
Je n’avais que le néant – “Shoah” par Lanzmann | All I Had Was Nothingness. Land: FRA 2025. Regie: Guillaume Ribot. Claude Lanzmann. Sektion: Berlinale Special 2025. Datei: 202503264_1. © USHMM et YAD VASHEM – Collection SHOAH de Claude Lanzmann
Ein archäologischer Blick hinter die Kulissen des Jahrhundertwerks
Guillaume Ribots „Je n’avais que le néant – ‚Shoah‘ par Lanzmann“ ist mehr als ein Making-of – es ist eine Metareflexion über die Unmöglichkeit und gleichzeitig die moralische Verpflichtung, den Holocaust filmisch zu erfassen. Der Film, der im Rahmen der Berlinale Special gezeigt wird, nutzt 220 Stunden unveröffentlichtes Rohmaterial aus Claude Lanzmanns zwölfjähriger Produktionszeit zu „Shoah“, um die Genese dieses epochalen Dokumentarwerks nachzuzeichnen. Durch die Montage von verworfenen Interviewsequenzen, gescheiterten Annäherungsversuchen an Überlebende und bisher unveröffentlichten Dialogen mit Tätern entsteht ein Porträt, das Lanzmanns Methode der „Architektur des Erzählens“ seziert – ein Film über einen Film, der selbst zum Kommentar über die Grenzen des Erinnerns wird.
Der Kern von Ribots Film liegt in der Entschlüsselung von Lanzmanns Arbeitsprinzipien. Wie Archivaufnahmen zeigen, bestand Lanzmanns Innovation darin, jegliche historischen Bilder zu verweigern und sich stattdessen auf die Kraft des gesprochenen Wortes und die physische Präsenz von Orten zu verlassen. In einer Schlüsselszene diskutiert Lanzmann mit seinem Team über Aufnahmen des Chelmno-Popen, der offenkundig lügt, während im Hintergrund versteckte Kameraaufnahmen des SS-Unterscharführers Franz Suchomel laufen. Ribot enthüllt, wie Lanzmann durch minutiös choreografierte Fragen – „kurze, präzise Stiche“ – die Täter in Widersprüche verwickelte. Besonders eindrücklich ist die Sequenz, in der Suchomel über Herzschmerzen klagt, die er zunächst auf die traumatischen Erinnerungen, dann aber auf ein „zu reichhaltiges Mittagessen mit Lachs“ zurückführt. Diese banale Entlarvung menschlicher Verdrängungsmechanismen wird bei Ribot zur ethischen Fallstudie: Wie filmt man das Unfassbare, ohne es zu trivialisieren?
Ribot strukturiert seinen Film chronologisch, von Lanzmanns ersten vergeblichen Versuchen, Überlebende wie Abraham Bomba in New York zu finden, bis zur ikonischen Friseursalon-Szene in Tel Aviv. Indem er Lanzmanns eigene Worte aus „Der patagonische Hase“ als Voice-over nutzt, schafft er ein Dialog zwischen dem jungen, kämpfenden Regisseur und dem späteren Mythos Lanzmann. Dieses Verfahren gipfelt in der Begegnung mit Simon Srebnik, dessen gespenstisches Lied auf dem Fluss Ner in Polen zum Leitmotiv beider Filme wird.
Visuell setzt Ribot auf eine bewusst spröde Ästhetik. Das grobkörnige 16mm-Material, die verwackelten Schwarz-Weiß-Aufnahmen von versteckten Kameras und die abrupten Schnitte zwischen Interviewfragmenten spiegeln Lanzmanns Suche nach einer „Form für das Formlose“. Eine Schlüsselsequenz zeigt, wie Lanzmann die Kamera minutenlang auf Bomba richtet, während dieser schweigt – eine Leerstelle, die in „Shoah“ fehlt, bei Ribot aber die quälende Spannung des Erinnerungsprozesses spürbar macht.
