Unbefangen in politischen Debatten von »Volk« zu sprechen erscheint gegenwärtig kaum möglich. Obwohl es in Artikel 20 des Grundgesetzes unmissverständlich heißt, »alle Staatsgewalt geht vom Volke« aus und Volk damit als ein Schlüsselbegriff der freiheitlich demokratischen Grundordnung benannt wird, weckt außerhalb verfassungsrechtlicher Bestimmungen der Begriff »Volk« unweigerlich Assoziationen mit nationalistischem, wenn nicht gar nationalsozialistischem Gedankengut. Erst recht gilt dies für das Adjektiv »völkisch« und für das Kompositum »Volksgemeinschaft«. Nicht zufällig berufen sich gerade neurechte und identitäre Bewegungen auf den Volksbegriff zur Abgrenzung gegen alles vermeintlich Fremde, seien es Flüchtlinge, Muslime oder auch einfach nur politisch Andersdenkende.
Vergessen wird dabei: Es gibt eine Geschichte der Begriffe Volk und Volksgemeinschaft vor der Zeit des Nationalsozialismus und jenseits nationalistischer Konnotationen. In der Zeit des Ersten Weltkrieges und der Weimarer Republik, die im Übrigen ebenfalls das »Volk« als Träger politischer Souveränitätsrechte ins Zentrum ihrer Verfassung stellte, waren »Volk« und »Volksgemeinschaft« Schlüsselbegriffe des politischen Diskurses, mit denen sich die unterschiedlichsten Erwartungen, in jedem Fall aber Zukunftshoffnungen, verknüpften. Vor allem aber: Die Forderung nach einer die divergierenden Klassen, Interessen und Weltanschauungen einenden Volksgemeinschaft stellten Parteien im gesamten politischen Spektrum von ganz links bis ganz rechts auf. Das galt gerade auch für die Parteien der politischen Mitte, die am Erhalt einer demokratischen Republik orientiert waren.
Jörn Retterath geht in seiner, ursprünglich 2013 als Dissertation an der Ludwig-Maximilians-Universität in München entstandenen Dissertation dieser vielfach übersehenen Verwendung des Volksbegriffes in der politischen Diskussion der Weimarer Zeit nach. Dabei konzentriert er sich auf die Zeit zwischen 1917 und 1924, also auf die Phase, in der die Weimarer Demokratie aus der schweren Nachkriegskrise sich zu einer gewissen Stabilität entwickelte. Im Zentrum stehen dabei die Parteien, die die Republik im Grundsatz bejahten, also SPD, DDP, DVP und das katholische Zentrum. Retterath versteht seine Arbeit dabei als historisch-semantische Studie, die mit den Mitteln der Begriffsgeschichte und der an Michel Foucault orientierten historischen Diskursanalyse das Bedeutungsfeld des Begriffes »Volk« im demokratischen Spektrum der Weimarer Zeit beschreiben und auf diese Weise Diskussions- und Denkstrukturen der damaligen Akteure beleuchten möchte.
Wie jeder Historiker, der sich mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts befasst, hat es auch Retterath nicht mit einem Mangel an Quellen, sondern einer kaum überschaubaren Menge von Zeugnissen zu tun, die eine sinnvolle Selektion erfordert, um zu zuverlässigen Aussagen zu kommen, die den politischen Diskurs der Weimarer Zeit wenigsten einigermaßen repräsentativ abbilden können. Quellenbasis seiner Studie sind die Leitartikel ausgewählter reichsweit erscheinender Zeitungen und die von ihm als Parlamentaria und Parteiquellen klassifizierten Schriften und Reden. Die Verwendung der zeitgenössischen Presse bietet sich allein deswegen an, weil die Zeitungen der Weimarer Republik stärker als heute eine weltanschauliche Ausrichtung besaßen, die sie einer politischen Richtung und vielfach einer konkreten Partei zuordenbar machten. Für die Zentrumspartei war das beispielsweise die »Germania«, für die SPD der »Vorwärts«, für die DDP das linksliberale »Berliner Tageblatt« und die »Kölnische Zeitung« für die nationalliberale DDP. Dabei war die Presse trotz des neu aufkommenden Mediums Radio und der sehr populären Kinowochenschau weiterhin das Leitmedium, über das politische Streitfragen verhandelt wurden. Aus der parteinahen Presse lässt sich also recht zuverlässig die Verwendung des Volksbegriffes in den politischen Debatten der Zeit rekonstruieren. Insgesamt wurden mehr als 6300 Leitartikel der genannten Zeitungen ausgewertet und ergänzend punktuell Artikel aus der rechten Presse wie dem nationalsozialistischen Blatt »Völkischer Beobachter« herangezogen.
