In ihrem Dokumentarfilm „The American Sector“ verfolgten Regisseurin Courtney Stephens und Filmproduzent Pacho Valez einige ganz besondere historische Artefakte: Die großen Betonblöcke der ehemaligen Berliner Mauer.
Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass die Bewegung den Leitfaden von „The American Sector“ bilde: So blickt der Zuschauer in einer Szene zwischen zwei Betonpfeilern auf eine Straße, der Verkehr fließt stetig vorbei. In einer weiteren Einstellung werden bunte Betonstücke auf einen Sattelschlepper verladen und anschließend über eine stark befahrene Autobahn transportiert: Vom Rücksitz des LKWs sind die verzurrten Teile nur am Bildrand zu sehen, einen Großteil der Szene macht das nicht abreißende Band des nachfolgenden Verkehrs aus. In wieder einer anderen Einstellung sitzen und stehen einige Personen an einer ebenfalls stark befahrenen Straße, man hört sie leise reden, aber der Verkehr rauscht zu laut, um alles zu verstehen. Erst beim längeren Hinschauen fällt der Blick auf den knallbunten Betonblock, um den sich die Menschen versammelt haben, offenbar ist es ein Picknickplatz.
Das eigentliche Thema von „The American Sector“ ist jedoch so unbeweglich und beständig wie mancher Felsen: Der Film handelt von der Mauer, die Berlin von 1961 bis 1989 in einen Ost- und einen Weststadtteil spaltete. Dieses Bauwerk hatte zum Ziel, den sozialistisch regierten Ostteil Deutschlands gegen den kapitalistisch strukturierten Westteil abzuschotten. Mit Soldaten und scharfer Munition wurde die Mauer einst bewacht. Menschen starben bei dem Versuch, sie zu überwinden. Als 1989 das DDR-Regime endete, wurde die Mauer geöffnet und in den darauf folgenden Jahren Stück für Stück abgerissen. Heute sind nur einige Teilstücke dem historischen Andenken geweiht. Die Mauer gilt als Touristenmagnet der deutschen Hauptstadt. Doch was geschah mit dem Rest? Den vielen Betonblöcken, die sich einst quer durch das ganze Stadtgebiet zogen?
Stephens und Valez kennen die Antwort: Amerikanische öffentliche Einrichtungen, aber auch Privatpersonen haben die Blöcke Stück für Stück erworben und in ihrem eigenen Land aufgestellt: Auf dem Gelände einer Universität, neben einem Picknickplatz, im städtischen Einkaufszentrum oder als Mahnmal auf einer Militärbasis. An den merkwürdigsten Orten spürten sie die Bruchstücke der alten „Todesmauer“ auf. Über die ganzen USA verteilt stehen sie, an manchen Orten als gepflegte Denkmäler, an anderen der Verwitterung und dem Vergessen preisgegeben. Mehr als 2500 Kilometer reisten Stephens und Valez durch die Vereinigten Staaten, um die Fundstücke für ihren Film auf die Leinwand bringen zu können. Über 70 Betonblöcke konnten sie ausfindig machen. Dabei begegneten sie vielen ungewöhnlichen Menschen, die sich mit diesen Relikten der einstigen Teilung Deutschlands beschäftigen. Manche sammeln sie sogar.
Tatsächlich gibt es hinter Stephens und Valez‘ entspannt wirkenden Dokumentarfilm auch einen politischen Gedanken. 2016 begann das Duo mit den Dreharbeiten, in jenem Jahr, in welchem US-Präsident Barack Obama durch seinen politischen Gegenentwurf Donald Trump ersetzt wurde. Eine der ersten Aussagen Trumps in seinem neuen Amt war, er werde der Einwanderung mexikanischer Bürger durch den Bau einer Mauer an der Grenze der USA zu Mexiko Einhalt gebieten. Im Interview berichtete Produzent Valez, dass durch ihre Reise zu den Blöcken der alten DDR-Mauer wunderbare Gespräche mit den Menschen vor Ort zustande gekommen seien. Diese Gespräche wären seiner nach Meinung höchstwahrscheinlich anders verlaufen, hätte man die Menschen einfach nur zu Trump und seiner Mauer-Politik befragt, so Valez. Menschen erzählten ihre ganz persönlichen Eindrücke und Erinnerungen, die sie mit den Mauerstücken verbanden, schilderte Valez, und zogen von ganz allein Parallelen in die Gegenwart.
Und so ist der Film trotz der politischen Motivation selbst auch herrlich frei von Wertungen und Statements. Stephens und Valez lassen die Bilder wirken, stellen sie einfach aneinander. So, wie einst die Betonblöcke aneinandergereiht wurden. Aber auch so, wie man sie heute als Einzelstücke betrachten kann, als Vielfalt im großen Raum.
Schon bei den Dreharbeiten zu „The American Sector“ ging den Machern der Gedanke durch den Kopf, dass die Internationalen Filmfestspiele in Berlin ein absolut passender Ort wären, ihr Werk im Ausland zu präsentieren. Sie selbst gaben an, bis zum Festival noch nie in Deutschland gewesen zu sein, und zeigten sich hocherfreut über die Nominierung ihres Werkes als besten Dokumentarfilm.
Auch der Besuch Berlins, des Herkunftsortes ihres Filmthemas, schien Stephens und Valez zu bewegen: In Amerika seien sie oft hunderte von Kilometern von einem Betonstück zum nächsten gefahren, berichtet Stephens, und hier stünden sie einfach alle zusammen als das, was sie einst waren: Als Mauer.
„The American Sector“ ist ein Film, der auf angenehme Weise zum Nachdenken anregt, ein Film, der die Gegenwart nutzt, um nach dem zu fragen, was war und was sein könnte. Mit viel Neutralität, aber auch dem berühmten amerikanischen Sinn für Humor zeigt „The American Sector“, wie lebendige Museumsarbeit aussehen kann. Wie merkwürdig, dass schnöde, graue Betonpfeiler manchmal um die halbe Welt reisen müssen, um zum Kunstwerk zu werden.
The American Sector
USA 2020, 70 Min.
Regie: Courtney Stephens und Pacho Velez
Berlinale 2020 – Sektion: Berlinale Special