Berlin: Tom Schilling spielt einen raffinierten Idealisten in Dominik Grafs zotteligem Porträt eines Weimarer Deutschlands am Rande der Selbstzerstörung. Der 3-stündige, verfilmte Bildungsroman „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“ ist erheiternder als der Filmtitel vermuten lässt, so viel steht schon einmal fest.
Deutschland liegt auf dem Krankenbett der Nachkriegszeit des 1. Weltkriegs und steht am Rande der Selbstzerstörung, in Dominik Grafs episch dimensioniertem und doch intimem, sehr scharf umrissenen Bild des Weimarer Berlins nach dem Ersten Weltkrieg. Die Vorzeichen deuten auf Sturm. Der 178-minütige Film wird seinem Titel im wahrsten Sinne des Wortes gerecht: „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“ wurde überwiegend mit einer digitalen Handkamera im boxed-in-Academy-Format gedreht und spielt sich in der schummrigen Unterwelt der Berliner Bordelle, Bars und Künstlerateliers ab. Grafs Film ist durchaus als Huldigung an das Filmeschaffen selbst zu sehen: die Abwechslung der verschiedenen Stile Schwarz-Weiß, flimmerndes Super 8, Stummfilm, Tonfilm sowie überrealistische HD-Einstellungen wechseln sich in kaum auffallender Weise ab. Auch ein paar historische Aufnahmen aus den Dreißigern sind zu sehen. Der Film, der seine Laufzeit vielleicht etwas zu stark mit schrägen und oft auch grotesken Nebenfiguren auffüllt, wird letztlich nicht nur, aber auch durch die schauspielerische Leistung von Tom Schilling in seiner Rolle brillant: er spielt den titelgebenden Idealisten, der das Verliebtsein dem Ehrgeiz vorzieht.

Fabian oder Der Gang vor die Hunde. Regie: Dominik Graf. © Hanno Lentz / Lupa Film
Jakob Fabian (Tom Schilling) ist mit 32 Jahren als Kriegsveteran zurück in der Stadt und von einer posttraumatischen Belastungsstörung geplagt, die seine literarischen Ambitionen im Zaum hält, während er tagsüber als Werber für eine Zigarettenfirma arbeitet, um wenigstens seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können. „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“ basiert auf Erich Kästners gleichnamigem Roman und spielt in einer für Deutschland sehr schwierigen, weichenstellenden Zeit, im Jahr 1931, in den vier Jahren zwischen dem Börsensturz von 1929 und der drohenden Machtübernahme der Nazis in Deutschland 1933. Alles ist instabil, und das Leben für einen Kriegsveteranen ist alles andere als einfach, also sucht Fabian Zerstreuung und besucht nachts die ausschweifenden Kabaretts, die das Bild der Berliner Vergnügungsmeilen damals bestimmten. Dort trifft er auf Cornelia Battenberg (Saskia Rosendahl). Sie ist eine aufstrebende Schauspielerin, die in sein Leben tritt, als Fabian gerade seinen Job verloren hat und die Arbeitslosigkeit in Deutschland ihren Höhepunkt erreicht hat. Er verschweigt ihr jedoch, dass er seinen Job auch deshalb verloren hat, weil er ständig zu spät kommt und seine Leistungen zu wünschen übrig lassen, denn er feiert die Nächte lieber durch anstatt sich mit seiner Arbeit zu beschäftigen.
Wie es sich für einen ausschweifenden Literaten und ein angehendes Filmsternchen am Berliner Sternenhimmel gehört, stürzen sich Fabian und Cornelia lustvoll in eine Romanze, die so gar nicht zu Fabians selbstgewählter Abgeklärtheit und seiner ironisch-fatalistischen Einstellung zu Beziehungen und der Institution Ehe passt. Cornelia hingegen ist so überhaupt nicht an Liebesbeziehungen interessiert, und ihre eigenen beruflichen Ambitionen überwiegen die von Fabian bei weitem. Schließlich lässt sie sich auf eine Art faustisches Spiel mit einem lüsternen Filmproduzenten ein, das Fabian zur Eifersucht treibt und die ansonsten idyllische, gerade zu unschuldige Atmosphäre zwischen den beiden bedroht. Währenddessen bahnt sich langsam eine politische Revolution an, denn immer wieder blitzen Nazi-Insignien im Bild auf und Zeitungsberichte über „Zeppeline in der Mitte“ deuten an, dass eine düstere Wolke über dem ohnehin schon gebeutelten Land schwebt. Die Stimmung im Jahr 1931 wird als spannungsgeladen, kaum aushaltbar dargestellt. Doch „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“ widersetzt sich dem politischen Anspruch und ist stattdessen eine Studie über den Zusammenprall zwischen den urbaneren Bürgern Berlins (einschließlich Fabians vornehmem akademischen Freund Labude, gespielt von Albrecht Schuch) und ihrem moralisch korrupten Gegenteil (einschließlich der Madame eines Bordells, die den ganzen Film hindurch auf mysteriöse Weise versucht, Fabian zur Arbeit für sie zu bewegen).
