„Jemanden öffentlich beschämen ist wie Blutvergießen“ (Talmud).
Einleitung
Im Rahmen des Forschungsprojekts ‚Geschichte und Erinnerung’ führten wir, ein interdisziplinäres Forschungsteam, Interviews mit Männern und Frauen, die damals Hitler und den Nationalsozialismus bejaht und aktiv mitgetragen haben. Damit folgen wir einem Hinweis Theodor Adornos, der gefordert hatte, diese Personen und ihre Motive intensiv zu erforschen, denn „die Wurzeln sind in den Verfolgern zu suchen, nicht in den Opfern.“ (Adorno 1969, 87). Eine Erziehung nach und über Auschwitz, die dazu beitragen möchte, „daß Auschwitz nicht noch einmal sei“ (Adorno 1969, 85), muß die Auseinandersetzung mit den Motiven der aktiv am Nationalsozialismus beteiligten Männer und Frauen einschließen. Denn, so auch die Pädagogin Margarete Dörr „man kann die Gefährlichkeit des Nationalsozialismus nicht dadurch bekämpfen, daß man das, was für junge Menschen damals an ihm attraktiv war, einfach unterschlägt“ (Dörr, 1986, 49).
Durch die tiefenhermeneutische Auswertung (vgl. Marks & Mönnich-Marks 2003; H. König 1997 & 2003) der Interviews untersuchten wir folgende Fragen:
a) Was bewegte die Interviewten damals, Hitler und Nationalsozialismus zu bejahen und aktiv mitzutragen?
b) Wie ist diese Erfahrung heute in ihnen kognitiv und emotional gegenwärtig?
c) Was geschieht, wenn Angehörige der ‚NS-Generation’[1] und der folgenden, ersten Nachkriegs‚generation’ über die Zeit des Nationalsozialismus kommunizieren?
Das Projekt wurde durch die Ertomis Stiftung finanziert. Unsere Arbeit wurde supervisorisch begleitet. Die Einzelheiten unseres methodischen Ansatzes haben wir an anderer Stelle veröffentlicht (vgl. Marks & Mönnich-Marks 2003); in diesem Beitrag möchte ich Ihnen eines unserer Forschungsergebnisse vorstellen und dessen aktuelle Bedeutung für die Schule skizzieren.
Im Zusammenhang mit den von uns geführten Interviews machten wir überraschend und wiederholt die Beobachtung, daß wir, Interviewer und Interviewerinnen, im Anschluß an ein Interview Scham empfanden. Solche Reaktionen werden in Tiefenpsychologie und qualititativer Sozialforschung als Gegenübertragungen bezeichnet (vgl. Devereux 1984; Gysling 1995; K. König 1998; Marks & Mönnich-Marks 2003). Sie weisen auf unbewusste Anteile in den beiden beteiligten Personen und im Gesprächsthema hin. Demzufolge deutet die Gegenübertragungs-Reaktion auf einen Zusammenhang zwischen Scham und Nationalsozialismus.
Über Scham und Scham-Abwehr
Zunächst einige Bemerkungen über die sozialen und psychologischen Aspekte von Scham (insbes. unter Berufung auf den Psychoanalytiker Leon Wurmser 1997): In vielen Kulturen werden bestimmte Charakterzüge oder Verhaltensweisen als beschämend oder unehrenhaft verurteilt, insbesondere all das, was als ‚Schwäche’ oder soziale Schwäche interpretiert wird, etwa das Zeigen von Güte oder Empathie, Furcht vor Aggression, Mangel an Selbstkontrolle, Weichheit, homosexuelle Wünsche, Mangel an Kompetenz, Verlieren, Armut, Abhängigkeit, Annehmen von Almosen, Schulden, Mangel an Bildung. Insbesondere in feudalen und militaristischen Gesellschaften, deren Wertehierarchie auf der Polarität von Ehre und Scham gegründet ist, gilt Verrat oder Feigheit als unehrenhaft.
In den Sozialwissenschaften wird zwischen frühen (sog. ‚primitiven’[2]) Scham-Kulturen und ‚modernen’ Schuld- oder Gewissens-Kulturen unterschieden. Umgangssprachlich werden Scham und Schuld häufig verwechselt. Sie sind auch keine absoluten Gegensätze, sondern „existieren oft Seite an Seite im Individuum und sind eng miteinander verknüpft“ (Hultberg 1987, 93). Zwei wesentliche Unterscheidungskriterien sind:
a) die Kontrollinstanz ist bei Scham extern (die Blicke der Anderen), bei Schuld intern (Gewissen oder Über-Ich).
b) Scham ist ein narzisstischer Affekt, während Schuld auf das Du (den Geschädigten) bezogen ist.
