Durch den Genozid an den europäischen Juden war der „herkömmliche“ Antisemitismus in der Öffentlichkeit delegitimiert. Das bedeutete aber keineswegs ein Verschwinden dieses traditionellen Ressentiments (was nun eher „hinter vorgehaltener Hand“ geäußert werden musste). Der alte Antisemitismus wurde an die neue Situation angepasst und äußerte sich primär – aber nicht ausschließlich – in Deutschland als sog. „sekundärer Antisemitismus“, als Antisemitismus nach Auschwitz oder als Antisemitismus nicht trotz, sondern wegen Auschwitz.
Dabei beginne ich mit einem historischen Streifzug der, sowohl in West- wie in Ostdeutschland, anhand einiger antisemitischer Skandale den Wandel des primären zum sekundären Antisemitismus verdeutlichen soll.
Antisemitismus im Nachkriegsdeutschland
Kontinuitätslinien des alten NS-Regimes sind vor allem in personeller Hinsicht in Westdeutschland zu beobachten. Der Kalte Krieg ermöglichte eine Rehabilitierung vieler ehemaliger Nazis in allen möglichen gesellschaftlichen Institutionen. Spektakulär waren die propagandistischen Auseinandersetzungen u. a. um Hans Globke. Während der damalige Bundeskanzler Adenauer an Globke als Staatssekretär festhielt, verurteile die DDR Globke, in Abwesenheit, zu lebenslanger Haft. Globke hatte an den juristischen Vorbereitungen zu den „Nürnberger Gesetzen“ mitgewirkt.
In der unmittelbaren Nachkriegszeit – bis etwa in die sechziger Jahre – kam es immer wieder zu antisemitischen Skandalen, in der „eine öffentliche Unterstützung für antisemitische Aktivisten zu erkennen“ (A. Pfahl-Traughber, Antisemitismus in der deutschen Geschichte, S. 132) war. Dazu kam es bei der Anklage gegen den „Jud Süß“-Regisseur Veit Harlan im Jahre 1949. Ähnliches ereignete sich beim Fall des Bundestagsabgeordneten der (an der Regierung beteiligten) Deutschen Partei, Wolfgang Hedler. Dieser hatte gesagt, dass man die Juden nicht hätte vergasen müssen, sondern dass es auch andere Wege gegeben hätte sich ihrer zu entledigen. 1959/60 erfolgte dann eine Welle antisemitischer Schmierereien gegen jüdische Einrichtungen. Allerdings setzt hier bereits eine deutliche öffentliche Skandalisierung und Verurteilung der antisemitischen Taten ein. Die Bewusstmachung der Naziverbrechen durch den Eichmann- und den Auschwitz-Prozess trug sicherlich zum Wandel bei. Trotzdem zogen Wahlerfolge der rechtsextremen NPD in den 60ern wiederum Verunsicherungen bei jüdischen Menschen nach sich. Der Ausstrahlung der TV-Serie „Holocaust“ im Jahre 1979 ging eine lebhafte Debatte voraus. Rechtsextreme versuchten mit Sprengstoffanschlägen auf Sendemasten in Koblenz und im Münsterland am 19. Januar 1979 die Ausstrahlung zu verhindern. Andere Eklats folgten, wie 1986 die skandalösen Äußerungen des CSU-Bundestagsabgeordneten Hermann Fellner und die des Korschenbroicher CDU Bürgermeisters Graf Spee im Zusammenhang mit Entschädigungszahlungen an Zwangsarbeiter belegen. Beide entschuldigten sich für ihre antisemitischen Ausfälle. Diskussionen in jüngerer Zeit waren die Flugblatt-Affäre um Jürgen Möllemann sowie die antisemitische Rede des CDU-Bundestagsabgeordneten Martin Hohmann. Seit den 90er Jahren nimmt auch die Zahl der Schändungen der jüdischen Friedhöfe erschreckend zu. Wurden im Zeitraum von 1950 bis 1959 10,1 Schändungen (Mittelwert pro Jahr) ermittelt, waren es zwischen 1990 und 1999 40,2. (A. Diamant, Geschändete Jüdische Friedhöfe in Deutschland, in: A. Pfahl-Traughber, Antisemitismus in der deutschen Geschichte, S. 142)
Umfrageergebnisse deuten auf einen Rückgang des judenfeindlichen Ressentiments seit den 60er Jahren hin. Nach den Wellen der Schmierereien in den Jahren 1959 und 1960 ergab eine „Untersuchung im internationalen Vergleich, dass 47 % der Deutschen und jeweils 46 % der Briten und Franzosen deutlich antisemitische Einstellungen erkennen ließen.“ (W. Benz, Was ist Antisemitismus?, S. 194) Diese Zahlen fielen bis 1988, als festgestellt wurde, dass „15 % der (West-)Deutschen als deutlich antisemitisch“ (W. Benz, Was ist Antisemitismus?, S. 194) eingestuft werden können. Nach der Wende und den ausländerfeindlichen Ausschreitungen und Morden verlagerte die Öffentlichkeit das Problem des Rechtsextremismus häufig in die neuen Länder. Unbestreitbar ist die Relevanz dieser Problematik (siehe Sachsenwahl im Jahr 2004). Aber: Rassistische Brandanschläge fanden eben auch in Mölln und Solingen statt.
