
Chas pidlotu | Time to the Target. Land: LVA, CZE, UKR 2025. Regie: Vitaly Mansky. Sektion: Forum 2025. Datei: 202505540_1. © Chas pidlotu
Eine filmische Meditation über Leben und Tod im Schatten des Krieges
Vitaly Manskys Dokumentarfilm Time to the Target ist ein Werk von atemberaubender Intensität und poetischer Kraft, das den Zuschauer in den Herzschlag einer Stadt entführt, die zwischen Alltagsroutine und existenziellem Ausnahmezustand oszilliert. Über drei Stunden hinweg entfaltet sich ein Panorama des westukrainischen Lwiw, Manskys Geburtsstadt, die seit Beginn der russischen Invasion zu einem Mikrokosmos geworden ist, in dem sich die Absurdität des Krieges in jeder Geste, jedem Blick und jedem verstummten Lachen widerspiegelt. Der Titel des Films verweist auf jene grausame Metronom-Funktion, die das Leben in der Ukraine heute bestimmt: die fünf Minuten und vierzig Sekunden, die eine russische Rakete benötigt, um von ihrem Abschussort bis nach Lwiw zu fliegen – eine Zeitspanne, die längst zur Grundlage neuer Rituale geworden ist.
Mansky, dessen filmisches Schaffen stets an der Schnittstelle zwischen persönlicher Erinnerung und historischer Dokumentation angesiedelt war, kehrt hier zu den Wurzeln seiner Biografie zurück. Doch das Lwiw, das er vorfindet, ist nicht mehr die Stadt seiner Kindheit, sondern ein Ort, der sich in einem permanenten Schwebezustand zwischen Leben und Tod befindet. Die Kamera erkundet Straßenzüge, die vom Charme der Habsburger Ära geprägt sind, doch über allem liegt der bleierne Schleier einer Realität, in der Friedhöfe schneller wachsen als Wohnviertel und in der das Läuten der Kirchenglocken öfter für Trauerzüge als für Hochzeiten ertönt.
Was den Film so außergewöhnlich macht, ist seine Fähigkeit, die Paradoxien des Kriegsalltags sichtbar zu machen, ohne dabei in plakative Kontraste zu verfallen. Da ist die Kellnerin, die mit konzentrierter Miene einen dampfenden Kaffee serviert, während wenige Meter entfernt ein Sarg vorbeigetragen wird. Ihr flüchtiges Innehalten, kaum merklich in den Schultern zuckend, bevor sie ihren Weg fortsetzt, wird zur Metapher für eine Gesellschaft, die sich das Weitermachen zur Überlebensmaxime erhoben hat. Mansky zeigt sommerliche Parks, in denen Jugendliche Selfies vor blühenden Kastanienbäumen machen, während im Hintergrund die Misstöne einer Militärkapelle probenden Blechbläsern entfleuchen – ein dissonantes Soundscape, das zur akustischen Signatur des Films wird.
Zentrales Motiv ist die ukrainische Trauerkultur, die sich in immer wiederkehrenden Ritualen manifestiert. Die Militärkapelle, deren Mitglieder zu ungewollten Chronisten des Sterbens geworden sind, begleitet jeden Gefallenen mit der gleichen Hymne, bis aus Pathos schließlich Routine wird. Mansky gelingt es, die physische Präsenz der Toten spürbar zu machen – nicht nur durch die omnipräsenten Gedenkplakate, die wie Wandzeitungen des Verlusts die Stadt tapezieren, sondern auch durch die Art, wie die Kamera die Gesichter der Hinterbliebenen studiert. In langen, fast unerträglich intimen Einstellungen werden aus anonymen Trauergemeinschaften individuelle Schicksale: die Mutter, die ihren Sohn an der Front verlor und nun dessen Baby wie eine Reliquie im Arm hält; der alte Friedhofsgärtner, der beim Ausheben neuer Gräber auf sowjetische Gebeine aus dem Zweiten Weltkrieg stößt und leise vor sich hinfluchtet: „Wir wandeln auf Knochen.“
Doch Time to the Target ist kein Film, der im Elitismus der Verzweiflung verharrt. Gerade in seiner formalen Strenge – der Verzicht auf Voice-Over, die konsequente Vermeidung von Archivmaterial – entfaltet sich eine eigenartige Schönheit. Wenn im Winter die Schneeflocken auf die blau-gelben Grabschleier rieseln oder im Sommer das Licht der untergehenden Sonne die Gedenkkerzen auf den frischen Erdhügeln reflektiert, wird deutlich, dass Mansky nicht nur ein Kriegsporträt, sondern eine Meditation über die Zyklen des Lebens schafft. Die Jahreszeiten strukturieren den Film wie ein antikes Drama: Der Frühling mit seiner brutalen Symbolik des Neubeginns, wenn die ersten Särge in die noch froststarre Erde gesenkt werden; der Sommer, in dem die Hitze den Verwesungsgeruch der Massengräber übertüncht; der Herbst, der die Blätter von den Bäumen reißt und damit die Sicht auf die immer länger werdenden Reihen der Kreuze freigibt.
