Learning from the Past – Teaching for the Future
In Kooperation mit der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg haben wir in den letzten zwei Jahren fünf Schreibwerkstätten durchgeführt, in denen je fünf Zeitzeugen der NS-Zeit gemeinsam mit fünf jüngeren Teilnehmern eigene Kurzgeschichten zum Themenkreis Nationalsozialismus, Rassismus und Toleranz verfasst haben. Die folgenden Seiten beschreiben Ablauf und Ergebnisse dieser Seminare, skizzieren vorab aber auch kurz ein trinationales Projekt zu Holocaust-Unterricht und multikultureller Erziehung, das den Ausgangspunkt für die Schreibwerkstätten Wider das Vergessen bildet.
Ausgangspunkt: Learning from the Past – Teaching for the Future (TftF)

Seminarleiter Jörg Ehrnsberger (Osnabrück) und Johannes Heger (Konstanz)
Die Projektreihe Schreibwerkstätten „Wider das Vergessen“ begann mit einem anderen Programm: Learning from the Past – Teaching for the Future (TftF). Unter der Leitung des „Center for Jewish Studies“ und des „Canadian Centre for German and European Studies“ der York University in Toronto, Kanada, und in Kooperation mit der Adam Mickiewicz Universität in Poznań (Posen), der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder, der Heinrich-Böll-Stiftung sowie der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg wurde TftF erstmals 2001/2002 durchgeführt. Begleitet von Pädagogen, Politologen und Historikern waren im Sommer 2001 zwanzig kanadische, polnische und deutsche Studierende gemeinsam rund vier Wochen in Polen und Deutschland unterwegs, um Stätten des nationalsozialistischen Völkermordes zu besichtigen und sich mit Experten – auch zu Fragen heutigen Rechtsextremismus’ und Fremdenfeindlichkeit – auszutauschen. Ziel war es, sich an den historischen Orten mit dem Geschehen, aber auch mit dem Komplex der Vermittlung dieser Ereignisse im schulischen Kontext auseinander zu setzen. Allen Studierenden war gemeinsam, später in der schulischen, akademischen oder Erwachsenenbildung arbeiten zu wollen. Über TftF sollten sie kritisches und analytisches Denken einüben und dazu befähigt werden, den Holocaust zu unterrichten. Die Stärkung einer multikulturellen Gesellschaft der Toleranz ist das Ziel von TftF, und entsprechend versucht das Projekt, über die Auseinandersetzung mit der Rasse- und Vernichtungspolitik des Dritten Reiches Fremdenfeindlichkeit und Rassismus entgegenzuwirken.
Die nationale, aber auch religiöse Verschiedenheit der Teilnehmer – die sich nicht nur aus Katholiken, Protestanten und Juden zusammensetzten, sondern unter denen auch eine Hinduistin vertreten war – förderte die Sensibilisierung für Fragen nach historischer Sinnbildung und unterschiedlichen Erinnerungsmustern. Es ist zwar eine Binsenweisheit, dass geschichtliches Interesse und damit historische Analyse immer auch von bestimmten Vorprägungen und Intentionen gesteuert wird, gerade an diesem so virulenten Thema aber war das besonders erfahrbar. Oft und kontrovers wurde dabei auch die Frage des Zugangs zum Thema erörtert. Angesichts von Kofferbergen und Bergen menschlichen Haares in Auschwitz, aber auch vor dem Hintergrund einer vor allem in Deutschland und hier bereits vor Martin Walsers Rede von der „Moralkeule“ einsetzenden Diskussion über „Betroffenheitspädagogik“, wurde immer wieder über die Vorteile und Risiken rationaler und emotionaler Zugänge gesprochen. Von entscheidender Bedeutung sind diese Überlegungen für beide Rollen der Teilnehmer: Als spätere Lehrende wie als Lernende zum Zeitpunkt der Reise. Ziel des Programms war die kognitive Auseinandersetzung mit dem Historischen, nicht die Herstellung von Betroffenheit, Trauer und Wut. Anliegen war es, Emotionen zwar Raum zu geben und sie aufzufangen, das Geschehen aber nicht zu emotionalisieren. In der politischen Bildung ist dieses Vorgehen unter dem Stichwort des Überwältigungsverbotes bekannt, das sich prinzipiell auf alle Lehr- und Lernsituationen anwenden lässt: „Es ist nicht erlaubt, den Schüler – mit welchen Mitteln auch immer – im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der ‚Gewinnung eines selbständigen Urteils’ zu hindern. Hier genau verläuft nämlich die Grenze zwischen Politischer Bildung und Indoktrination. Indoktrination aber ist unvereinbar mit der Rolle des Lehrers in einer demokratischen Gesellschaft und der […] Zielvorstellung von der Mündigkeit des Schülers.“