Westdeutsche sind offenere für antisemitische Einstellungen
Interessant ist dabei auch die Tatsache, dass die Ostdeutschen für offen antisemitische Einstellungen offenbar weniger empfänglich sind. „So glauben nur 21 % der Ostdeutschen an einen übergroßen jüdischen Einfluss der Juden in der Welt. Indes sind es in den alten Bundesländern 25 %. Umgekehrt lehnen 71 % der Ostdeutschen solche Hirngespinste deutlich ab, im Westen dagegen nur 66 %.“ (Stand 2003) (W. Benz, Was ist Antisemitismus?, S. 199) Trotzdem bleibt ein konstanter Nährboden bestehen und es besteht kein Grund zur Entwarnung: „Jeder vierte Deutsche glaubt nach dem Umfrageergebnis an solche konfusen Weltverschwörungstheorien, die die Juden einmal als Vorkämpfer des Kapitalismus, ein anderes Mal als Vorkämpfer des Kommunismus sehen und mit der Vermutung, ‚die Juden‘ hätten zu viel Macht und Einfluss, allzu schlichte und deshalb gefährliche Welterklärungen anbieten.“ (W. Benz, Was ist Antisemitismus?, S. 199)
Bei öffentlichen Auseinandersetzungen wie der Goldhagen- und der Walser-Bubis-Debatte (auf die ich später noch einmal etwas ausführlicher eingehe), aber auch der Kontroverse um die „Wehrmachtsausstellung“ spielten Motive der deutschen Vergangenheitsbewältigung eine zentrale Rolle. Nach der staatlichen Einheit Deutschlands suchte man nach einer positiven nationalen Identifikation. Dem stehen aber die Shoa und die damit zusammenhängenden Schrecken im Weg.
Antisemitismus in der DDR
Während es offiziell – laut Staatsdoktrin – in der DDR keinen Antisemitismus gab, existierte im Mantel des Antizionismus das Ressentiment weiter. Dabei gilt es zu bedenken, dass (linker) Antizionismus durchaus mit antisemitischer Metaphorik operiert.
Aufgrund der antifaschistischen Staatsdoktrin der DDR wurden die kommunistischen Opfer des NS-Regimes in den Vordergrund gestellt. Häufig gerieten dabei die jüdischen Opfer in Vergessenheit. Darüber hinaus lehnte die DDR Entschädigungszahlungen an Israel ab, da man überzeugt war, das „andere“, „bessere“ Deutschland zu repräsentieren. „Statt einer inhaltlichen und öffentlichen Aufarbeitung der historischen Ereignisse und gesellschaftlichen Prägungen wurde die Formel beschworen, man habe als sozialistischer Staat die Grundlage für jeglichen Antisemitismus mit der Wurzel ausgerottet.“ (A. Pfahl-Traughber, Antisemitismus in der deutschen Geschichte, S. 144) Erst kurz vor ihrem Untergang nahm die DDR (weniger aus Überzeugung als aus Kalkül) diplomatische Beziehungen zu Israel auf. Bis dahin dominierte die antizionistische Sichtweise des „imperialistischen amerikanischen Brückenkopfes“ Israels. Diese Fokussierung auf Israel ist bereits ein wichtiger Anschlusspunkt für sekundär-antisemitische Motive.
