Hans-Jürgen Döscher: Seilschaften. Die verdrängte Vergangenheit des Auswärtigen Amtes. Berlin 2005.
Der Autor des zu besprechenden Bandes, Studiendirektor und Lehrbeauftragter für Neuere Geschichte an der Universität Osnabrück, gilt seit seiner Dissertation zur Geschichte des Auswärtigen Amtes im Dritten Reich (1987 bei Siedler erschienen) als anerkannter Fachmann zu diesem Themenkomplex. Nun legt er die Ergebnisse dieser Dissertation zusammen mit seinem 1995 erschienenen Buch „Verschworene Gesellschaft. Das Auswärtige Amt unter Adenauer zwischen Neubeginn und Kontinuität“ in aktualisierter Form vor. Der Band kommt zur rechten Zeit, nicht nur weil beide Werke Döschers vergriffen waren, fundiert es doch quellengesättigt und streng faktenorientiert die emotionalisierte Diskussion um die Vergangenheit des Auswärtigen Amtes, die seit dem Frühjahr 2005 verstärkt aufkam und bis heute anhält, nachdem der damalige Bundesaußenminister Fischer dem verstorbenen Botschafter Franz Krapf aufgrund dessen NSDAP- und SS-Vergangenheit das „ehrende Gedenken“ in einem amtsinternen Mitteilungsblatt verweigert und so die jahrzehntelange Gedenkpraxis durchbrochen hatte. Die Entscheidung Fischers hatte eine privat finanzierte Anzeige von 128(!) ehemaligen Diplomaten „In memoriam Franz Krapf“ in der FAZ vom 9.2.2005 zur Folge.
Döscher weist nach, dass die überlieferten SS-Personalakten der beschönigenden Selbstdarstellung Krapfs in vielfacher Hinsicht widersprechen. Tatsächlich wurde Krapf im Mai 1933 in die SS aufgenommen, stieg 1938 zum SS-Untersturmführer auf, arbeitete für den Sicherheitsdienst (SD) des Reichsführers SS und wurde zur Mitarbeit des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) „laufend herangezogen“ (S.85). Trotz seiner Tätigkeit in verbrecherischen Organisationen machte Krapf in den 50er Jahren Karriere als Diplomat: zunächst als Ständiger Vertreter des deutschen Botschafters bei der Nato, dann bis 1961 als Gesandter bei der Botschaft Washington, zwischen 1961 und 1966 als Leiter der II. Politischen (Ost-West-)Abteilung im Auswärtigen Amt, anschließend als Botschafter in Tokio. Krapf beendete seine Karriere als Ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland beim Nato-Rat in Brüssel in den 70er Jahren. Dass die NS-Vergangenheit des Diplomaten Franz Krapf kein Einzelfall ist, sondern die Feststellung des damaligen Abgeordneten Fritz Erler in der nichtöffentlichen Sitzung des Bundestagsuntersuchungsausschusses zur Personalpolitik des Auswärtigen Amtes am 14.2.1952, es gebe „kein Bundesministerium, das in dieser Weise die Kontinuität der Berliner Tradition fortsetzt wie das Auswärtige Amt“, den Tatsachen entspricht, erhärtet Döscher an etlichen prominenten Diplomaten. So z.B. am Fall des mit dem Großen Verdienstkreuz ausgezeichneten Botschafters der Bundesrepublik Deutschland im Irak 1960-1963, Werner von Bargen, dessen Stilisierung zum Widerstandskämpfer und angeblichen indirekten Beteiligung am Attentat des 20. Juli 1944 den Quellen Hohn spricht. Tatsächlich war von Bargen nicht nur schon im Frühjahr 1933 der NSDAP beigetreten, sondern stimmte in seiner Funktion als Gesandter und Vertreter des Auswärtigen Amtes beim Militärbefehlshaber 1940-1943 in Brüssel dem Abtransport von Juden zu, die „fast alle in Auschwitz den Tod (fanden), darunter mehrere tausend jüdische Kinder“ (S.77).
Die Wiederverwendung ehemaliger NS-Diplomaten ist Döscher zufolge dadurch möglich geworden, dass „der Auswärtige Dienst im Kern zwischen 1949 und 1951 unter Ausschluss der Öffentlichkeit und weitgehend unabhängig von politisch parlamentarischer Kontrolle entstanden“ war (S.319). Eine maßgebliche Rolle gespielt habe hierbei der außenpolitische Berater Adenauers, Herbert Blankenhorn, der weitgehend ungehindert personalpolitische Entscheidungen treffen konnte. Bemerkenswert erscheint dem Rezensenten die Tendenz des Autors, eindeutig recherchierte Fakten und darauf basierende Feststellungen wohl im Sinne einer wie auch immer verstandenen Ausgewogenheit wieder zu relativieren. So konstatiert Döscher, dass bei der jungen Bundesrepublik Deutschland „rund zwei Drittel der leitenden Positionen im Auswärtigen Amt (vom Referatsleiter an aufwärts) mit ehemaligen Parteigenossen besetzt“ waren, verneint dann aber die These von der „kompletten Restauration“, da „Diplomaten aus dem engsten Umfeld von Ribbentrops und solche mit früher Bindung an die SS, die im Gefolge Ribbentrops oder auf Empfehlung Himmlers zwischen 1938 und 1941 ins Amt gelangt waren, in der Regel nicht übernommen wurden“ (S.323). Der Frage nach der Einflussnahme und dem Beziehungsgeflecht dieser „nicht übernommenen“ engsten Mitarbeiter Ribbentrops geht er nur ganz am Rande nach. So weist er etwa bei dem Pressechef Ribbentrops Paul Karl Schmidt lediglich auf dessen Autorenschaft für die ZEIT nach dem Krieg hin. Den Tatbestand, dass der stellvertretende Leiter der rundfunkpolitischen Abteilung des Auswärtigen Amtes, Kurt Georg Kiesinger, zum Regierungschef der Bundesrepublik Deutschland avancierte, thematisiert er ebenfalls nur marginal, wobei die schon 1969 erschienene Dokumentation Beate Klarsfelds „Die Geschichte des PG 2633930 Kiesinger“ weder im Anmerkungsapparat noch im Literaturverzeichnis auftaucht. Erwähnt wird das „Braunbuch“ der DDR; dieses enthalte „zwar zutreffende Details“, sei aber durch seinen „weitgehend denunziatorischen Charakter“ entwertet (S.315). Die Aufdeckung der Nazi-Vergangenheit führender Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes im „Braunbuch“ primär als „Denunziation“ zu bewerten, erscheint wenig ausgewogen, zumal die Rolle des Antikommunismus auf Seiten der Bundesrepublik ausgeblendet wird. Trotz dieser partiellen Unstimmigkeiten hat Döscher ein sorgfältig recherchiertes, umfassend dokumentiertes und gut lesbares Buch geschrieben.
Autor: Wigbert Benz. Erstveröffentlichung in: Informationen für den Geschichts- und Gemeinschaftskundelehrer. Heft 71/2006, S. 76 f.
Hans-Jürgen Döscher: Seilschaften. Die verdrängte Vergangenheit des Auswärtigen Amtes. (2005) 383 S., geb., 22,00 €. Propyläen Verlag, Berlin