Wer war eigentlich Jude? – Eine Frage an Shoa.de und der Versuch einer Antwort[1]
Wer war eigentlich Jude? – 2005/09/24 05:51 Bei einer unserer letzten Diskussionen stellte ich die Frage:“ Woher wussten die Nazis eigentlich,wer Jude war und wer nicht?“ Und keiner wusste ein Antwort….
Es stand doch niemanden auf der Stirn. Vielleicht gab es Mitgliedslisten einer jüdischen Gemeinde, oder wurden fast alle von ihren Nachbarn verraten und gemeldet? Gab es irgendeine „Überprüfung“ oder wie kann man sich das vorstellen?
Es gab ja diese Listen bei der Wannsee-Konferenz,wo die Anzahl der Juden in den verschiedenen Ländern aufgeführt war… woher kamen diese Zahlen? Ich habe schon selbst versucht im Internet etwas darüber zu erfahren, aber leider ohne Erfolg.
lisalena
Liebe Lisalena, Sie haben eine wichtige und berechtigte Frage gestellt, über deren Beantwortung wir, die wir uns mit der Erforschung des Holocaust beschäftigen, intensiv nachdenken sollten. Nur, wie fangen wir es an? 1930 waren von den rund zwei Milliarden Menschen in der Welt 15,8 Millionen Juden (= 0,8%). In Deutschland lebten vor 1935 499.682 Juden (= 0,77% der Gesamtbevölkerung). Diese und ähnliche Zahlen kennen wir aus sehr detaillierten Studien, die gerade zu Beginn der NS-Herrschaft noch in Deutschland erscheinen konnten (Mark Wischnitzer: Die Juden in der Welt – Gegenwart und Geschichte des Judentums in allen Ländern, Berlin 1935; Emanuel bin Gorion et al. (Hrsg.): Philo-Lexikon – Handbuch des jüdischen Wissens, Berlin 1935).
Wir wissen also, wie viele Juden vor dem Holocaust in der Welt und in den einzelnen Ländern lebten, haben aber noch keinen Aufschluss darüber, nach welchen Kriterien jemand als „Jude“ angesehen und gezählt wurde.
An einer eindeutigen Antwort hindert uns vor allem die oszillierende Natur des Judentums als Religion und Nation: Zum Christen wird jemand durch die Taufe – als Jude wird man geboren! Das Judentum ist die erste monotheistische Religion („Gottes Einheit und Einzigkeit“), deren Anhänger sich auch als ethnisch begründete Formation verstanden („Gott hat Israel zur Verkündigung seiner Botschaft berufen“), die auf Zusammenhalt Wert legte („Einheit geht über in Heiligkeit“ und letztlich auf eine religiös verfasste Weltlichkeit abzielte („Ziel ist die Heiligkeit des gesamten Lebens, die Aufhebung des vermeintlichen Unterschiedes von Weltlichem und Religiösem, die Einheit aller Lebensbezirke“).
Basis jüdischer Religiosität ist die Bibel, speziell die Tora (d.h. die fünf Bücher Mose), Richtschnur jüdischen Lebens ist der Talmud, die in Jahrhunderten zusammengetragene, um 500 beendete Sammlung von Gesetzen, Werten, Überlieferungen und Ordnungen. Diese „Koexistenz“ von geheimnisvoller Offenbarung und pragmatischer Lebensweisung, alle von differierender Einheitlichkeit und verschieden aufgefasstem Verpflichtungscharakter, ist der Boden, auf welchem sich die schier unüberblickbare Vielfalt jüdischer Gemeinden, Konzeptionen, Philosophien, Schulen etc., entwickelte, deren Pole Rationalität und Mystizismus sind (wobei diese in der Geschichte immer wieder Verschmelzungen eingingen).
Angesichts dieser schwer fassbaren Ausgangspunkte bleibt uns als erster Ansatz zur Beantwortung der Frage, wer denn nun Jude ist, wohl nur eine simple Feststellung: Jude ist, wer Jude sein will oder von anderen als Jude angesehen bzw. abgestempelt wird. Eine solche Ausgangsposition hat den Nachteil, über die grundlegende Dichotomie von Judentum als religiöse und/oder ethnische Kategorie etwas leichtherzig hinwegzugehen; aber sie hat auch den Vorteil, von vornherein die Einwirkung von Nicht-Juden auf jüdische Selbstbestimmung in die Definition einzubeziehen. Juden sind (oder waren) nun einmal in allen Ländern der Welt zu Hause, sie waren weltweit in ein magisches Viereck aus jüdischer Identität, Integration in eine nichtjüdische Gesellschaft, Loyalität gegenüber ihrem aktuellen Heimatland und der Einstellung nichtjüdischer Mitbürger ihnen gegenüber gestellt.