Gemäß der marxistisch-leninistischen Auffassung sah man im Westen die gleichen „Imperialisten“ am Werk, die bereits den Zweiten Weltkrieg entfesselt hatten. So entdeckte die SED-Propaganda in der Bombardierung Dresdens bereits „anglo-amerikanischen Bombenterror“. Die Befreiung vom NS-Regime wurde alleine der Roten Armee zugeschrieben.
Vorhandener Antisemitismus in der DDR
Ein Beispiel für den vorhandenen Antisemitismus in der DDR ist der Schauprozess gegen das Politbüro-Mitglied Paul Merker zu Beginn der fünfziger Jahre. Als Vorbild diente der SED-Führung der Prozess gegen den tschechoslowakischen KP-Generalsekretär Rudolf Slansky 1952. Ähnlich wie Slansky wurde Merker als „zionistischer Agent“ und Interessensvertreter „der zionistischen Monopolkapitalisten“ verurteilt. Merker setzte sich für enteignete jüdische Bürger während der Nazizeit ein und forderte materielle Wiedergutmachung. (nach: L. Poliakov, Vom Antizionismus zum Antisemitismus, S. 70)
Diese – noch während der Zeit der stalinistischen Kampagne gegen „Kosmopolitismus“ stattfindenden – Prozesse zeigten klare Affinitäten zum antisemitischen Weltbild der „jüdischen Allmacht“ sowie der „jüdischen Weltverschwörung“ auf. Zur Zeit der stalinistischen Herrschaft lassen sich einige deutlich antisemitisch konnotierte Kampagnen in der Sowjetunion bzw. ihrem Machtbereich ausmachen. (Kampagne gegen den „Titoismus“ 1948/49, Ärzteverschwörung Ende 1952)
Doch auch nach dem Tod Stalins blieb der Antizionismus im Ostblock wichtiger ideologischer Bestandteil der offiziellen Staatsdoktrin. Die Solidarität mit den arabischen Ländern im Kalten Krieg führte die DDR – an der Seite der Sowjetunion – in Frontstellung gegen Israel. Die UN-Resolution im Jahre 1975, die besagte, dass der Zionismus eine Form des Rassismus darstelle, ging nicht zuletzt auf die Initiative der Ostblockstaaten zurück.
Lässt man eine Trennung (die realiter kaum existiert) von Antizionismus und Antisemitismus hier theoretisch kurz zu, dominierte in der DDR der Antizionismus, während der traditionelle Antisemitismus relativ gering ausgeprägt war. Bei einer Emnid-Umfrage von 1991 im Auftrag des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ wurden 16 % Antisemiten in Westdeutschland ermittelt. In Ostdeutschland betrug der Anteil 4 %. „Bei nahezu allen Fragen ergab sich ein eindeutiges Übergewicht der Befragten aus den alten Bundesländern, mit Ausnahme der Einstellungen zu Israel. Das Nachwirken der ‚antizionistischen‘ Agitation zu DDR-Zeiten dürfte dafür der Grund sein.“ (A. Pfahl-Traughber, Antisemitismus in der deutschen Geschichte, S. 145) Doch wie gesagt, für die heutige Diskussion ist dieser Punkt von großer Bedeutung.
Der sekundäre Antisemitismus
Das Phänomen des „sekundären Antisemitismus“ ist zuallererst eine Besonderheit in Deutschland nach dem Holocaust. Weder erfanden die Nationalsozialisten den Antisemitismus in Deutschland, noch kann davon ausgegangen werden, dass dieses Vorurteil am 8. Mai 1945 von der Bildfläche verschwand. Das Zentrum dieses Motivs wird in der sarkastischen Aussage „Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen“ ausgedrückt. Bekannt wurden die Aussage und das Phänomen durch das Buch „Der ewige Antisemit“ von Henryk M. Broder Mitte der 80er Jahre. Konkret entsteht ein neues judenfeindliches Stereotyp „nicht trotz, sondern wegen Auschwitz“ (L. Rensmann, Kritische Theorie über den Antisemitismus, S. 231). Die Vertreter der „Frankfurter Schule“ sprachen treffend vom „Schuldabwehrantisemitismus“.