In ‚Scham-Kulturen’ ist die Furcht vor Beschämung ein wesentlicher Faktor sozialer Kontrolle. So kann jede Abweichung von der allgemeinen Meinung, jede Eigentümlichkeit dazu führen, verspottet zu werden und den Einzelnen bis zum Selbstmord treiben. Die Furcht vor Lächerlichkeit schützt die bestehende Ordnung machtvoller als Ge- oder Verbote.[3]
Scham ist ansteckend; so schämt man sich nicht nur der eigenen Persönlichkeit, sondern z.B. schwacher Familienmitglieder, seiner ethnischen Gruppe oder Nation.
Scham ist „die verhüllte Begleiterin des Narzissmus“ (Wurmser 1997, 24). Sie taucht besonders in solchen Familienbeziehungen auf, deren Mitglieder verstrickt sind in gegenseitige Entwertungen, Verheimlichen oder Überwältigen, d.h. wenn die persönliche Grenze oder Integrität des Einzelnen nicht respektiert wird. Wurmser geht von einem grundlegenden ‚Doppel-Verlangen’ des Kindes aus, das von frühester Kindheit an wirksam ist und im späteren Leben in Krisen akut wiederbelebt werden kann: „Das Verlangen zuzuschauen und zu beobachten, zu bewundern und sich faszinieren zu lassen“ und zugleich „das Verlangen, sich auszudrücken und andere durch Selbstdarstellung zu faszinieren, sich ihnen zu zeigen und sie zu beeindrucken, mit dem anderen durch Kommunikation zu verschmelzen“ (Wurmser 1997, 258).
Der Vorläufer der Scham liegt im frühen Blickkontakt zwischen Eltern und Kind, wo solches schauen und angeschaut werden, fasziniert werden und faszinieren noch ineinander übergehen und wesentliche Kontaktform sind. Dabei wird, vor allem über die Augen, Liebe und Ungeliebt-sein sowie Macht und Ohnmacht ausgetragen. „Liebe und Macht liegen im Blick; aber dies bedeutet auch, daß es wegen dieses ‚hungrigen Blickens’ und dieses ‚sehnenden Auges’ Bloßstellung und Zurückweisung geben wird. Immer mit den Augen zu suchen und niemals zu finden, führt zu Scham.“ (Wurmser 1997, 161). Daher wird, wenn dieser Blick-Austausch in den ersten Lebensmonaten gestört wird, im weiteren Leben das Selbstwertgefühl gestört und die Grundlage für traumatische oder pathologische Scham gelegt. Diese bedeutet z.B., daß die Wirklichkeit und das eigene Verhalten erlebt wird als: ‚Ich bin ein Fehler’ statt: ‚Ich habe einen Fehler gemacht’.
Beobachtungen ergaben, dass Kleinkinder schon von den ersten Lebenstagen an mit Unlust und Rückzug reagieren (durch Abwenden des Blickes, Gesichts und Körpers), wenn der Augen-Kontakt mit den Eltern gestört ist. Dies ist z.B. der Fall, wenn die Eltern zudringlich sind, m.a.W. wenn sie die Grenzen des Kindes nicht respektieren (in Märchen und Mythen wird dies im Motiv des ‚bösen’ Blicks ausgedrückt); wenn sie unberechenbar mal nah, mal fern sind oder wenn sie depressiv, suchtkrank oder ihrerseits traumatisiert sind.
Scham entsteht also, wenn die Eltern das grundlegende Verlangen des Kleinkindes nicht befriedigen können: ihre Suche nach dem antwortenden „Glanz im Auge der Mutter“, von dem Kohut sprach als notwendiger Entwicklungsbedingung. Die genannten Rückzugsreaktionen entwickeln sich im 8. Lebensmonat zur Angst vor Fremden und ab etwa dem 18. Lebensmonat zu pathologischer Scham. Diese ist eine Antwort auf eine als traumatisch erlebte Hilflosigkeit durch Erniedrigung oder Zurückweisung: Liebesunwert sein heißt, ‚hungrig’ mit den Augen zu suchen und kein antwortendes Auge zu erblicken.