Gleichzeitig wurde immer wieder die emotionale Eröffnung des Themas, die auch für dieses Themenfeld nötige Schaffung von Interesse und – bei aller nötigen terminologischen Vorsicht – auch Neugier über Herausgreifen von Einzelschicksalen, Bildern, Gedichten oder Liedern thematisiert. Ein Ziel der Reise war auch das konkrete Umsetzen dieser gemeinsam erarbeiteten und neu gewonnenen Erkenntnisse. Alle Teilnehmer sollten deshalb in einer auf die Exkursion folgenden Arbeitsphase die neuen Erfahrungen in einem pädagogischen Projekt umsetzen. Im Februar 2002 trafen sich alle Teilnehmer der Reise des vorangegangenen Sommers wieder, um die Ergebnisse der entstandenen Unterrichtsentwürfe und Bildungseinheiten zu präsentieren und zu diskutieren. Bei dieser Auswertungstagung an der York University in Toronto haben wir „Wider das Vergessen“ – als Konzept und ausgehend von den Erfahrungen der ersten beiden Seminare in Osnabrück und Bad Liebenzell – zum ersten Mal in einem offiziellen Rahmen vorgestellt.
Schreibwerkstätten „Wider das Vergessen“
Grundgedanke – Auswahl der Teilnehmer – Ablauf

Teilnehmer der Werkstatt.
Sowohl Jörg Ehrnsberger als auch Johannes Heger haben im vergangenen Jahr ihr Studium mit Arbeiten zum literarischen Schreiben abgeschlossen. Johannes Heger war zudem als Historiker gefragt, Jörg Ehrnsberger dagegen leitet schon seit mehreren Jahren Schreibwerkstätten, bislang jedoch ohne thematische Bindung. Gemeinsam mit Peter Trummer, dem Leiter der Außenstelle Stuttgart der Landeszentrale für politische Bildung, wurde ein Seminarkonzept entwickelt, das die Form literarischer Workshops für die von TftF behandelten Themen öffnen sollte und – wie wir nach fünf erfolgreichen Wochenenden behaupten können – auch geöffnet hat. Eingewiesen in elementare Kenntnisse des literarischen Schreibens, sollten durch die Teilnehmer der Schreibwerkstatt Kurzgeschichten entstehen, die sich thematisch mit Fragen des Holocaust, des Nationalsozialismus allgemein, aber breiter auch mit Rechtsextremismus und Rassismus auseinandersetzen konnten. Kurzgeschichten wie gesagt, keine Essays, und auch keine biographischen Berichte. Bei der Diskussion der Ergebnisse werden wir auf den Grund für diesen entscheidenden Punkt zu sprechen kommen. Die erste Schreibwerkstatt fand in Osnabrück statt. Über eine Zeitungsanzeige wurde die geplante Werkstatt bekannt gegeben und schnell wurde klar, dass es einen sehr hohen Bedarf an einer Werkstatt in dieser Form gibt. Das Telefon von Jörg Ehrnsberger stand über Tage nicht mehr still. Bei der Auswahl der Teilnehmer wurde darauf geachtet, dass sich unter den Teilnehmern keine „professionellen Zeitzeugen“ befanden, also keine Zeitzeugen, die bereits Vorträge und Lesungen zu ihren Erlebnissen in der NS-Zeit durchführten. Durch diese Auswahlkriterien sollte der Gefahr vorgebeugt werden, dass ein Ungleichgewicht im Geben und Nehmen, im Erzählen und Zuhören entstand. Unser Ziel war eine Gruppe gleichberechtigter und gleichbeteiligter Teilnehmer, die sich, was ihr Alter anging, in zwei Gruppen teilen sollten. Statistisch stand der Generation der Zeitzeugen eine Gruppe – Schüler, Studenten, in späteren Seminaren auch ältere „Nachgeborene“ – gegenüber, denen die Epoche des Nationalsozialismus nur noch über die Schule vermittelt worden war. Die älteste Teilnehmerin unserer fünf bisherigen Seminare war 83, die jüngste 16 Jahre alt.