Gerade in der Nachkriegszeit – nach Auschwitz – über Juden oder Israel zu reden, erforderte neue Spielarten des antisemitischen Vorurteils. Darunter fällt die Behauptung, dass Juden das Leid des Holocaust besonders für ihre gegenwärtigen politischen Zwecke ausnutzen würden (was sich häufig in Debatten um Israels Existenzrecht äußert). „Laut einer Emnid-Untersuchung des Jahres 2001 stimmen fast 80 Prozent der 25- bis 29-Jährigen ganz oder zum Teil der Aussage zu: ‚Jüdische Organisationen stellten überzogene Entschädigungsforderungen an Deutschland, um sich zu bereichern.‘ Diese Ergebnisse werden zum so genannten ‚sekundären Antisemitismus‘ gerechnet, also zu der Judenfeindlichkeit, die daraus erwächst, dass Juden an das Verbrechen des Holocaust durch Deutsche erinnern und somit eine positive Identifikation mit Deutschland im Sinne patriotischer Gefühle erschweren.“ (P. Gessler, Der neue Antisemitismus, S. 12) Da jüdische Menschen bereits aufgrund ihrer Existenz an das Menschheitsverbrechen erinnern, werden diese zum Objekt abwehr-aggressiver Projektionen. Gerade diejenigen, die sich der „Versöhnung“ mit den Deutschen widersetzen bzw. die offizielle Erinnerungspolitik in Frage stellen, werden häufig als „unversöhnliche, rachsüchtige Verfolger konstruiert und verachtet“ (L. Rensmann, Kritische Theorie über den Antisemitismus, S. 234).
Analog verhält es sich mit dem Staat Israel. Die unzähligen Verlautbarungen und Vergleiche des Vorgehens der israelischen Armee mit Vokabeln aus der NS-Zeit lassen deutlich erkennen, dass der Wunsch existiert, auch die „Juden“ als Täter zu identifizieren, und die singuläre Tat der Shoa zu relativieren, um die deutsche Untat als „eine unter vielen anderen“ zu subsumieren. „Voraussetzung der ‚Erlösung‘ (der Befreiung des deutschen Nationalgefühls vom Albtraum des historischen Judenmords, J. B.) ist aber eine Schuld der Juden. Die Opferfunktion der Juden muss daher außer Kraft gesetzt werden; Juden, die als Täter wahrgenommen werden, erlauben es, Gefühle der Empathie, des Schuldbewusstseins, des Unbehagens durch Parteinahme gegen die Juden zu ersetzen. Dazu braucht man darstellbare Gründe: etwa die Politik Israels.“ (W. Benz, Was ist Antisemitismus?, S. 24)
So meinte der Leiter des Deutschen Orientinstituts, Prof. Udo Steinbach, im Januar 2003 die Intifada mit dem Aufstand im Warschauer Ghetto, bezüglich der Verwendung des Begriffes Terrorismus, vergleichen zu können. (nach: Konkret 2/2003, S. 11) Ex-Bundesarbeitsminister Norbert Blüm sprach vom „hemmungslosen Vernichtungskrieg“ der Israelis gegen die Palästinenser angesichts der Vorgänge im Flüchtlingslager Dschenin. (D. Rabinovici, U. Speck, N. Sznaider, Neuer Antisemitismus?, S. 8. und: W. Benz, Was ist Antisemitismus?, S. 206) Unter dem Deckmantel von Frieden und Menschenrechten wird Israel dämonisiert, während man das Bedürfnis nach Sicherheit des jüdischen Staates vor Angriffen unter den Tisch fallen lässt. Ganz zu schweigen von der vorherrschenden Stille, wenn es um die Zustände und Verfasstheit der Gegner Israels geht.
In den Veröffentlichungen der radikalen Linken aus Deutschland, vor allem in den 70er und 80er Jahren, war es völlig normal, Israel als den „neuen faschistischen Staat“ zu delegitimieren. Exemplarisch sei hier auf die Erklärung der „Schwarzen Ratten/Tupamaros Westberlin“ verwiesen, die am 9. November (!) 1969 jüdische Mahnmale aus „Solidarität mit dem palästinensischen Volk“ beschmierten, und erklärten, dass „aus den vom Faschismus vertriebenen Juden“ nun „selbst Faschisten geworden“ seien (T. Haury, Zur Logik des bundesdeutschen Antizionismus, in: L. Poliakov, Vom Antizionismus zum Antisemitismus, S. 136). Auch Rechtsradikale nutzen dieselbe Argumentationskette, wenn sie am 03.06.2003 in Hagen gegen den Besuch des Zentralratsvorsitzenden Paul Spiegel unter dem Motto: „Der Rassismus ist ein Meister aus Israel“ demonstrieren.