Das Gefühl bei Scham ist äußerst quälend, überwältigend, von alles verschlingender Qualität. Der sich-Schämende fühlt sich wie ein Nichts, absolut wertlos, leer, möchte verschwinden (‚im Boden versinken’). „Scham ist mit einer viel tieferen Angst als derjenigen vor Strafe verbunden, nämlich mit der Angst, aus der menschlichen Gesellschaft ausgestoßen zu werden. Scham bedeutet Angst vor totaler Verlassenheit, (…) vor psychischer Vernichtung.“ (Hultberg 1987, 92).
Eine Variante des verschwinden-Wollens ist das Ausdruckslos-werden, dabei wird das emotionale Leben unter dem Eis der Verleugnung eingefroren (Gefühlsstarre). Das Erleben wird derealisiert und depersonalisiert: ‚man’ (!) spricht nicht von sIch, zeigt keine Gefühle, da diese das Persönlichste und Verletzlichste sind. Daher werden weiche (‚schwache’) Stimmungen und Gefühle abgewehrt.[4]
Weitere Strategien, um Scham abzuwehren, bestehen vor allem in Verachtung, der Kehrseite der Scham: „Die Verwandlung von Scham in Gewalt gegen andere wendet Ohnmacht in Macht, Schwäche in Stärke, indem andere nun erleiden, was man eben noch selbst empfand.“ (Hilgers 1997, 171) Statt seiner selbst werden Andere beschämt, verspottet, missachtet, wie Luft behandelt, wie Dreck weggeschafft oder vernichtet; insbesondere diejenigen, die als ‚schwach’ (verwundbar, hilflos) angesehen werden. Andere Menschen werden entwertet zu Objekten und quantifiziert zu bloßen Ziffern und Teil einer Masse. Zynismus und Negativismus ist eine weitere Ausprägung von Verachtung: eine Abwehr gegen Ideale und Werte, die sich letztlich auch wieder gegen Mitmenschen richtet. Das Kerngefühl, liebesunwert zu sein, wird kompensiert durch grandiose Ansprüche und Idealisierungen[5] sowie durch Bemühungen, die ‚Ehre’ wiederherzustellen.[6]
Scham, Scham-Abwehr und Nationalsozialismus
Eine detaillierte Analyse des Interview-Geschehens zeigte eine Reihe kommunikativer Mittel, mit denen die Gegenübertragungs-Reaktion der Scham ausgelöst wurde. So sind viele der Interviews charakteristischerweise geradezu ‚durchtränkt’[7] mit Verachtung, Hohn oder Zynismus, die sich insbes. gegen die Opfer des Holocaust und des Vernichtungskrieges, vor allem gegen Russen und Juden richtet. Die Verachtung der Interviewten richtet sich aber auch z.B. gegen ‚die Jugend von heute’, gegen die Bundesrepublik, gegen die Aufarbeitung des Nationalsozialismus, gegen Gefühle wie Trauer u.v.a., so daß sich die Interviewer, zumindest implizit, unvermeidlich mitgemeint fühlen mußten. Schließlich wurde die Gegenübertragungs-Reaktion der Scham auch dadurch ausgelöst, daß die Interviewer von den Interviewten wie Luft behandelt oder explizit abgewertet wurden. Dies wurde an anderer Stelle bereits ausgeführt (vgl. Marks & Mönnich-Marks 2003). Zur Analyse dieser manifesten und latenten Kommunikationsmuster erwies sich die inter- und supervisorische Begleitung des Forschungsprojekts als unabdingbar.
Durch die Gegenübertragungs-Reaktion der Scham wurden wir auf einen Zusammenhang zwischen Scham und Nationalsozialismus aufmerksam gemacht. Dieser Zusammenhang wird durch eine Vielzahl von Interview-Passagen bestätigt:
So verwenden viele Interviewte im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus auffälligerweise eine depersonalisierende Sprache: sie sprechen von ‚wir’ oder ‚man’ statt von ‚ich’ bzw. verwenden Sätze ohne Personalpronomen.
Das Leben vor dem 30. Januar 1933 wird oft als arm geschildert, geprägt durch Arbeitslosigkeit, Mangel an Bildung und dgl. – dies sind, wie erwähnt, Gründe zur Scham. So sagt eine Interviewte über den Versailler Vertrag „wo wir so als Deutsche gedemütigt worden sind (…) Wir sind so am Ende und so äh äh gedemütigt und was haben wir denn überhaupt noch ein Haufen Arbeitslos(e).“ Durchweg betonen die Interviewten die Bedeutung des Versailler Vertrages, häufig in Verbindung mit Scham („Schandvertrag“). Ein Interviewter, nennen wir ihn Herrn Plessner, beschreibt Deutschland explizit als Paria, d.h. mit einem Begriff aus einer Scham-Kultur.