Zu Dominik Grafs bisherigen Filmen gehören eher seichtere Formate wie „Geliebte Schwestern“ und Krimis wie „Die Unbesiegbaren“ und die populäre Mafia-TV-Serie „Im Angesicht des Verbrechens“. Das von Graf und Constantin Lieb geschriebene Drehbuch begnügt sich damit, in keinem bestimmten Genre verankert zu sein und lebt trotz seiner konkreten Verortung im Berlin der frühen 1930er Jahre von einem Desinteresse an der Festhaltung an historischen Details. Barbara Grupps Kostümdesign ist nicht immer Weimar-spezifisch (ein Kleid zum Beispiel, das Fabian Cornelia schenkt, statt Miete zu zahlen, sieht auffallend zeitgenössisch aus), und das zurückhaltende Bühnenbild von Claus-Jürgen Pfeiffer wirkt oft so, als lebten wir in zwei Epochen gleichzeitig, was dem Anliegen des Films entgegenkommt.
„Fabian oder Der Gang vor die Hunde“ ist ästhetisch faszinierend, weil er sich wie Avantgarde-Jazz entfaltet, mit kontrapunktischen Bildern, die wie Splitscreens funktionieren, vor allem in der relativ erschütternd experimentellen ersten Stunde des Films, und der unharmonische Schnitt von Claudia Wolscht fühlt sich beinahe expressionistisch an, vor allem, wenn Fabians kriegsbedingte Trauma-Albträume anfangen, beängstigende, deformierte, monströse Gesichter und andere visuelle Impulse den Zuschauer in den Bann ziehen. Alles hat den Glanz eines verblassenden, orangefarbenen Sonnenaufgangs, und die unruhigen, hedonistischen Rhythmen des Films beginnen sich im Laufe des Films in etwas Ruhigeres und wohl auch Konventionelleres zu verwandeln (damit folgen sie übrigens auch dem Handlungsstrang des Films).
Schilling, der kürzlich in einem anderen deutschen Künstlerporträt in „Werk ohne Autor“ zu sehen war, kommt überzeugend rüber als ein Mann, der versucht, seine großen Ambitionen mit seinem Job als Vertriebsmitarbeiter zu vereinbaren, was Fabian jedoch nicht gut zu gelingen scheint. Der zierliche Schauspieler, der kleiner ist als viele der Co-Stars, mit denen er sich den Bildschirm teilt, mag nicht wie ein Held und Romantiker wirken, aber sein Charakter verkörpert einige dieser Attribute, selbst als seine Figur buchstäblich zu schrumpfen beginnt und kleiner, pathetischer und niedergeschlagener wird, während Deutschland die Zeit davonläuft im Wettlauf gegen die nationalsozialistischen Strömungen im Land, die längst nach der Macht greifen. Er ist toll als Fabian, denn er zeigt sich verletzlich, abgeklärt, dennoch mit einer Neugier aufs Leben, aber gleichzeitig vom Zweifel beherrscht, ob diese Welt „Talent zur Anständigkeit“ hat. Auf die Frage, was er denn tue, antwortet er: „Ich sehe zu.“ Und als er unerwartet sein Herz an eine Frau verliert, tut er das mit ebendieser Mischung aus Hoffnung und Demut vor dem unabwendbaren Lauf der Dinge. In einer unterbewerteten Rolle ist Saskia Rosendahl bemerkenswert als Cornelia, eine Frau, die Fabian, wie alles andere in seinem Leben, idealisiert und als ein Gefäß behandelt hat, auf das er seine Hoffnungen und Misserfolge projiziert. Als sich der haltlose Fabian dem Ende seiner Heldenreise nähert, steuert alles offensichtlich in eine vorhersehbar tragische Richtung.
Erstmalig hat Erich Kästner sein ironisch melancholisches Sittenbild vom Berlin der Zwanziger Jahre 1931 unter dem Titel „Fabian. Die Geschichte eines Moralisten“ veröffentlicht. Doch es dauert nicht lange und sein Roman fiel unter dem Vorwand der Sittenlosigkeit den Bücherverbrennungen zum Opfer. Der Autor wehrte sich zu Lebzeiten gegen eine Verfilmung seines Buches. Schließlich versuchte sich Wolf Gremm 1980 als Erster an der Verfilmung, mit Hans Peter Hallwachs in der Titelrolle. Mehrfach wurde der Stoff in den letzten Jahren auch für die Bühne adaptiert, unter anderem 2019 am Deutschen Theater in Berlin. Doch Graf macht seinen Fabian nun zu einem unberechenbaren visuellen Erlebnis, aufregend experimentell für einen 68-jährigen Filmemacher, der scheinbar immer noch in der Blüte seines Schaffens steht und immer noch in der Lage ist, den Geist der Zeit zu treffen.
Fabian oder Der Gang vor die Hunde
Regie: Dominik Graf
Deutschland 2021, Deutsch
176 Min · Farbe
Berlinale – Wettbewerb