Diskussionen in Deutschland um den Schlussstrich oder um die „Schuld“ der Befreier werden ebenfalls häufig von unterschwelligen sekundär-antisemitischen Motivlagen begleitet. Aktuell konnte man diese Tendenzen wieder im Streit um die NPD-Äußerungen im sächsischen Landtag beobachten. Dass die Tatsache der Parlamentszugehörigkeit einer offen nationalsozialistisch und geschichtsrevisionistisch argumentierenden Partei allein schon unerträglich genug ist, steht außer Frage. Aber deren Rede vom „Bomben-Holocaust“ fiel natürlich nicht vom Himmel. Der Bestsellerautor Jörg Friedrich (ein bis dato eher „links“ und progressiv einzuordnender Historiker) verwendete in seinem Buch „Der Brand“ eindeutige Vokabeln, die Assoziationen mit dem Vernichtungswahn der Nazis herstellten. Die Luftschutzkeller werden als „Gaskammern und Krematorien“ bezeichnet, aus Bombenopfern werden „Ausgerottete“. Heribert Prantl verwies in einem Artikel, der in der Süddeutschen Zeitung erschien, ebenfalls auf diese Tatsache hin. Sogar die Wortschöpfung des „Bomben-Holocaust“ sieht er durch das Buch von Friedrich „sprachlich vorgeformt“. Prantl weiter: „Der Historiker Hans Ulrich Wehler hat das scharfsinnig analysiert: ‚Wenn Friedrich schreibt, die Bomberflotten seien ‚Einsatzgruppen‘, brennende Luftschutzkeller ‚Krematorien‘ und die Toten ‚Ausgerottete‘, dann hat man sprachlich die völlige Gleichsetzung mit dem Holocaust.‘“ (H. Prantl, Auschwitz, beiseite gebombt, Süddeutsche Zeitung, 24.01.2005, siehe auch: H. Heer, in: Konkret 1/2004, S. 34 – 37 und: Konkret 2/2004, S. 37 – 39)
Die erste große Manifestation dieses „Schuldabwehrantisemitismus“ in der Berliner Republik war die Walser-Rede in der Frankfurter Paulskirche 1998. Walser sprach in seiner Laudatio vom Holocaust als eine „Dauerrepräsentation unserer Schande“, von einer „Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken“. Auschwitz sei ein „jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel“ um „alle Deutschen“ zu verletzen. Die 1.200 Zuhörer – die Elite Deutschlands – stand auf und applaudierte „stürmisch“. Nur Friedrich Schorlemmer, Ignatz Bubis und seine Frau blieben sitzen. Auch Walser galt bis dahin als ein „Linker“, als progressiver Intellektueller.
Alle Motive der Leugnung, der Relativierung sowie der „Schlussstrich“-Forderung spielen also im Komplex des sekundären Antisemitismus eine Rolle. Simplifizierend ausgedrückt handelt es sich um eine Projektion, um das eigene Eingeständnis des im deutschen Namen verübten Verbrechens zu verhindern. Bleibt die Leugnung des Verbrechens notorischen Rechtsextremisten vorbehalten, sind Relativierung und „Schlussstrich“-Mentalitäten im öffentlichen Diskurs durchaus wahrzunehmen. Relativieren kann einerseits heißen, die neuen „Nazis“ oder „Rassisten“ sind die Israelis, während man in Deutschland aus der Vergangenheit gelernt habe. Auf der anderen Seite kann eine (gleichberechtigte) deutsche Opferrolle konstruiert werden, die sich in Büchern wie „Der Brand“ findet. In beiden Fällen wird die deutsche Nation entlastet, wohingegen Israel oder die Sieger dämonisiert werden.