Der 1918 geborene Herr Plessner, wie auch viele andere, betont insbes. die Verschuldung Deutschlands als Folge des Versailler Vertrages: „Wir waren aus den Parias des Volkes, wir wußten dass durch das Versailler Diktat wir vieles vieles vieles Böses erleben mussten. Und dass wir verschuldet waren mit x-Millarden Goldmark, Zahlungen und dergleichen mehr.“ Der Interviewte spricht anschließend von „Bestrebungen (…), dass Deutschland irgendwie wieder in die Familie der europäischen Völker eingegliedert werden musste, weil das nicht als Herz Europas ein Hungerland sein konnte, das von den anderen Völkern andauern unterstützt und verhalten werden musste. Man wusste, Deutschland das Herz muß das Herz in Europa musste wieder schlagen. Und das führte auch dazu, dass auch ohne Hitler Bestrebungen im Gang waren, wieder die Sache so wieder hin Deutschland wieder zu einem wertvollen äh Staat in Europa zu machen (…) Jetzt verlangte man, daß Deutschland eine Größe werden sollte. Und Hitler war die Inkarnation dieses Gedankens.„
Viele Interviewte heben hervor, daß Adolf Hitler Deutschland wieder zu einem ‚wertvollen Staat’ gemacht, ihm Ehre und Anerkennung in der Welt verschafft habe. So sagt etwa Herr Plessner, „daß man plötzlich, um es pathetisch zu sagen, stolz sein konnte, deutscher Junge zu sein.“ (Beachten Sie auch die depersonalisierende Formulierung ‚man’).
Zwischenergebnis: Offenbar wurden Niederlage des 1. Weltkrieges, Versailler Vertrag, Armut, Wirtschaftskrise und politische ‚Schwäche’ der Weimarer Republik von Teilen der Bevölkerung als Beschämung, Kränkung und Verletzung des Ehrgefühls erlebt. Diese Ereignisse wurden „einseitig im Modus der Schamkultur bearbeitet“ (Assmann 1999, 93).
Auffällig in den Interviews ist auch das wiederkehrende Motiv der Augen. So spricht z.B. Herr Plessner gleich zu Beginn des Interviews von den „offenen Augen, wirklich (…) offenen Augen“ der jungen Menschen. Dies könnte mit Wurmser (1997, 161) im Sinne des suchenden, ‚hungrigen’ Blicks interpretiert werden.
Der Interviewte schildert auch eine Szene seiner Kindheit, bei der deutlich wird, daß der Blickkontakt mit seinen Eltern fehlte: wenn der Erzähler von der Schule zurückkam, waren seine Eltern bei der Arbeit auf dem Feld.
Er berichtet von seiner Schulzeit „direkt an der Maginot-Linie und als ich in R. in der Schule war, haben wir die Aufsätze und die Diktate unter den Klängen der clairance, der Trompeten, der Angriffstrompeten der Franzosen. Und auf den Panzerkuppen der Maginot-Linie standen die Senegal-Neger mit ihren Stammeszeichen, mit ihren Narben und blickten herüber. Blau-graue Uniform wie Gespenster und wie böse Geister und das beeindruckte uns sehr.“ Dies könnte als ‚böser’, die Grenzen nicht respektierender Blick interpretiert werden.
Schließlich der berühmte Blick Adolf Hitlers, von dem verschiedene Interviewte berichten[8] und der auch in der Literatur über den Nationalsozialismus erwähnt wird (vgl. auch Heller & Schmiderer 2002). So sagt Herr Plessner: „Wir Jungvolk und HJ-Führer standen Spalier und da ging er an uns vorbei (…) barhäuptig, das Haar fiel in die Stirn, er guckte jeden, ich hab ihn passieren passieren, ich mein, ich sah ihn passieren auf eineinhalb Meter Entfernung. Und er guckt jedem in die Augen. Und es war also beeindruckend.“ Beachten Sie, daß der Erzähler für diesen Augen-Blick in das Präsens wechselt[9] – offenbar ist ihm diese Szene noch gegenwärtig und besonders wichtig.[10]
Ergebnis: Aufgrund der Interview-Auswertungen (die hier nur verkürzt angedeutet werden konnten) kamen wir zu folgender These: Offenbar vermochte der Nationalsozialismus die verbreitete Scham der Weimarer Republik für seine Zwecke zu instrumentalisieren, indem er seinen Anhängern Gelegenheiten der Scham-Abwehr bot und legitimierte durch:
- ein heroisierendes und zynisches Weltbild der ‚Härte’ und damit Abwehr weicher (‚schwächlicher’) Gefühle und humanistischer Werte.