Dabei gelingt es Retterath drei idealtypische Grundbedeutungen des Volksbegriffes im Diskurs der Zeit herauszuarbeiten: Zum Ersten konnte Volk verstanden werden als »demos« im Sinne eines Staatsvolks, wie es sich durch eine gemeinsame Staatsbürgerschaft der Volksangehörigen definierte. Volk in diesem Sinne war wie aktuell noch immer im Grundgesetz ein staatsrechtlicher Begriff. Zum Zweiten konnte Volk als »ethnos« begriffen werden und meinte eine Kultur- und Sprachgemeinschaft, die jenseits von staatsrechtlichen Bestimmungen Zusammengehörigkeit anzeigte. Diese Bedeutung des Volksbegriffes lässt sich bis weit in das 19. Jahrhundert, bis in die Zeit vor der Gründung des Deutschen Reiches, zurückverfolgen. Zum Dritten konnte Volk »plebs« meinen und dann auf die sozialen Unterschichten und auf die Arbeiterklasse verweisen, die als Gegensatz zu den herrschenden und kapitalbesitzenden Klassen gesehen wurden. Während diese Bedeutung vor allem auf der politischen Linken akzentuiert wurde, reklamierte die politische Rechte in erster Linie Volk als »ethnos« für sich. Durch die Verknüpfung mit erbbiologischen und darwinistischen Vorstellungen konnte die Kultur- und Sprachgemeinschaft zu einem rassistischen Volkskonzept umgedeutet werden, das sich vor allem über die Exklusion von »Volksfremden« definierte. Der am »demos« orientierte staatsrechtliche Begriff von Volk wurde vor allem von den verfassungstreuen Parteien der Mitte betont, blieb aber im politisch aufgeheizten Klima der 20er und 30er Jahre oftmals blass.
Aus dieser unterschiedlichen Verwendung des Volksbegriffes ergaben sich auch sehr verschiedene Auffassungen von Volksgemeinschaft. Volk und Volksgemeinschaft konnte entweder als ein pluralistisches oder als ein holistisches Konzept begriffen werden. Im ersten Fall wurde Volk als ein System miteinander interagierender Individuen, Interessengruppen, Konfessionen und Weltanschauungen gedacht, die zwar als volksgemeinschaftliche Einheit angesehen werden konnten, aber ohne dass die Elemente der Volksgemeinschaft ihre Identität aufgeben mussten. Im holistischen Konzept dagegen wurde die Vorstellung einer organischen Einheit des Volkes entwickelt, in der alle Gegensätze zwischen Ständen, Klassen, aber auch zwischen den Geschlechtern, wenn nicht völlig aufgehoben, so doch für unwesentlich erklärt wurden. Volksgemeinschaft wurde zu einer Art biologischem Organismus, in dem die Individuen nur über ihre Funktion im Volksganzen definiert wurden. Dass die Nationalsozialisten auf Volk als »ethnos« im holistischen Konzept rekurrierten, macht Retterath ebenso deutlich wie die Tatsache, dass es sich dabei um eine Engführung des ursprünglichen Begriffes von Volk und Volksgemeinschaft handelte. Begünstigt wurde diese Entwicklung durch die Krisen und Spaltungen der Gesellschaft nach dem Ersten Weltkrieg. Auch im demokratischen Spektrum, so kann Retterath zeigen, genossen holistische Konzepte eine wachsende Attraktivität, ohne dass sie dadurch pluralistische Vorstellungen völlig überlagern konnten.
Jörn Retterath ist es mit seiner materialreichen und gründlich recherchierten Studie nicht nur gelungen, einen bisher vernachlässigten Bereich der Begriffsgeschichte aufzuklären, sondern viel zum besseren Verständnis der politischen Debatten der Weimarer Zeit beizutragen. Über den Kreis der Fachhistoriker hinaus ist das Buch jedem politisch und zeithistorisch Interessierten unbedingt zu empfehlen.
Autor: Bernd Kleinhans
Jörn Retterath: »Was ist das Volk?« Volks- und Gemeinschaftskonzepte der politischen Mitte in Deutschland 1917 – 1924, Berlin und Boston 2016, Walter de Gruyter Verlag, 462 Seiten, 59,95 Euro.