatgrund gefunden wurde, teilten sich Eigentümer und Finder; zur Meldung war niemand verpflichtet – auf Sammlungs- und Grabungspraxis von Museum und Archiv negativ aus. „Massive Quellenverluste in den Braunkohletagebauen Nordwestsachsens“ (S. 179) sind gleichfalls zu verzeichnen. Eine Änderung der Verhältnisse trat erst nach 1933 ein, nachdem das „Heimatschutzgesetz“ verabschiedet worden war. Die Gründung des selbständigen Landesmuseums für Vorgeschichte erfolgte 1938. Für die archäologische Denkmalpflege kann Michael Strobel konstatieren, dass die „weltanschauliche Leitwissenschaft des Nationalsozialismus“ im Gau Sachsen „ungleich weniger profitierte“ als andere, „da ‚SS-Ahnenerbe’ und das Amt Rosenberg“ es umgingen, „aus Gründen, die auf höchster Führungsebene zu suchen sein dürften. Gauleiter Martin Mutschmann verbat sich ‚eine Einmischung Berliner Stellen in die Arbeit’ der sächsischen Vorgeschichtsforschung“ (S.192).
Überzeugend weisen die Texte des Sammelbandes nach, dass die prähistorische Archäologie in den Grenzregionen des Freistaates Sachsen Ausgangsbasis nationaler Geschichtsschreibung war. Sie diente der „Legitimierung“ von territorialen Ansprüchen und leistete verhängnisvoll als Argumentationshilfe „wertvolle“ politische Hilfe. Die Beiträge geben beredten Überblick, wie man Wissenschaft instrumentalisiert und damit missbraucht hat. Dass Vorgeschichte nur ein Bestandteil, neben Literaturwissenschaft, Slawistik, .., dafür sein kann, ist das Fazit, welches aus der Lektüre zu ziehen ist.
Autor: Uwe Ullrich
Politik und Wissenschaft in der prähistorischen Archäologie: Perspektiven aus Sachsen, Böhmen und Schlesien (Berichte Und Studien Nr. 56), hrsg. von Judith Schachtmann, Michael Strobel und Thomas Widera, V&R unipress, Göttingen 2009. – 344 S. (ISBN: 978-3-89971-741-9, Preis: 41,90 Euro)
Anmerkungen
[1] REINHARD BOLLMUS, Das Amt Rosenberg und seine Gegner. Studien zum Machtkampf im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, Stuttgart 1970.
[2] MICHAEL H. KATER, Das „Ahnenerbe“ der SS 1935-1945. Ein Beitrag zur Kulturpolitik des Dritten Reiches, München 42006.
[3] siehe >http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=2866>