David King: Stalins Retuschen. Foto- und Kunstmanipulation in der Sowjetunion, Hamburg 1997.
Das Foto aus dem Jahre 1924 zeigt einen Mann mittleren Alters, die Stirn leicht gefurcht, um die Augen tiefe Ränder und unübersehbare Falten. Der Mann ist Josef Stalin, Jahrgang 1879, Generalsekretär der kommunistischen Partei. Als dieses Foto fünfzehn Jahre später in einem Bildband zum 60. Geburtstag Stalins, jetzt mächtigster Mann der Sowjetunion, erscheint, hat sich Stalins Gesicht wundersam verändert: Die Falten sind fast ganz verschwunden, der zuvor etwas ungepflegte Schnurrbart sauber geglättet, die Stirnfurchen unsichtbar und die Augen strahlen einen milden Glanz auf den Betrachter aus: Sorgfältige Retusche nach Wunsch eines Diktators, der seinen Untertanen das Bild des ewig vitalen und kraftvollen Herrschers suggerieren wollte.
Mag man über solche Eitelkeiten eines Mächtigen schmunzeln, so ergreift einen bald das Entsetzen, wenn man sich das Ausmaß der systematischen Bildmanipulation in der Sowjetunion vergegenwärtigt. Rücksichtslos wurden Bilder für die Propaganda umgestaltet, unerwünschte Personen aus Fotos entfernt, andere neu eingefügt.
David King, ehemaliger Kunstredakteur der „London Sunday Times“ und ausgewiesener Kenner der sowjetischen Geschichte, hat in sorgfältiger Kleinarbeit zahlreiche Beispiele von Bildmanipulationen in der Sowjetunion zusammengetragen. Und sie zeigen vor allem eines: Die Menschenverachtung der stalinistischen Diktatur. Wer den Machthabern in die Quere kam oder innerparteilichen „Säuberungen“ zum Opfer fiel, wurde nicht nur politisch und physisch vernichtet, selbst seine Vergangenheit sollte aus dem kollektiven Bildgedächtnis gelöscht werden.
Die primitivste und zugleich brutalste Methode war dabei, unerwünschte Personen in Büchern zu schwärzen, ihre Gesichter zu übermalen, ihre Namen zu streichen. King bringt eine Reihe von Beispielen solcher Übermalungen.
Meist aber wurde raffinierter vorgegangen. Mit Skalpell, Tuschpinsel und Airbrush wurden Fotos solange bearbeitet, bis das neue Bild der Wirklichkeit dem Wunsch der Machthaber entsprach. Das zeigt King detailliert am Beispiel von Leo Trotzki. Trotzki, einer der führenden Köpfe der russischen Revolution, enger Mitarbeiter Lenins und Volkskommissar für das Kriegswesen, später für Auswärtiges, wurde nach dem Tod Lenins von Stalin mehr und mehr entmachtet, aus dem Politbüro der KPdSU entlassen und schließlich in die Verbannung geschickt. 1940 wurde er in seinem mexikanischen Exil ermordet.
Die stalinistische Propaganda war nicht damit zufrieden, seine Bedeutung für die Revolution zu schmälern: Systematisch wurden Bilder aus der Revolutionszeit von der Person Trotzkis „gesäubert“. So zeigt eine der berühmtesten Fotografien der Revolutionszeit Lenin am 5. Mai 1920 bei seiner Rede anlässlich des Abmarsches der Soldaten zur polnischen Front. Dramatisch über ein Holzpodest nach vorne gebeugt verkörpert Lenin in diesem Foto von G.P. Goldstein die ganze revolutionäre Dynamik des Kommunismus. Auf der rechten Seite des Holzpodiums steht Leo Trotzki, durch seine Position klar erkennbar als einer der führenden Revolutionäre und Mitarbeiter Lenins.
