Pazi, Margarita: „Staub und Sterne. Aufsätze zur deutsch-jüdischen Literatur“; Göttingen 2001.
Die literarische Welt von Gestern
Die israelische Literaturwissenschaftlerin Margarita Pazi (1920 bis 1997) – die Professorin lehrte an der Universität von Tel Aviv – ist hierzulande weithin unbekannt. Um diesem Umstand Abhilfe zu schaffen, veröffentlichten die in den USA lehrenden Wissenschaftler Sigrid Bauschinger (University of Massachusetts in Amherst) und Paul Michael Lützeler (Washington University in St. Louis) unter dem bezeichnenden und poetischen Titel „Staub und Sterne“ einen Sammelband mit 15 Beiträgen. Die hier zusammengefassten Aufsätze erschienen ab Mitte der achtziger Jahre bis zu ihrem Tod.
Schwerpunkt der wissenschaftlichen Beschäftigung Margarita Pazis war die deutsch-jüdische Literatur des böhmisch-mährischen Kulturraumes und hier vor allem die des „Prager Kreises“. Pazis Gesamtschaffen verzeichnet mehr als 120 Titel von Büchern und Aufsätzen über Werke und Schriftsteller des 19. und 20. Jahrhunderts. Die Rede ist von Franz Kafka über Ernst Weiß bis Max Brod; von Franz Werfel bis zu den Schriften Stefan Zweigs. Zwei Aspekte der literarischen Betrachtungen über Werk und Wirkung der Autoren sind in diesem Band besonders hervorzuheben, weil diese bislang Vergessenes (oder auch noch nicht Reflektiertes) dem hiesigen Leser nahe bringen: den Schriftsteller Ludwig Winder (1889 bis 1946) und deutschschreibende Autorinnen in Erez Israel und Israel.
Die Aufmerksamkeit der Literaturwissenschaftlerin erregte der heutzutage im deutschsprachigen Raum (immer noch) unbekannte Ludwig Winder, da er die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen nach Ausrufung der Tschechischen Republik (1918) widerspiegelt: „Winder ist vielleicht der einzige deutschschreibende Schriftsteller der ersten tschechoslowakischen Republik, der in seinen Romanen den historisch-politischen und wirtschaftlichen Umwälzungen innerhalb der neuen Grenzen Rechnung trägt und dabei eine politische Einsicht in die nationalen und gesellschaftlichen Probleme der zwanziger Jahre zeigt, der seine Darstellungen über ihren immanenten literarischen Wert hinaus zu Zeitdokumenten der CSR werden lässt.“ – 1922 erschien der bis dahin beste Roman („Die jüdische Orgel“) Ludwig Winders. Er zeichnet zugleich den Generationskonflikt zwischen dem orthodoxen Vater und dem Entwicklungsprozess des Sohnes nach. Das Kind sucht in Krankheit Schutz, selbst die Flucht in ein Studium bringt dem jungen Mann keine Befreiung. Der Versuch in eine nichtjüdische Welt aufzugehen, misslingt. „So sind wir Juden: nicht umzubringen, nicht klein zu kriegen, etwas Furchtbares steckt in dieser Zähigkeit, in dieser Lebenskraft … immer wieder beginnt in unserer Brust die Orgel zu brausen, die jüdische Orgel, grauenhaft ist dieser Segen, dieser Fluch.“
Die deutschsprachige Literatur Israels befindet sich in einer heiklen Situation. Unweigerlich steht für den geografischen Raum Vernichtung und Grausamkeit: Auschwitz. In ihrem Aufsatz „Staub und Sterne“ wandte sich Margarita Pazi Autorinnen zu, die nicht als Berufsschriftstellerinnen galten. Sie wanderten zum Teil vor den Verfolgungen in ihren Heimatländern aus und bekannten sich zum Zionismus oder suchten die Nähe Israels nach dem Holocaust. Ein Beispiel: Netti Boleslav (1923 bis 1981) wanderte 1936 nach Palästina aus. Einerseits fiel es ihr schwer, sich dem neuen Leben zuzuwenden, andererseits beherrschte sie Sehnsucht nach dem verlorenen Zuhause. Sie blieb ein Leben lang auf der Suche nach dem „Vollkommenen“: „…ihr unstetes innerstes Leben hinter der Fassade eines geordneten bürgerlichen Daseins enthüllt sich in ihren Schriften.“ Es gelang ihr nicht, das Schuldsyndrom der Überlebenden abzustreifen.
Autor: Uwe Ullrich
Pazi, Margarita: „Staub und Sterne. Aufsätze zur deutsch-jüdischen Literatur“; Wallstein Verlag, Göttingen 2001; Broschur, 304 Seiten, 48 Mark