Ein klassischer jüdischer Witz erhellt die Probleme, die sich aus einer so heterogenen Lage ergeben: „Ich bin stolz darauf, Jude zu sein! Wäre ich nicht stolz, bliebe ich dennoch Jude. Also bin ich lieber gleich stolz“. Ein schöner Witz – der aber unsere Frage dennoch nicht beantwortet: Wer ist Jude?
Nach jüdischem Gesetz ist nur der Jude, der von einer jüdischen Mutter geboren wurde – wer nur einen jüdischen Vater hatte, war kein Jude. An diese Unterscheidungen haben sich die deutschen Nationalsozialisten natürlich niemals gehalten, so dass wir, wenn wir uns einmal nur auf deutsche Gegebenheiten beschränken, die Grundfrage nach „jüdischer“ Identität in drei Detailfragen aufteilen sollten:
- Wer war Jude?
- Wer war nicht Jude?
- Wer konnte zum Juden werden?
Die erste Frage ist relativ leicht zu beantworten, wofür deutsche Bürokratie binnen Jahrhunderten sorgte. Es gab im Mittelalter jüdische Wohnbezirke, Ghettos etc., deren Bewohner genau verzeichnet waren – sofern sie nicht gleich durch äußerliche Kennzeichen („Juden-Hut“) als Juden ausgewiesen waren. Es gab anti-jüdische Gesetze und Bestimmungen, die sich auf eine quantitativ genau umgrenzte Menschengruppe bezogen. Es gab später jüdische Gemeinden, Vereine, Verbände, Abonnenten jüdischer Zeitungen etc., was sich natürlich in entsprechenden Listen wiederfand.
Es gab Taufregister von Konvertiten, Namensregister von Juden, die von Behörden einen Namen zugewiesen bekamen – wenn sie viel Geld bezahlten, einen „schönen“ Namen, wenn sie nichts zahlen konnten, einen weniger schönen. Es gab Steuerlisten, da Juden mit Sondersteuern belegt wurden. In den Armeen wurden die Konfessionen der Soldaten genauestens verzeichnet. Es gab Polizei-Akten, da Deutschland als „Durchgangsland“ für osteuropäische Juden galt.
Mit anderen Worten: In Deutschland lagen ausreichend Akten und Materialien bereit, aus denen die Zahl der Juden im Land mit hinreichender Präzision zu entnehmen war.
Schwieriger ist die zweite Frage zu beantworten, wer nicht Jude war. Sie impliziert nämlich eine dokumentarische „Bringeschuld“, aufgestellt von mehr oder minder expliziten Juden-Gegnern und gerichtet an jeden, der etwas werden, etwas haben wollte, das Juden verwehrt war. Tiefstpunkt dieser Art von administrativer Diskriminierung war der sog. Ariernachweis unter dem NS-Regime:
Ariernachweis, seit 1933 (mit Wirkung des Arierparagraphen) für alle Beamten und öffentlichen Bediensteten und seit 1935 (mit Wirkung der Nürnberger Gesetze) für alle Deutschen eingeführter Nachweis der „deutschen oder artverwandten Abstammung bzw. des Grades eines fremden Bluteinschlages“ durch Vorlage entsprechend beglaubigter Urkunden. Häufig wurde auch eine Ahnentafel oder ein Ahnenpass angefertigt. Verlangt wurde der Nachweis der arischen Abstammung bis in die Generation der Großeltern. Der Abstammungsnachweis war Voraussetzung für die Zugehörigkeit zu nationalsozialistischen Organisationen und für die Inanspruchnahme öffentlicher Leistungen.
Mittels akribischer Fragebögen und unter Androhung von Strafen wurde eine lückenlose Dokumentation über die eigene Familie verlangt, mehrere Generationen zurück. Hinzu kamen antijüdische Hetze und Denunziation, beide im Höchstmaß repräsentiert durch das Blatt „Der Stürmer“, herausgegeben von Julius Streicher (1895-1946). Der Pogrom-Eifer dieses Mannes war selbst Hitler zu viel, der ihm jede politische Betätigung untersagte, ihn ansonsten aber gewähren und den „Stürmer“ weiter erscheinen ließ (Rosemarie Schuder, Rudolf Hirsch: Der gelbe Fleck – Wurzeln und Wirkungen des Judenhasses in der deutschen Geschichte, Berlin (Ost) 1987, S. 609 ff.). Damit gingen auch die Denunziationen, Hetzpropaganda, Berichte über „Ritualmorde“, Aufforderungen zur „Endlösung der Judenfrage“ und zur Todesstrafe für „Rassenschande“, Anklagen gegen „Judenknechte“ etc. weiter. Selbst Hitler soll sich gewundert haben, woher Streicher das Material für seine Zeitschrift hatte – es kam aus ungezählten Briefen, Hinweisen, Verleumdungen etc., die ganz „normale“ Menschen an die Redaktion schickten (Fred Hahn: Lieber Stürmer! Leserbriefe an das NS-Kampfblatt 1924-1945, Stuttgart 1978).
