Was ist Wahrheit? Können wir unseren Sinnen trauen? Welche Rolle spielen unsere Erfahrungen, Vorurteile und Hoffnungen? Gibt es mehrere Wahrheiten? Ist meine Wahrheit auch die der anderen? Können wir unseren Sinnen überhaupt trauen?
Wir alle wissen, dass es nicht die eine wirkliche Wahrheit gibt. Vieles ist davon abhängig, woher wir kommen, wo wir gerade sind und wohin wir möchten. Doch welche Konsequenzen das haben kann und welche Wirkungen das Erkennen dieser vielen Wahrheiten auf uns selbst haben kann, wurde noch nie so eindringlich und nachvollziehbar gezeigt, wie in diesem Film von Ra’anan Alexandrowicz. Und diese Eindringlichkeit liegt vor allem in dem grundlegenden Konzept des Films, der so relativ simpel gemacht ist, wie eine einfache Zeitungsmeldung oder ein verwackeltes YouTube-Video.
Diesen Ansatz und diese Herangehensweise erklärt der Regisseur gleich zu Beginn des Films. Sieben amerikanischen Studentinnen und Studenten zeigt er virale Videos und Handyaufnahmen, die Szenen des Konflikts zwischen Israel und Palästina zeigen. Niemals sind es friedliche Momente des alltäglichen Lebens, sondern immer Sequenzen der Unruhe. Ra’anan Alexandrowicz war gespannt auf die Reaktionen seiner Testpersonen, doch konzentrierte er sich dann auf nur eine Studentin, um sie für einen Dokumentarfilm aufzunehmen.
Maia Levi, eine junge nordamerikanische Frau mit israelischen Hintergrund wurde von ihm gleich mehrfach eingeladen. Doch der Film zeigt nicht nur ihre Reaktionen. Maia Levi kommentiert ihre eigenen Beobachtungen sachlich und konzentriert. Die Kamera ist direkt auf ihr Gesicht gerichtet. Doch damit nicht genug, Maia Levi wird gezwungen, eigene Beobachtungen zu hinterfragen und einmal gemachte Kommentare zu beurteilen.
Die Frage nach Authentizität
The Viewing Booth dokumentiert das Zusammentreffen von Regisseur und Protagonistin, bis sich der Filmemacher zurückzieht und Maia Levi den Videos und Handyaufnahmen überlässt. So zeigt der erste Film, den Ra’anen Alexandrowicz der jungen Studentin präsentiert, eine Hausdurchsuchung bewaffneter Soldaten in den Räumen eines israelischen Einfamilienhauses. Maia Levi interpretiert die Szenen und vor allem die Filmsprache des Videos. Sie fragt, was hier kommuniziert werden soll und welche Botschaft in der Verbreitung solcher Szenen übertragen werden soll. Immer wieder zweifelt sie die Authentizität der Szenen an, beurteilt das Video als kontextlos und kommt so für sich zu dem Ergebnis, dass es sich überwiegend um eine Meinungsmache handeln wird.
Gefragt wird hier nach der Rolle, welche Authentizität Videoaufnahmen in der Meinungsbildung zu globalen politischen Themen haben können. Inwiefern wird ein kollektives Verständnis gelenkt, wenn gezeigt wird, wie zum Beispiel israelische Jugendliche mit hoher Aggressivität ein Haus mit Steinen bewerfen oder verzweifelte Palästinenser von der Kamera beobachtet ihr Zuhause verlieren? Wo greifen Werkzeuge der Manipulation, wenn radikal wirkende Palästinenser in verwackelten Aufnahmen im Hochformat eines Smartphones durch das Video laufen und den Tod aller Israelis fordern? Wir erkennen an uns selbst, dass wir schnell dort Manipulation vermuten, wo unseren eigenen Vorstellungen, Hoffnungen und Erfahrungen zuwider kommuniziert wird.
Und doch erkennen wir, dass wir uns immer erst zurücknehmen und nachdenken müssen, bevor wir diese Filme kritiklos im Netz verlinken.
Alexandrowicz steigert Levis und unsere Verwirrung noch, indem er sagt, dass diese Videos zu gleichen Teilen von der Right-Wing Fraktion und von Menschenrechtsorganisationen geteilt wurde. Der Filmemacher verrät aber nicht, welches Video von wem stammt. So beginnt die gezielte Analyse medialer Präsentation und Repräsentationen.
Dekonstruktion
Das ist jedoch nicht Alles. Denn im zweiten Teil von The Viewing Booth geht Ra’anan Alexandrowicz in seiner Dokumentation noch einen Schritt weiter. Auf einen Meta-Ansatz angehoben entwickelt er eine uns alle in den Bann ziehende Diskussion voller offener Fragen. Es sind die Fragen nach der Bedeutung einer immer stärker geforderten Authentizität in der modernen digitalen Vernetzung. Da sich der Regisseur überwiegend zurücknimmt und meistens nur für einen Moment in einem anderen Raum im Hintergrund sichtbar wird, entwickelt sich fast ein interaktives Video. Die Bühne wird den Reaktionen Maia Levis überlassen und rückt sie in die Rolle einer beobachteten Beobachterin. Wir als Zuschauerinnen und Zuschauer befinden uns in dem Bereich zwischen beobachtbarer Ferne und realer Präsenz. Wir stellen fast automatisch die Frage, ob nicht das Filmen selbst schon eine Barriere schafft und uns von einem wesentlichen Teil des Beobachtbaren fernhält. Alexandrowicz gelingt so eine Dekonstruktion unserer innewohnenden Identifizierungen und lässt uns unsere eigene Authentizität anzweifeln. Dass dies Identifizierungen und Authentizitäten sind, die auch bestimmen, wie wir welche Szene verstehen wollen, handelt es sich nicht zuletzt um einen neuen und freieren Blick auf den Konflikt zwischen Israel und Palästina, der sich jedoch auch verallgemeinern lässt.
Ein sehenswertes Experiment
Bei The Viewing Booth handelt es sich um ein absolut sehenswertes Experiment. In laborähnlicher Umgebung werden die medialen Repräsentationen angezweifelt, die uns heute immer öfter im Netz begegnen und die wir oft vorschnell teilen und verbreiten. Ra’anan Alexandrowicz gelingt es, dass Maia Levis freimütige Analyse ihrer eigenen Deutungen niemals voyeuristisch wirken. Wir merken an uns selbst, dass Sehen nicht gleich Glauben bedeutet und wir sehr oft eher das sehen, was wir glauben möchten. Dabei bietet The Viewing Booth keine Lösungen. Wie sollte der Film es auch schaffen, wenn er sich nur selbst hinterfragen kann?
Aber diese Dokumentation schafft uns viel mehr Raum zum Nachdenken, Fragen, Spinnen und zur Beschäftigung mit dem Verhältnis unseres Selbst zu den Medien. Er mach anschaulich, wie verschwommen die Grenzen zwischen Vorstellung und Realität sind und hinterlässt damit einen nachhaltigen Eindruck.
The Viewing Booth
Israel / USA 2019, 70 Min.
Regie: Ra’anan Alexandrowicz
Mit: Maia Levi
Berlinale 2020 – Sektion: Forum