Vom AStA der Universität Osnabrück unterstützt, startete die erste Werkstatt am Freitagabend um 18.00 Uhr, und auch die folgenden Werkstätten hatten für den Freitag einen Zeitrahmen von jeweils rund drei Stunden. Um die knappe Zeit zu sparen und langwierige Kennenlernspiele zu vermeiden, war die erste Schreibübung gleichzeitig die Vorstellung: Jeder der Teilnehmer sollte einen Brief an sich selbst oder einen Freund schreiben, sich dabei kurz vorstellen und erzählen, welchen Bezug er oder sie zum Thema hat. Eine Vorstellungsrunde konnte so mit der ersten Schreibübung verknüpft werden, gleichzeitig konnten sich die Teilnehmer noch einmal über ihre Erwartungen klar werden. Auf der Schreibebene hatte diese Übung den Zweck, einerseits über eine allgemein bekannte und im Alltag noch am ehesten praktizierte Textgattung erste Schreibschritte zu machen und andererseits auch den Adressatenbezug, der bei jedem Schreiben wichtig ist, zu trainieren. Außerdem sollten durch den sofortigen Schreibbeginn in einer bekannten Gattung Schreibblockaden entgegengewirkt werden. Das Vorlesen der Briefe brachte neben der Vorstellung der Personen erste Gespräche in Gang, die später beim Besuch des „Nachtfoyers“ der Städtischen Bühnen Osnabrück fortgesetzt wurden. In dieser regelmäßig nach dem Hauptprogramm des Freitagabends stattfindenden Kleinkunstreihe wurden von Schauspielern und Musikern des Theaters Chansons aus Theresienstadt und bekanntere Texte von Zeitzeugen vorgestellt. Die Veranstaltung stand im Zusammenhang mit unserem Seminar und diente dessen Vorstellung ebenso wie der Inspiration der Workshop-Teilnehmer. Vor allem aber schloss sich auch hier wieder ein geselliger literarisch-historischer Austausch an.

Teilnehmer der Werkstatt.