Bereits Theodor W. Adorno erkannte diese Tendenz: „Zuweilen werden die Sieger zu Urhebern dessen gemacht, was die Besiegten taten, als sie selber noch obenauf waren, und für die Untaten des Hitler sollen diejenigen verantwortlich sein, die duldeten, daß er die Macht ergriff, und nicht jene, die ihm zujubelten. Die Idiotie alles dessen ist wirklich Zeichen eines psychisch Nichtbewältigten, einer Wunde, obwohl der Gedanke an Wunden eher den Opfern gelten sollte.“ (T. W. Adorno, Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit?, S. 557)
Sekundärer Antisemitismus speist sich somit einerseits aus dem telos, die „Juden“ (bzw. den Staat Israel) als „genau so schlimm“ wie die NS-Militärmaschinerie darzustellen. Andererseits verunmöglicht die Erinnerung an die Shoa eine absolut unverkrampfte Identifikation mit der deutschen Nation, was immer wieder dazu führt, Israel bzw. „die Juden“ eines ähnlichen Vergehens überführen zu wollen. Möglicherweise liegt gerade im Zusammenspiel des DDR-Antizionismus und dem Vorwurf der finanziellen „Ausbeutung“ des Leids in Westdeutschland die Symbiose, die den sekundären Antisemitismus im geeinten Deutschland prägte. In den 90er Jahren stand die Erinnerung an die Schrecken der NS-Zeit dem positiven Bild Deutschlands im Wege. In neueren Diskursen wird das Gedächtnis an die Naziverbrechen zum Bestandteil der nationalen Identität gemacht was wiederum eine unbefangenere Diskussion auch um die deutschen Opfer ermöglicht. Hauptsächlich aber fokussiert sich die sekundär-antisemitische Motivation meist in der Dämonisierung und Delegitimierung des Staates Israels aber auch zunehmend z. B. dem Zentralrat der Juden (wie z. B. während des Libanonkrieges geschehen).
Autor: Jochen Böhmer
Literatur
Adorno, T. W.: Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit, in: GS 10.2, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1997, S. 555 – 572 (Hg. R. Tiedemann).
Benz, W.: Was ist Antisemitismus?, C. H. Beck Verlag, München, 2004.
Bergmann, W. und Erb, R., Antisemitismus in Deutschland 1945 – 1996. Erschienen in: Benz, W./Bergmann W.: Vorurteil und Völkermord. Entwicklungslinien des Antisemitismus, Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 1997, S. 397 – 435.
Broder, H.: Der ewige Antisemit. Über Sinn und Funktion eines beständigen Gefühls. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/Main 1986.
Gessler, P.: Der neue Antisemitismus, Herder Verlag, Freiburg im Breisgau, 2004.
Haury, T.: Von der Leine gelassen Vom primären zum sekundären Antisemitismus, in: Frankfurter Rundschau, 31.05.2002 (http://venceremos.antifa.net/antisemitismus/walserinpirna.html) – Seite nicht mehr abrufbar / 15. November 2014 (Snapshot vom 21. Februar 2006 in der Internet Archive Wayback Machine)
Heer, H. Brandstifter, in: Konkret, Hamburg, 1/2004, S. 34 – 37 und in: Konkret, Hamburg, 2/2004, S. 37 – 39.
Heer, H.: Vom Verschwinden der Täter. Der Vernichtungskrieg fand statt, aber keiner war dabei. Aufbau-Verlag, Berlin 2004.
Pfahl-Traughber, A.: Antisemitismus in der deutschen Geschichte, Landeszentrale für politische Bildungsarbeit Berlin, 2002.
Poliakov, L.: Vom Antizionismus zum Antisemitismus, Ca-Ira-Verlag, Freiburg (Breisgau), 1992.
Prantl, H.: Auschwitz, beiseite gebombt, in: Süddeutsche Zeitung, 24.01.2005 (http://www.sueddeutsche.de/,tt2m2/ deutschland/artikel/534/46488/print.html) am: 28.03.2005.
Rensmann, L.: Kritische Theorie über den Antisemitismus, Argument Verlag Berlin, 1998.
Rabinovici, D., Speck U.: Neuer Antisemitismus?, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, Sznaider N. (Hg.) 2004.
Simmel, E. (Hg.): Antisemitismus. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/Main 2002.
Steinbach, U.: Vortrag des Leiters des Deutschen Orientinstituts bei einem Empfang der Probstei Salzgitter, in: Konkret, Hamburg, 2/2003, S. 11.