Besonders bemerkenswert ist die Art, wie Mansky mit der Zeit umgeht. Die Länge von 179 Minuten, zunächst abschreckend wirkend, erweist sich als essenziell für das Verständnis der erzählten Realität. Erst durch die beharrliche Wiederholung der Trauerzeremonien – mal bei strömendem Regen, mal unter gleißender Sonne – begreift der Zuschauer, wie sehr sich das Außergewöhnliche normalisiert. Eine Szene, in der ein junger Soldat seinem gefallenen Kameraden heimlich eine Flasche Bier ins Grab legt, wiederholt sich in Variationen, bis aus der Geste der Auflehnung gegen den Tod selbst ein Ritual der Kapitulation wird.
Die musikalische Untermalung durch die ukrainische Hymne und traditionelle Trauermärsche entwickelt im Laufe des Films eine eigentümliche Doppelbödigkeit. Was anfangs als patriotisches Pathos daherkommt, entpuppt sich als verzweifelter Versuch, dem Massensterben durch kollektive Choreographie einen Sinn zu verleihen. Die Kapellenmitglieder, anfangs noch stramm in ihren Uniformen, wirken gegen Ende des Films wie Geister, die in einer Endlosschleife gefangen sind – ihre Wangen eingefallen, die Augenringe tiefer, die Pausen zwischen den Stücken länger.
Manskys größte Leistung liegt vielleicht darin, dass er es vermeidet, Lwiw entweder als heroisches Symbol ukrainischen Widerstands oder als Opferstätte zu stilisieren. Stattdessen zeigt er eine Stadt, die sich in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit behauptet: die fröhlich plappernden Marktfrauen, die zwischen Gemüseständen über die neuesten Raketenalarme diskutieren; die Teenager, die auf verlassenen Fabrikdächern Graffiti sprühen, während am Horizont die Rauchsäulen eines Trefferorts aufsteigen; die alten Frauen, die in der Morgendämmerung Kerzen für die Gefallenen anzünden und dabei über die Preise für Heizmaterial schimpfen.
Der Film endet mit einer sequenzhaften Montage von Grabsteinen, auf denen die Geburtsdaten der Gefallenen immer näher an die Gegenwart heranrücken. Die jüngsten stammen aus dem Jahr 2005 – Männer, die kaum das Erwachsenenalter erreicht haben, bevor sie an die Front geschickt wurden. Doch selbst in dieser apokalyptischen Inventur des Verlusts bewahrt Mansky einen Funken Hoffnung: Die letzte Einstellung zeigt einen Schneesturm, der die Friedhofsalleen unter einer weißen Decke begräbt, während irgendwo im Off das Lachen eines Kindes zu hören ist.
Time to the Target ist mehr als ein Dokumentarfilm – es ist eine cinematografische Symphonie über die Verwundbarkeit und Resilienz des Menschlichen in Zeiten existenzieller Bedrohung. Mansky gelingt das seltene Kunststück, sowohl intimes Porträt als auch universelle Parabel zu schaffen. Die drei Stunden Laufzeit, anfangs vielleicht einschüchternd, erweisen sich als notwendig, um das Publikum in den Rhythmus dieser neuen Kriegsnormalität eintauchen zu lassen. Man verlässt den Kinosaal mit dem Gefühl, Zeuge einer epochalen künstlerischen Auseinandersetzung geworden zu sein – einem Werk, das seine Wucht nicht aus effektheischendem Journalismus, sondern aus der beharrlichen, liebevollen Beobachtung des scheinbar Banalen bezieht. In einer Ära, in der die mediale Aufmerksamkeit für den Ukraine-Krieg nachzulassen droht, setzt dieser Film ein monumentales Denkmal der Erinnerung – und der Mahnung.
Time to the Target – von Vitaly Mansky (Regie, Buch) / 179′ / Lettland, Tschechien, Ukraine 2025 / Farbe / Ukrainisch / Untertitel: Englisch
Berlinale 2025 – Sektion Forum