Klaus Kordon: Und alles neu macht der Mai, Weinheim: Beltz & Gelberg 2021
Jugendromane, die ein historisches Thema zum Gegenstand haben, sind mehreren Ansprüchen ausgesetzt: Sie müssen den geschichtlichen Zusammenhang präzise und in seiner Vielschichtigkeit darstellen und zugleich als literarischer Text funktionieren, ihre Leser*Innen also mitnehmen, glaubwürdige Personen schaffen und der historischen Komplexität Rechnung tragen. Klaus Kordons neuer Roman Und alles neu macht der Mai bestätigt, dass dieser Autor im deutschsprachigen Bereich zu Recht als der herausragende Verfasser historischer Jugendromane gilt.
Aus der Perspektive der 16-jährigen Rena schildert der Roman anschaulich und eindringlich die Situation in Deutschland zwischen Januar 1945 und Januar 1946. Zusammen mit ihrer Mutter und den drei jüngeren Geschwistern flieht die Protagonistin aus dem Warthegau, einem von Deutschland 1939 annektierten Teil Polens, und findet zunächst Zuflucht in einem Dorf im Süden Schleswig-Holsteins, bevor die Familie schließlich in Frankfurt am Main dauerhaft bleiben kann. Spannend beschreibt Kordon die Flucht. Eindrucksvoll schildert er die Not der Menschen, ihren Hunger, die beengten Wohnverhältnisse und die ständige Angst zu sterben oder Angehörige zu verlieren. Ebenso überzeugend stellt er die Brüchigkeit der sogenannten „Volksgemeinschaft“ dar: In der Not ist sich Jeder selbst der Nächste, Schwarzmarktgeschäfte dominieren, Flüchtende werden in erster Linie als Belastung wahrgenommen und von den Einheimischen schikaniert, wenn nicht ausgebeutet. Vor allem aber gelingt es dem Verfasser, differenziert die Vielschichtigkeit der sozialen und politischen Positionen im Jahre 1945 zu zeigen und anschaulich zu verdeutlichen, wie sich die Gesellschaft insgesamt in Deutschland im Jahre 1945 zunächst nur oberflächlich änderte, alte Kameradschaften aus der NS-Zeit weiterhin Bedeutung hatten und von der NS-Ideologie geprägte Denkmuster weiterlebten.
Am Beispiel von Renas Familie wird deutlich, wie stark die NS-Ideologie Denken und Handeln bestimmt hat und wie schwierig und herausfordernd es sein konnte, zu dieser eigenen Vergangenheit eine kritische Distanz zu entwickeln. Dies gelingt zwar der Protagonistin Rena und ihrem wenig jüngeren Bruder Joachim sowie – in Ansätzen – der Mutter, nicht aber dem Vater, einem sehr frühen SA- und NSDAP-Mitglied. Dabei wirbt Kordons Roman, auch das macht seine herausragende Qualität aus, um Verständnis für alle Positionen und vermeidet vorschnelle moralische Urteile. – Ein Jugendbuch, das auch Erwachsene mit großem Gewinn lesen können.
Autor: Tomas Unglaube
Klaus Kordon: Und alles neu macht der Mai, Weinheim: Beltz & Gelberg 2021. 443 S., ISBN 978-3-407-75602-2