Gleichzeitig demontiert Ribot gekonnt die Heroisierung Lanzmanns. In Outtakes sieht man ihn wütend mit Historikern diskutieren, die ihm „zu viel Theorie“ vorwerfen, oder verzweifelt nach Geldgebern suchen. Diese Momente menschlicher Schwäche relativieren das Bild des unfehlbaren Auteurs, ohne seine Leistung zu schmälern. Dominique Lanzmanns Bemerkung bei der Premiere, ihr Mann habe „schon damals gewusst, dass jemand diesen Film über seinen Film machen würde“, wirkt wie eine ironische Fußnote zu seinem kontrollierenden Genius.
Ribot stellt unangenehme Fragen zur Archivpraxis. Warum zeigte Lanzmann nie die verstörenden Aufnahmen von Überlebenden, die während der Interviews zusammenbrachen? Oder jene Szene, in der polnische Bauern antisemitische Lieder singen, während sie Massengräber umackern? Die Antwort liegt in Lanzmanns rigoroser „Architektur“-Philosophie: Jedes Element musste dem „schwarzen Stern der Shoah“ dienen, metaphorische Überfrachtungen waren tabu.
Doch gerade diese Auslassungen machen Ribots Film politisch brisant. In einer Zeit, da rechte Regierungen in Europa Holocaust-Relativierung betreiben, wirken Lanzmanns unkommentierte Täterinterviews wie eine Warnung. Die verstörende Normalität, mit der Franz Suchomel von der „Arbeit“ in Treblinka spricht, entlarvt die Banalität des Bösen – ein Konzept, das Hannah Arendt zwar prägte, das hier aber erstmals filmisch konkret wird.
Die Premiere von „Je n’avais que le néant“ fällt in eine Berlinale, die selbst zum Schauplatz erinnerungspolitischer Konflikte wurde. Während der Staatsschutz wegen „Völkermord“-Vorwürfen in anderen Beiträgen ermittelt, setzt Ribot einen kontrapunktischen Akzent. Seine Entscheidung, Lanzmanns kompromisslosen Fokus auf jüdische Perspektiven zu betonen, wirkt wie eine implizite Kritik an vereinfachenden Israel-Palästina-Narrativen, die Teile des Festivals prägen.
Gleichzeitig verweist der Film auf aktuelle Leerstellen: Die Abwesenheit von Opfern anderer NS-Verfolgtengruppen – ein Kritikpunkt an „Shoah“ – wird bei Ribot nicht thematisiert. Stattdessen insistiert er auf Lanzmanns Diktum, der Holocaust sei „einzigartig, weil er die Vernichtung um der Vernichtung willen wollte“. Diese Engführung mag historisch korrekt sein, wirft aber Fragen nach der Repräsentation multipler Traumata auf.
„Je n’avais que le néant“ ist kein einfacher Film, aber ein essenzieller. Indem Ribot zeigt, wie Lanzmanns „Shoah“ nicht aus Inspiration, sondern aus scheiternden Versuchen entstand, demontiert er die Illusion historischer Gewissheit. Die rohen, ungeschnittenen Gespräche mit Tätern und Opfern – von Lanzmann bewusst aus dem finalen Film verbannt – entfalten bei Ribot eine eigene Wahrheit: Sie zeigen, dass Erinnerung kein Archiv, sondern ein steter Prozess ist.
In Zeiten, da Zeitzeugen sterben und Rechtspopulismus gedeiht, wird Ribots Film zum Appell: Die „Architektur“ von „Shoah“ war nie als Denkmal gedacht, sondern als lebendige Warnung. Seine letzte Einstellung – Abraham Bomba, der im Garten seiner Familie lachend mit Enkeln spielt, während seine Worte von den Gaskammern hallen – verewigt diesen Widerspruch: Das Leben geht weiter, aber nur, weil die Toten nicht vergessen werden. Für diesen schmerzhaften Dienst an der Erinnerung verdient Ribots Film nicht nur Beachtung, sondern den Status eines Pflichtwerks – sowohl für Cineasten als auch für alle, die verstehen wollen, warum Kunst scheitern muss, um zu bestehen.
„Shoah“ par Lanzmann / All I Had Was Nothingness – von Guillaume Ribot (Regie, Buch) / 94′ / Frankreich 2025 / Farbe / Französisch, Englisch, Deutsch, Polnisch / Untertitel: Englisch
Berlinale 2025 – Sektion Berlinale Special