- Verachtung gegenüber (insbesondere jüdischen, aber auch homosexuellen, behinderten oder kritisch-intellektuellen) Mitbürgern: sie zu verhöhnen, zu entwürdigen, wie Dreck wegzuschaffen; sie zu Objekten und bloßen Ziffern (eintätowierte Häftlingsnummern!) zu entwerten und zu vernichten. „Die Verwandlung von Scham in Gewalt gegen andere wendet Ohnmacht in Macht, Schwäche in Stärke, indem andere nun erleiden, was man eben noch selbst empfand.“ (Hilgers, 1997, 171)
- Idealisierung (Deutschlands, Hitlers) und grandiose Ansprüche auf Weltherrschaft.
- Bemühungen, die ‚Ehre’ Deutschlands wieder herzustellen. Ein Interviewter sagt: „Wir war’n ein, der letzte Dreck auf der Welt. Das war das Schlimmste. Und das hat er (Adolf Hitler) verstanden zu mobilisieren.„
- Die Instrumentalisierung der Scham durch den Nationalsozialismus dürfte durch mehrere Faktoren ermöglicht worden sein:
- Die herrschenden Werte der Weimarer Republik, die noch stark der vor-bürgerlichen Polarität von Scham und Ehre verhaftet waren und
- entsprechende Erziehungspraktiken, insbes. beschämende, die Integrität (Grenzen) des Kindes nicht achtende (‚schwarze’) Pädagogik (vgl. Chamberlain 1992).
- Die politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen seit dem 1. Weltkrieg, die aufgrund der herrschenden Werte als unehrenhaft und beschämend erlebt wurden und
- eine rechtspopulistische Propaganda, die diesen Scham-Modus des Erlebens zu schüren und instrumentalisieren vermochte.
- Eine besondere Rolle dürfte auch der Erfahrung von Millionen von Kindern und Jugendlichen zukommen, die die Heimkehr ihrer Väter von den Schlachtfeldern des 1. Weltkrieges erlebten. Statt siegreiche Väter, auf die sie stolz sein und mit denen sie sich identifizieren konnten, erlebten sie Verlierer, geschlagen und traumatisiert von Schützengräben, Kampfgas und millionenfachem Sterben. Diese ‚Schmach’ zu tilgen war der Auftrag, den diese Väter an ihre Kinder delegierten und den diese durch den Nationalsozialismus, der sich als Jugendbewegung präsentierte, auszuführen suchten.
Zur Gegenwärtigkeit von Scham und Scham-Abwehr
Die in den vergangenen Jahrzehnten geleistete Aufarbeitung des Nationalsozialismus durch die deutsche Gesellschaft, auch im Schulunterricht, ist in mancher Hinsicht beachtlich. Sie ist jedoch gefährdet in dem Maße, wie sich die Aufarbeitung tendenziell auf die ‚objektiven’ Daten, Zahlen und Fakten konzentrierte und dabei die ‚subjektiven’ emotionalen Wurzeln des Nationalsozialismus tendenziell aus dem Blickfeld zu geraten drohten. So beobachteten wir in den Interviews, daß die befragten Männer und Frauen durchaus kognitiv über den Nationalsozialismus und seine Verbrechen informiert sind, während emotional die Scham-Thematik offenbar fortlebt.
Dies hat etwa zur Folge, daß schon das Benennen der NS-Verbrechen gemäß dem Scham-Paradigma erlebt wird: als Beschämung, die von außen angetan werde. So sprach etwa auch Martin Walser in seiner, von vielen Interviewten begrüßten, ‚Sonntags’-Rede von „Schande“ (!), die den Deutschen „vorgehalten“ (!) werde. In vielen Interviews wird diese Denkfigur noch mit antisemitischen Untertönen angereichert: als eine Beschämung, die ‚den Deutschen’ durch ‚die Juden’ angetan werde.
Dadurch besteht die Gefahr eines „Antisemitismus nicht trotz, sondern wegen Auschwitz“ (Erb, zit. in Wagensommer 2003b, 181). Diese Gefahr besteht, solange die Aufarbeitung des Nationalsozialismus nicht dessen emotionale Voraussetzungen (u.a. Scham und seine Abwehr) mit einschließt und somit die Menschen aus dem Scham-Paradigma befreit. Dies ist bisher nur in Ansätzen geschehen: das Thema Scham ist gegenwärtig in der Bundesrepublik nur ein Randthema, selbst in Psychologie und Psychotherapie/-analyse (vgl. Wurmser 1997; Hultberg 1987, 86), ähnlich in der Literatur über den Nationalsozialismus.
