Allein, verunsichert und auf der Flucht – diesen Eindruck erweckt der junge Israeli Yoav (Tom Mercier) zu Beginn des Films. Zu Recht, wie sich schon bald herausstellt, denn Yoav ist tatsächlich geflüchtet – geflüchtet vor seinem Land, in dem er geboren wurde und groß geworden ist, dessen Kultur und Gemeinschaft. Sogar oder vor allem die Sprache möchte er um jeden Preis hinter sich lassen. Denn Yoav verfolgt nur ein Ziel: Er will Franzose werden und das um jeden Preis und mit allem was dazugehört.
In Paris angekommen, verbringt er die erste Nacht in einer kargen Wohnung, die nicht viel zu bieten hat. Vom Pech verfolgt, werden ihm seine Sachen gestohlen. Nackt, aber immerhin frisch geduscht, findet er Zuflucht bei einem benachbarten Pärchen, Emile (Quentin Dolmaire) und seiner Freundin Caroline (Louise Chevillotte). Dass das der Beginn einer Freundschaft ist, die gleichzeitig die Basis für Yoavs Bemühungen, französisch zu werden, darstellen wird, ahnt er zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Um ihm dabei zu helfen, neue Wurzeln zu schlagen, entschließt sich Caroline dazu, Yoav zu heiraten. Doch die Ehe allein ist noch lange kein Grund auf den Integrationskurs zu verzichten. Da Yoav seine Pläne zielstrebig verfolgt, sieht er den Kurs nicht als Hindernis an – ganz im Gegenteil: Voller Inbrunst schmettert er die Marseillaise und ergreift die Chance noch ein Stückchen mehr von Frankreich und den Franzosen zu lernen und anzuwenden, wo er nur kann.
Yoav meidet nicht nur die Sprache seines Geburtslandes, indem er sich selbst verbietet, jemals wieder ein hebräisches Wort über die Lippen kommen zu lassen, sondern macht auch bewusst einen großen Bogen um seine Landsleute. Alles was aus Israel kommt und zu dessen Kultur gehört, ist für Yoav ein Tabu. Welchen Grund seine tiefe Abneigung Israel gegenüber hat, bleibt bis zum Schluss hin ungeklärt. Naheliegend wären einschneidende Erinnerungen, die ihm der Militärdienst beschert hat – doch in diesem Fall bleibt nur Raum für Spekulationen.
Klar hingegen ist die Bedeutung des Filmtitels „Synonymes“ – in seinem Bestreben Französisch zu lernen, murmelt er ständig Synonyme zufällig ausgewählter Wörter vor sich hin. Mit dem Wörterbuch in der Hand und seinem Ziel vor Augen lässt sich Yoav von nichts und niemandem beirren.
So oder so ähnlich muss es auch für den Regisseur Nadav Lapid gewesen sein, als er nach seinem Philosophiestudium in Paris landete. In „Synonymes“ erzählt er mal mehr, mal weniger eigene Geschichten – verändert, übertrieben, verzerrt. Doch die Fragen, die sich beide zu Beginn ihrer Reise stellen, sind die gleichen: Wie fängt man von vorne an? Wo beginnt man in einem fremden Land? Und kann man die Vergangenheit wirklich hinter sich lassen oder holt sie einen doch irgendwann ein?
Zum Schluss des Films macht „Synonymes“ nochmals deutlich, was man ohnehin schon vermutet – Identität lässt sich nicht so leicht ablegen, verdrängen oder gar austauschen. Genau das muss auch Yoav einsehen: Er schenkt dem verzweifelten und einfallslosen Emile alle seine persönlichen Geschichten und Notizen um sie dann gegen Ende des Films wieder zurückzuholen. Um sich in der neuen Gegenwart zurechtzufinden, kann die Vergangenheit doch von Vorteil sein.
Der Film fordert den Zuschauer ganz klar zu einer Auseinandersetzung mit den Charakteren heraus. Sind Emile und Caroline wirklich die Wohltäter, die sie vorgeben zu sein oder kommt ihnen Yoav nur gut gelegen, um Abwechslung in den eintönigen Beziehungsalltag zu bringen? Warum sieht Yoav ständig nur nach unten und welchen Sinn hat es, dem Zuschauer denselben Gehweg zu zeigen, den auch Yoav sieht, wenngleich die Sehenswürdigkeiten von Paris um Einiges aufregender wären? Bewusst wird der junge Israeli in jeder Szene gezeigt und steht dennoch nicht immer im Fokus der Geschichte. Nadav Lapid lässt den Zuschauer den subjektiven Blick Yoavs einnehmen, nur um genau so plötzlich wieder den Hauptdarsteller zu beobachten. „Synonymes“ ist mehr als nur ein einfaches Kinoerlebnis. Dieser Film verlangt seinem Publikum mehr ab als nur das Warten darauf, dass sich zum Schluss hin doch noch alles auflöst. Lapid zwingt den Zuseher förmlich dazu, sich mit dem Protagonisten auseinanderzusetzen – mit einem unnahbaren, undurchschaubaren jungen Mann. Da aber jede Szene entweder lustig, spannend oder dramatisch verläuft, wird man keine davon bereuen – ganz gleich, ob man zwischen den Zeilen lesen konnte oder nicht.
Synonymes
Regie: Nadav Lapid
Frankreich / Israel / Deutschland 2019, Französisch
123 Min · Farbe
Berlinale – Wettbewerb