In den von der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg organisierten und unterstützten späteren Seminaren in Bad Urach und Bad Liebenzell war dieses weitere Gespräch schon durch die gemeinsame Unterkunft in den Tagungsstätten sichergestellt. Die Mühe und Fürsorge der baden-württembergischen LpB waren weitere wichtige Momente, eine sehr angenehme und entspannte Atmosphäre zu schaffen. Der Bedarf für den informellen Austausch zwischen Jung und Alt, und der Gewinn, den die einzelnen Teilnehmer für sich darin erkannt haben, war groß, dieses Bild vermittelten uns Evaluationsbögen ebenso wie persönliche Rückmeldungen. Auch die folgenden Tage brachten immer wieder die Möglichkeit des Nachfragens, des Erzählens und Erfahrungsaustausches. Am Samstagvormittag wurden im Kurzdurchlauf die Eckpunkte einer Kurzgeschichte besprochen und an Beispielen beleuchtet; u.a. Grundzüge einer Kurzgeschichte, Dialog, Spannung, Anfang und Ende, Figurenaufbau, „show, don’t tell“. Dieser Schritt sollte den Teilnehmern das grundlegende Instrumentarium zum Schreiben von Kurzgeschichten an die Hand geben. Nachmittags wurden dann die ersten Skizzen besprochen. Ideen, Gedanken oder Erlebnisse wurden unter dem Aspekt untersucht, ob sich aus ihnen eine abgeschlossene Geschichte entwickeln ließ. Gemeinsam wurde an den Konzepten gefeilt, bis jeder Teilnehmer seine Idee soweit bearbeitet hatte, dass sie sich als Kern für eine Kurzgeschichte eignete. Das Kriterium war, dass das Geschehnis auch für den Leser eine Relevanz besaß und nicht nur allein dem Autor verständlich blieb. Dieses Vorgehen sollte sicherstellen, dass jeder Teilnehmer mit geeignetem Material in die anschließende Schreibphase gehen konnte. In dieser Zeit des Schreibens standen die Kursleiter dann für eine intensive Einzelberatung zur Verfügung.
Am Sonntag hatten die Teilnehmer die Möglichkeit, ihre vorläufigen Schreibergebnisse der Gruppe vorzustellen. Gemeinsam wurde besprochen, wie die erste Version weiterentwickelt werden konnte. Hierzu wurden in den Gruppen exemplarisch an einigen Geschichten typische „Anfängerfehler“ aufgezeigt und besprochen, wie diese zu vermeiden waren. Es ging um stilistische Überlegungen, um die Abgrenzung von für die Geschichte Wichtigem von Unwichtigem und immer wieder um den Punkt, ob in der Geschichte auch das stand, was in ihr stehen sollte, oder ob auf dem Papier nur Eckpunkte dessen zu finden waren, was der Autor – und nur dieser – als Ganzes vor seinem inneren Auge sah. Die Kommunikation zwischen dem jeweiligen Verfasser und der übrigen Gruppe lief während des Vortrags und danach nach festen Regeln ab. Wir achteten darauf, dass sich kein „innerer Kritiker“ hören ließ, bevor der Autor seinen Text vorgelesen hatte. Niemand sollte vorab seinen eigenen Text klein reden, ihn auch nicht bereits im Vorfeld erklären oder in einen größeren Kontext stellen. Durch die empfangene Textkritik der übrigen – entsprechend unvoreingenommenen – Teilnehmer konnte jeder Schreibende sich ein Bild machen, wie die Geschichte – und nur diese allein – auf einen Zuhörer wirkt. Gemeinsam wurde daraufhin diskutiert, an welcher Stelle die Geschichte ausgebaut oder wo sie gekürzt werden konnte. Zweierlei wurde dadurch deutlich: Erstens, dass eine wirklich gute Geschichte selten auf einen Wurf entsteht, sondern dass gerade im Überarbeiten ein Großteil der Arbeit besteht. Und zweitens, dass kein Text und schon gar keine Idee so schlecht sind, wie man selbst in seiner Unsicherheit vielleicht meint und sie deshalb beiseite schiebt.