Zwar versteht sich die bundesrepublikanische Gesellschaft als ‚moderne’ Gewissens- oder Schuld-Kultur, basierend auf seinen Institutionen des (seinem Ideal nach) mündigen und Verantwortungs-bewußten Bürgers und Strafe. Bei genauerer Betrachtung erweist sich jedoch unsere Gesellschaft als eine latente Scham-Kultur,[11] was sich an einem unbewussten Weiterwirken von Scham und Scham-Abwehr in der Gesellschaft zeigt, wenn auch nicht so dominierend und manifest wie in der Scham-Kultur des Nationalsozialismus. Die verbreitete latente Scham bewirkt erhebliche gesellschaftliche Probleme und Gefährdungen; ein erstes Beispiel:
Nach einer Untersuchung von Brendler empfinden etwa 65 % der deutschen Jugendlichen „Scham, wenn der Massenmord der Vorfahren zur Sprache kam“ Brendler (1997, 55) – nachdem sie eine nicht geringe Zahl von Unterrichtseinheiten in den relevanten Fächern (Geschichte, Gemeinschaftskunde, Deutsch und Religion bzw. Ethik) über das Unterrichtsthema Nationalsozialismus und Holocaust hinter sich haben.[12] Wie leicht die Emotion der Scham noch heute politisch instrumentalisierbar ist, zeigt etwa der seit Jahren andauernde Erfolg rechtsextremistischer Gruppierungen: Sie versprechen, die ‚nationale Schande’ (jetzt: der Erinnerung an den Holocaust) durch Wiederherstellung der ‚nationalen Ehre’ wieder herzustellen, und sie propagieren ‚Stolz’ darauf, ‚Deutscher zu sein’, (vgl. Hilgers 1997; Neckel 1991, 168ff). In abgeschwächter Form wird Scham z.B. auch in Wahlkampfreden von Politikern der demokratischen Parteien instrumentalisiert. So wurden etwa in den TV-‚Rededuellen’ der Kanzlerkandidaten zur Bundestagswahl 2002 zwischen den Zeilen diverse verbale Beschämungen des politischen Gegners eingesetzt.
Der Begriff der „Durchtränkung“ (Amati 1990, 730)[13] scheint mir geeignet, um ein unbewusstes Erbe der deutschen Vergangenheit – Scham und seine Abwehr – in der bundesrepublikanischen Gesellschaft zu beschreiben. Die Gegenwärtigkeit von Scham soll nachfolgend am Beispiel der Erziehung skizziert werden.
Scham und Schamabwehr: ein Thema für die Schule
Die bundesrepublikanische Reaktion auf den Schock der Pisa-Studie besteht bisher weitgehend – ganz in der ‚Logik’ des Scham-Abwehrmechanismus – darin, Menschen auf Zahlen zu reduzieren: Schüler und ihre Erziehungs- und Lernprozesse werden quantifiziert und zu Objekten von Input und Output gemacht. Debattiert wird vorwiegend über Zahlen (Finanzen, Lehrerstellen, Unterrichtseinheiten), obwohl ein Kind, so Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, Internist und Psychiater Joachim Bauer (2000, 4), „nicht wie ein Aktenordner“ funktioniert. Die Mehrzahl der Debatten gehen am Kern des Problems vorbei, denn offensichtlich ist die Bildungsmisere kein quantitatives Problem: Finnlands Schüler erreichten in der Pisa-Studie Spitzenplätze, obwohl die Bildungsausgaben dieses Landes nur geringfügig höher als die Deutschlands sind.[14]
Der m.E. wesentliche Unterschied zwischen beiden Ländern besteht darin, daß Lehrer/-innen in Finnland gesellschaftlich wertgeschätzt werden – im Gegensatz zu Deutschland: Es gibt gegenwärtig kaum einen Berufsstand, dem so viel an Verachtung entgegengebracht wird wie dem Lehrerberuf; etwa durch die Schelte Gerhard Schröders, Lehrer seien „faule Säcke“. Auch der ‚Spiegel’ beschrieb im Jahr 2002 die Lehrerkollegien als „Auffangbecken für Studienversager, Mittelmäßige, Unentschlossene, Ängstliche und Labile, kurz gesagt für Doofe, Faule und Kranke.“ (Bölsche 2002, 118).[15] Wie könnte Erziehung gelingen, wenn die Hauptakteure von Politik und Gesellschaft so wesentlich beschämt und verachtet werden?