Es braute sich also eine Atmosphäre zusammen, die den offiziellen Antisemitismus des NS-Regimes mit der latenten Judenfeindschaft breiter Kreise des deutschen Volks auf der Grundlage einer Abstammungs-Schnüffelei in Einklang brachte: Jude war nun jeder, der nicht dokumentarisch nachweisen konnte, dass er kein Jude war – was immer „Jude“ in diesem Zusammenhang bedeuten mochte und wie wenig zuverlässig die Dokumentenbasis, z.B. einhundert Jahre alte Kirchenbücher von halbanalphabetischen Schreibern, immer war.
Die Steigerung dessen war die Suche nach „jüdischen Mischlingen oder jüdisch Versippten“, die später einsetzte und mit der früheren Verwendung des Begriffs „Arier“, ursprünglich ein sprachwissenschaftlicher Terminus, Schluss machte, um nun explizit und unbegrenzt antijüdisch zu werden.
Auch dieser pseudo-genetische Ansatz hatte in Deutschland Tradition, wenn auch keine sehr ausgeprägte. Ihm war z.B. der Literaturhistoriker Adolf Bartels (1862-1945) verpflichtet – ein fleißiger Autor und rassistischer Wirrkopf, der seine Zeitgenossen etwa mit Erkenntnissen der Art erheiterte, dass Heinrich Heine eigentlich Chajim Bückeburg hieße und der populäre Heidedichter Hermann Löns ein „ein-zweiunddreißigstel Jude“ sei. Bartels’ schärfster Gegner war in jungen Jahren der spätere erste Bundespräsident Theodor Heuss, der ihn in einer Art und Aggressivität anging, dass sich Bartels lauthals über Heuss („stößt einem kaltlächelnd den Dolch in den Rücken“) beschwerte. Aber das waren Scharmützel am Rande: Heuss war ein angesehener Journalist bei einer liberalen Zeitung – Bartels ein drittklassiger Graphomane mit einer extrem antijüdischen Obsession. Mit dieser konnte er zwar nicht einmal beim Hitler-Regime recht „landen“, war aber doch ein Vorläufer von dessen neuer Jagd nach „jüdischen Mischlingen“.
Die entsprechenden Gesetze wurden auf dem Nürnberger Reichsparteitag 1935 erlassen und fortlaufend verschärft:
- Jude ist, wer von mindestens drei der Rasse nach volljüdischen Großeltern abstammt.
- Als Jude gilt auch der von zwei volljüdischen Großeltern abstammende staatsangehörige jüdische Mischling
- a) der beim Erlaß des Gesetzes der jüdischen Religionsgemeinschaft angehört hat oder danach in sie aufgenommen wird,
- b) der beim Erlaß des Gesetzes mit einem Juden verheiratet war oder sich danach mit einem solchen verheiratet,
- c) der aus einer Ehe mit einem Juden im Sinne des Absatzes 1 stammt, die nach dem Inkrafttreten des Gesetzes zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre vom 15. September 1935 (RGBl. I. S. 1146) geschlossen ist,
- d) der aus dem außerehelichen Verkehr mit einem Juden im Sinne des Absatzes 1 stammt und nach dem 31. Juli 1936 außerehelich geboren wird.
Nominell sollte durch diese Bestimmungen Klarheit eintreten, wer Jude war; tatsächlich war die Verwirrung komplett: Die „Abstammung“ gab den Ausschlag, das „Blut“ war das wichtigste Unterscheidungskriterium – obwohl es medizinisch keinen Unterschied in der Blutgruppenzusammensetzung von „Deutschblütigen“ und „Juden“ gibt – und bürokratische Berechnungen bildeten den Schluss, nach denen „Viertel-„, „Dreiviertel-„, „Dreichachtel-„, gar „Fünfachtel-Mischlinge“ ermittelt wurden. Seit 1935 war die deutsche Nation in vollwertige „Reichsbürger“ („deutschen oder artverwandten Blutes“) und minderwertige „Staatsbürger“ (Juden) geschieden, was alles permanente Konflikte mit der Wehrmacht auslöste, die ständig gesunde Rekruten benötigte und sich um die „Rassenkriterien“ nicht mit der Akribie der Partei kümmerte.
Mit anderen Worten: Die Frage, wer unter dem NS-Regime als Jude galt, ist nicht zu beantworten. Angesichts der „Schwammigkeit“ der Kriterien ist sogar anzunehmen, dass sie nie beantwortet werden sollte, damit das Regime jeden als „Juden“ bezeichnen und behandeln konnte, den es wollte. Oder das Gegenteil: „Wer Jude ist, bestimme ich“, soll Göring gesagt haben, als er Feldmarschall Erhard Milch (1892-1972) auszeichnete, der nach den NS-Kriterien ein „Halbjude“ war.
Autor: Wolf Oschlies
Anmerkungen
[1] Der Autor dankt Frau Dr. Annette Haller von der Kölner Fachbibliothek „Germania-Judaica“ für die kritische Durchsicht dieses Manuskripts.