Erfolge – auf unterschiedlichen Ebenen
Besonders diese gemeinsamen Besprechungen, zusammen mit der gezielten Ausschaltung des „inneren Kritikers“, wurden von den Teilnehmern aller Werkstätten als sehr hilfreich erfahren. Hier wurde vielfach noch einmal konkret, was am Samstagvormittag theoretisch aufgezeigt worden war. Hier wurde von eigenen Schreiberfahrungen, aber auch Schreibblockaden erzählt. Und hier wurde spürbar, das haben uns die Teilnehmer berichtet und stützt unsere eigene Wahrnehmung, dass literarisches Schreiben zu einem guten Teil Handwerk ist, vor dem man sich nicht zu fürchten braucht und das entwickelt und eingeübt werden kann. Ein grundlegendes Ziel war damit erfüllt: Die Teilnehmer unserer themengebundenen Schreibwerkstatt hatten in den zweieinhalb Tagen ihre literarischen Kompetenzen erweitern können. Um diesen Ausbau der eigenen literarischen Fertigkeiten zu fördern, war es natürlich günstig, eine Gattung zu wählen, die – neben der Bearbeitungsmöglichkeit in nur zwei Tagen und der Konzentration auf einen Handlungsstrang – explizit nach der Lesbarkeit und eben nicht zwingend nach Authentizität und der Darstellung jeglichen erinnerten Wissens fragt.
Manche Zeitzeugin und manchen Zeitzeugen haben wir mit dem Versuch, aus der Vielzahl der Erinnerungen nur einen einzigen Handlungsstrang herauszuarbeiten, erst einmal irritiert. Schließlich kamen sie mit dem Ziel, alles aufzuschreiben, „genau so wie es war“. Kein erinnertes Detail sollte verloren gehen. Und gleichzeitig haben gerade diese Zeitzeugen dann erfahren, dass dieses Herangehen das Schreiben tatsächlich fördert: Gerade Teilnehmer, die mit einem riesigen Erinnerungsschatz in das Wochenende gestartet waren, die sich zunächst nicht davon lösen mochten und nur schwer zur Beschreibung einer nur kleinen Episode zu überzeugen waren, haben just darin – in der Konzentration auf die eine erzählte Handlung, auf den Vorrang von Einheitlichkeit und Spannungsaufbau – die Lösung ihrer schreiberischen Blockade erfahren. Einfühlsam haben gerade die anderen Gruppenmitglieder selbst in hohem Maß versucht, die Vortragenden vom Weglassen so manchen Details zu überzeugen und so den Spannungsbogen und die Abgeschlossenheit der Erzählung zu fördern.
Selbst wenn man den Adressatenkreis des eigenen Textes – und auch dieser sollte beim Schreiben ja immer mitgedacht werden – auch wenn man das Publikum also nur in der eigenen Familie sieht, in der viele Details als bekannt vorausgesetzt werden können, muss die flüssige Lesbarkeit der Geschichte ein entscheidendes Ziel darstellen. Selbst beim Schreiben nur für den eigenen Enkel oder die Nichte – die ja schon so etwas wie familiäres Interesse mitbringen und im Vergleich zum anonymen Leser wohl noch eher bereit sind, weiterzulesen – gelten literarische Kriterien wie Konsistenz und Spannung. Sie gelten umso mehr, wenn man eine größere Öffentlichkeit im Blick hat. „Ist das ein Mensch?“ von Primo Levi oder „Die Mütze“ Roman Fristers sind nicht allein deshalb so erfolgreich und können beispielsweise auch im Unterricht verwendet werden, weil sie ehrlich sind und aufrüttelnde Informationen liefern. Die Texte sind vor allem auch gut geschrieben. Niemand behauptet natürlich, an diese Beispiele heranreichen zu können, doch machen sie den Unterschied begreiflich zwischen Texten, die „nur“ authentisch sind, und solchen, die zugleich nach Regeln literarischen Schreibens funktionieren.