Auch die Kommunikation zwischen Lehrern und Eltern ist häufig mit Verachtung durchsetzt. Seit vielen Jahren arbeite ich in der Lehrerfortbildung und konnte dabei folgendes beobachten: Je nach Milieu-Zugehörigkeit befürchten viele Lehrer/-innen, von Eltern verachtet zu werden – oder sie werden ihrerseits von Eltern aus ärmeren oder unteren Milieus als arrogant erlebt. Darüber hinaus fühlen sich viele Lehrer/-innen durch die Schulbehörden gegängelt und bevormundet. In etlichen Lehrerkollegien herrscht Ironie und Häme; Probleme zu zeigen oder durch Supervision für sich zu sorgen wird nicht selten von Kollegen als ‚Schwäche’ bewertet und verspottet.
Auch den Interaktionen zwischen Schülern unterliegt oft die Scham-Thematik, etwa wenn Schüler aufgrund ihrer nicht-Marken-Kleidung (Armut!) verspottet werden. Manche Gewalt unter Schülern könnte vermindert werden, wenn Schülern beigebracht wird, daß es in bestimmten Fällen nicht feige, sondern klug ist, wegzulaufen.[16]
Häme, Verachtung, Andere wie Dreck behandeln – das ist auch Alltag in der Lehrer-Schüler-Interaktion. Schüler werden nicht selten als Teil der Masse, als ‚Schülermaterial’ betrachtet. Die Psychologin Maria Spychiger erforschte den pädagogischen Umgang mit Fehlern. Deren Lernpotential wird oft verschenkt, wenn z.B. ein Lehrer auf Fehlern herumreitet oder sich genervt abwendet (‚Du lernst das nie!’). „Entscheidend für eine gute Fehlerkultur ist ein Klima ohne Häme, Spott und Angst“ (Spychiger 2002, 53).
Ein solches konstruktives Klima fehlt tendenziell bereits an Hochschulen, womit viele potenziellen Lernprozesse und auch Forschungsergebnisse zugeschüttet werden. Die Interaktionen an Hochschulen sind häufig depersonalisiert und mit Zynismus, Verachtung und Beschämung ‚durchtränkt’ (was mit Kritik verwechselt wird). So beobachtete etwa Abraham Maslow, daß der „größte(.) Teil der intellektuellen Gemeinschaft“, besonders jener Teil, „der die Kommunikationskanäle zur gebildeten Öffentlichkeit und zur Jugend kontrolliert,“ eine Anschauung verkünden, die „von einem Zynismus charakterisiert wird und manchmal zur zersetzenden Bosheit und Grausamkeit ausartet.“ Dabei „gehen sie über einen vernünftigen Skeptizismus und die Abstinenz vom Urteilen hinaus“ (Maslow 1977, 8). Scham-Abwehr gehört zum heimlichen Lehrplan der Lehrer-Ausbildung an Hochschulen.
Das von Maria Spychiger geforderte Klima ohne Häme, Spott und Angst setzt voraus, daß wir die Kultur der Verachtung verlassen und durch eine Kultur der Anerkennung ersetzen. Diese besteht aus den drei Elementen:
- Selbstanerkennung. Die Botschaft für die einzelnen Lehrenden lautet: ‚Ich bin mir selbst etwas wert.’
- Aufmerksamkeit. Daraus folgt für die Interaktion mit dem Schüler: ‚Ich sehe dich. Du bist wer. Ich nehme mir Zeit, um dich kennenzulernen.’
- Positive Bewertung. Dies bedeutet, den Schülern gegenüber eine Haltung einzunehmen: ‚Ich finde gut, wie du denkst oder empfindest. Ich achte dich als Mensch.’ (vgl. Taylor 1993; Keupp u.a. 1999)
Erst eine Anerkennungskultur wäre eine emotionale Basis, auf der Lernen gedeihen kann (vgl. Marks 2003d, 189ff). Auch die gegenwärtig vieldiskutierte Evaluation von Schulen und Hochschulen ist nur produktiv in einem nicht-beschämenden Kontext. Andernfalls besteht die Gefahr, daß Evaluation zum Instrument gegenseitiger Beschämungen missbraucht wird.