Jetzt, nach Ausschluss Trotzkis aus der KP, wurde das Bild häufig in einer stark beschnittenen Version verbreitet, in der Trotzki nicht mehr zu sehen war. Andere Versionen zeigten zwar das ganze Bild, Trotzki wurde aber wegretuschiert und an seine Stelle eine – original nicht vorhandene – Holztreppe zur Rednertribüne eingemalt. In einem großformatigen Gemälde von Isaak Brodski wurde die Szene weiter manipuliert: Anstelle von Trotzki stehen jetzt Reporter, die ehrfürchtig jedes Wort von Lenin notieren. Die Versammelten vor der Rednertribüne wurden zusätzlich mit roten Propagandaflaggen ausgestattet. Auch diese waren im Original nicht vorhanden.
Man musste aber keineswegs in den Machtkampf der kommunistischen Führung verwickelt sein, um der Bildretusche zum Opfer zu fallen: Auf einer Originalaufnahme aus dem Jahre 1930 beispielsweise sieht man vor einem Gebäude neben Stalin einen einfachen Mann, der dem „Generalissimus“ offensichtlich freundlich mit dem Zeigefinger den Weg zeigt. Doch das war den kommunistischen Propagandisten offensichtlich schon zuviel. Der große Führer braucht keine Ratschläge, und schon gar nicht vom einfachen Volk: Der Mann wurde aus dem veröffentlichten Bild kurzerhand gelöscht.
Aber die sowjetische Bildpropaganda konnte nicht nur löschen, mitunter montierte sie auch Personen neu in die Bilder. Weil Stalin seine Bedeutung in der frühen Revolutionszeit bedeutender darstellen wollte, als sie in Wahrheit war, ließ er sich in historische Fotos und Gemälde aus dieser Zeit einbauen. So zeigt ein vielfach in der Sowjetunion verbreitetes Gemälde von Michail Solokow die Rückkehr Lenins 1917 nach Rußland. Eine begeisterte Menge empfängt ihn am Bahnhof. Diese historisch belegte Szene wurde vom Maler durch ein Detail ergänzt: Hinter Lenin steigt auch Stalin aus dem Zug und erscheint so als wichtiger Berater und Verbündeter Lenins. Tatsächlich war Stalin bei der Rückkehr Lenins überhaupt nicht dabei.
Dass solche Bildvergleiche überhaupt möglich sind, ist häufig Zufall. Denn die Stalinisten verfolgten nicht nur ihre Rivalen, sondern auch deren Bilder, wo immer sie sie finden konnten. Schon ihr Besitz konnte mit Zwangsarbeit oder gar mit dem Tod bestraft werden. Nur durch glückliche Umstände überlebten manche dieser Originalbilder, sei es, weil sie in Privatbesitz waren oder bei der Säuberung der Archive schlicht übersehen wurden.
David King verzichtet in seinem Band auf ausführliche Analysen, die Bildbeispiele und ihre Erläuterungen sprechen für sich: Der kommunistischen Propaganda ging es um nichts Geringeres als eine neue Welt zu schaffen, in der sie allein bestimmen, wer in dieser Welt vorkommt oder nicht. Was als Wahrheit und Wirklichkeit durch die Massen wahrgenommen wird, so war man überzeugt, ist weniger durch objektive Tatsachen als durch die Medienpräsentation bestimmt.
Übrigens: Nicht immer war die kommunistische Propaganda nur an der Verjüngung ihrer Idole interessiert. Auf einem Bild, das Friedrich Engels gemeinsam mit Karl Marx zeigt, wurde Marx mittels einretuschierter tiefer Falten künstlich gealtert: Er sollte als der weise und verehrungswürdige Übervater der kommunistischen Ideologie erscheinen.
Autor: Bernd Kleinhans
David King: Stalins Retuschen. Foto- und Kunstmanipulation in der Sowjetunion, Verlag Hamburger Edition, Hamburg 1997, 192 Seiten, zahlreiche Illustrationen, € 25,00