Diese Beschreibung sollte allerdings nicht das Bild entstehen lassen, Zeitzeugen wären die einzigen gewesen, die mit ihrer Geschichte ein wichtiges Bild, Erlebnis oder Gefühl darstellen wollten. Auch viele Texte der jüngeren Generation behandelten persönlich Erfahrenes, Nicht Fiktives. Nur stand hier für die AutorInnen nicht in erster Linie die getreue Wiedergabe, sondern die literarische Verwendbarkeit im Vordergrund. Und wenn man nach fünf Seminaren so etwas wie Motivkreise skizzieren will, dann fällt bei den jüngeren Teilnehmern einer auf: Eine Reihe von Texten behandelt den Umgang mit nationalsozialistischer Vergangenheit in der eigenen Familie. Ohne dass gleich eine schuldhafte Verstrickung angenommen werden muss, bleibt in der familieninternen Kommunikation doch offenbar vieles bruchstückhaft, und Nachfragen führen ins Leere. Ähnlich empfinden Schüler vielfach den schulischen NS-Unterricht: Man weiß, welche Reaktion und welches Empfinden von einem erwartet werden, Wissens- und mehr noch Verständnislücken bleiben aber bestehen. Diese Feststellungen erklären, warum auch das informelle Gespräch zwischen den Teilnehmern ein so wichtiges Element des Seminars darstellte, und dieses Thema fand – vergröbernd – zwei Formen des textuellen Niederschlags: Einerseits behandeln etliche Texte der jüngeren Teilnehmer die familiäre Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, oft ausgehend von einer überraschenden Entdeckung bezogen auf die eigene Familiengeschichte. Und auf der anderen Seite steht der Versuch des Verstehens und des literarischen Nachempfindens der damaligen Ereignisse – ganz besonders die Wirkung nationalsozialistischer Massenveranstaltungen. Natürlich blieben die anregenden Fragen und Gespräche nicht auf die reinen Arbeitszeiten beschränkt. Für manchen bot sich an den Wochenenden zum ersten Mal die Möglichkeit, sich in aller Ruhe mit Zeitzeugen, die auch bereit waren zu erzählen, zu unterhalten – abends und in den Pausen und auch über die Seminare hinaus, über das E-mails und bei späteren Treffen. Das gegenseitige Interesse war denn auch etwas, das von den Teilnehmern als besonders angenehm empfunden wurde. Das wurde während der Seminare schon deutlich und findet sich als Rückmeldung auch immer wieder in den Evaluationsbögen. Wir denken, dass diese Form des Dialogs auch durch das Nichtberücksichtigen „professioneller Zeitzeugen“ gestärkt wurde. Außerdem brachten natürlich alle TeilnehmerInnen bereits ein hohes Maß an literarischem und historischem Verständnis wie auch Einfühlungsvermögen mit. Ebenso stellt sich in der Rückschau aber die Verwendung eines explizit literarischen Seminars als sehr förderlich für ein gemeinsames und die Generationen übergreifendes Gespräch über die NS-Zeit dar, das alle Teilnehmer mit einbezieht. Einerseits wurde von uns immer versucht, allen Geschichten den gleichen Raum zu geben, andererseits konnten und sollten an die Geschichte ja vor allem auch literarische Fragen gestellt werden.
Dies bewirkte dreierlei: Erstens ist es unmöglich, eine Geschichte literarisch zu erfassen und voranzubringen, ohne sich konzentriert und mit dem Versuch des Verstehens auf sie einzulassen. Jede Erzählung musste schon aus literarischen Gründen sehr ernst genommen werden, und einer der schönsten Aspekte jedes Seminars war, zu sehen, mit wie viel Sensibilität und Offenheit von Seiten der Teilnehmer dies geschah.
Zweitens bestand immer die Möglichkeit, sich bei emotional zu bewegenden Details oder Momenten auf die literarische Ebene zurückzuziehen. Die Teilnehmer konnten ohne Druck berichten. Eine Diskussion, ein Gespräch waren möglich losgelöst von der Person, festgemacht an der literarischen Figur und am Stoff der Geschichte. Dies gilt im übrigen nicht nur für die konkret soziale, sondern auch für die textuelle Ebene. Fiktion – wenn auch nur vorgeblich – und dazu noch die Form der Kurzgeschichte lösen nicht nur vom Zwang des Authentischen, sondern auch davon, „alles“ erzählen zu müssen – als Möglichkeit, wie gesagt. Es war hilfreich, dass diese Alternative gegeben war. Das bedeutet aber nicht, dass sie immer ergriffen wurde. Viele Texte bestechen gerade aufgrund ihres Charakters des sich tatsächlich Ereigneten.
Der literarische Rahmen half drittens gerade der jüngeren Generation, sich als gleichberechtigte Partner mit einzubringen. Ein verständliches Ungleichgewicht im persönlich Erlebten konnte sich so erst gar nicht in einer ungleich verteilten Gesprächshierarchie niederschlagen. Oft waren gerade die jüngeren Teilnehmer bereits im literarischen Schreiben erfahren, oder doch zumindest schneller bereit, ihre Geschichten zu bearbeiten. Nach der samstäglichen Einführung war es entsprechend die Gruppe – und vielfach dabei die Jüngeren – in ebenso großem Maße wie wir als Seminarleiter, welche Hilfestellungen und Anregungen zu den einzelnen Texten gab. So war niemand nur „Lehrer“ oder nur „Lernender“. Förderten die Älteren mehr das historische Verstehen, so trug mancher junge Teilnehmer eher zum literarischen Verständnis der Gruppe bei. Ein sehr gemeinschaftliches Gefühl war die Folge, und die gute Gruppenatmosphäre wurde in den Evaluationsbögen auch immer wieder hervorgehoben. Wir waren und sind darüber sehr froh und wollen uns auf diesem Weg noch einmal bei allen Teilnehmern bedanken.
Ein Angebot an die Öffentlichkeit
Vielfach war gerade bei den älteren Autorinnen und Autoren das Schreiben für die Familie die erste, wenn nicht alleinige Motivation. Wir sind aber überzeugt, dass ihre Geschichten über diesen Rahmen hinaus spannend und faszinierend auch für eine größere Öffentlichkeit sein können. Die Kurzgeschichten sind nicht nur Endergebnisse eines Prozesses, der mit einem Projekt, das sich mit Fragen der historischen Sensibilisierung und der Toleranz beschäftigt hatte, gestartet war. Die Erzählungen können selber wieder Anstoß sein für ein historisches, soziales und politisches Verstehenwollen und menschliches Verstehen. Wir wissen, dass alle, die an den fünf Schreibwerkstätten „Wider das Vergessen“ in Osnabrück, Bad Liebenzell und Bad Urach mitgemacht haben, sich über eine solche Wirkung ihrer Geschichten sehr freuen würden.
Aus diesem Grund sind wir zurzeit auf Verlagssuche. Eine repräsentative Auswahl der entstandenen Kurzgeschichten soll publiziert werden, begleitet von Texten zur Einordnung und zum literarischen Schreiben. Wir stellen uns folgende Struktur des Sammelbandes vor:
- Einleitend wird der Ablauf der Schreibwerkstätten „Wider das Vergessen“ beschrieben.
- Der Bereich der politischen und gesellschaftlichen Bildung wird im Anschluss daran noch einmal gesondert beleuchtet, die Einordnung unseres Konzeptes in die öffentliche Bildungsarbeit und Erwachsenenpädagogik noch einmal deutlich herausgestellt.
- Kernstück des Bandes stellen zwischen 15 und 20 ausgewählte Texte dar, die in den bisherigen 5 Schreibwerkstätten entstanden sind. Zeitzeugen der NS-Zeit und nachgeborene AutorInnen halten sich dabei in etwa die Waage.
- Die Prinzipien des literarischen Schreibens werden in einem rund 35-seitigen Kapitel erklärt und über graphisch abgesetzte Beispiele ebenso wie durch den Verweis auf antike Poetiken vertieft.
- Sandra Maschmeier, Kunststudentin und zugleich selbst Teilnehmerin einer unserer Schreibwerkstätten, hat sich angeboten, einen Teil der Texte zu illustrieren.
- Ein Vorwort sowie ein biographischer Anhang zu den AutorInnen und den Herausgebern runden den Sammelband ab.
Autoren: Jörg Ehrnsberger und Johannes Heger