Autor: Dr. Stephan Marks. Der Artikel ist erschienen in: In: Wilhelm Schwendemann & Georg Wagensommer (Hg.). Erinnern ist mehr als Informiertsein. Aus der Geschichte lernen Bd. 2, Münster: LIT-Verlag, S. 20-32. Der Autor ist Mit-Organisator einer Tagung zum Thema ‚Scham – Beschämung – Anerkennung‘ an der Katholischen Akademie Freiburg, 18.-20.11.2005. Weitere Informationen auf den Webseiten http://www.geschichte-erinnerung.de/ und www.scham-anerkennung.de
Literatur
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Anmerkungen
[1] Der Begriff ‚Generation’ ist problematisch und unscharf und steht daher in Anführungszeichen.
[2] Peer Hultberg weist darauf hin, daß die Schamkultur nicht generalisierend als niedrigstehender oder als Entwicklungs-Vorstufe zur Schuldkultur anzusehen sei – wenngleich Scham mit sehr tiefen, entwicklungsgeschichtlich frühen Seelenschichten verbunden ist: „Sie ist ja sogar direkt mit dem vegetativen Nervensystem verbunden, wie man am Erröten und an Schweißausbrüchen sieht“ (Hultberg 1987, 90f).
[3] Beispiele für Scham-Kulturen sind z.B. das traditionelle Japan oder Kreta. Noch vor ein paar Jahrzehnten galt, zumindest in abgelegeneren Dörfern, der voreheliche Geschlechtsverkehr eines Mädchens als Schande für die Familie. Um deren ‚Ehre’ wiederherzustellen wurde das Mädchen, häufig in den Armen der Mutter, vom eigenen Bruder abgeschlachtet (vgl. Schwartz 1992, 209f). Scham-motivierte Morde geschehen auch in der Bundesrepublik des 21. Jahrhunderts.
[4] Methodische Anmerkung: Da der sich-Schämende verschwinden möchte, wird Scham i.d.R. auch nicht manifest ausgesprochen, sondern kann nur indirekt, tiefenhermeneutisch, erschlossen werden (es sei denn, die interviewte Person hat die Scham-Thematik durchgearbeitet, bewusst und somit verbalisierbar gemacht).
[5] Melanie Klein betrachtet Idealisierung als einen der grundlegendsten und ursprünglichsten Abwehrmechanismen (vgl. Green 1998, 425).
[6] Scham kann auch durch eine Reihe anderer Mechanismen abgewehrt werden, etwa durch Schamlosigkeit oder Drogensucht (vgl. Wurmser 1997, 389-399 & 322).
[7] Amati spricht im Zusammenhang mit Überlebenden von Foltersystemen von einer unbewussten „‚Durchtränkung’, die sich über Gesten, Sprachformen und in zynischen, der Abwehr dienenden Einstellungen äußert.“ (Amati 1990, 730).
[8] So erinnert ein anderer Interviewter, „dass Hitler uns also ganz scharf in die Augen geguckt hat, nicht, und uns uns beide mit einem mit dem deutschen Gruß gegrüßt hat. Und das habe ich begeistert nach Hause geschrieben, nicht. Der Brief liegt da. Und ich war also s und hab gesagt, das wird ich bis an mein Lebensende nicht vergessen.„
[9] In der Literatur wird der sog. historische Präsenz eingesetzt, um eine stärkere Verlebendigung und Vergegenwärtigung zu bewirken.
[10] Wenig später erzählt der Interviewte vom Reichsparteitag 1935 in Nürnberg: Er fuhr „im Auto vorbei in langsamem Schritt im Mercedes und hat jedem in die Augen geblickt. Und diesen Blick, der BdM-Führerinnen zu enthusiasmierten Schreien hinriss, ich hab das alles, seh ich vor meinem Auge wie heute, die Tränen, mit tränenden Augen ihn wie einen Messias begrüßten, mit Heil, unendlichen Heil-Rufen. Es war ein Aufschrei als ob ein Messias – ein Erlöser auf die Welt gekommen wäre.„
[11] Der Psychotherapeut Peer Hultberg sieht „unsere westeuropäisch-nordamerikanische Gesellschaft“ auf dem Weg zu einer Scham-Kultur oder zu einer Mischform von Scham- und Schuld-Kultur (Hultberg 1987, 89).
[12] Dieser Befund von 1997 wäre noch auf seine Aktualität zu überprüfen.
[13] Vgl. Anm. 7.
[14] Finnland = 5,7%, D = 5,5 % des Bruttoinlandsprodukts. Quelle: OECD, Bildung auf einen Blick 2001 (in: Hammerstein u.a. 2002, 25).
[15] Ähnlich Joachim Bauer: „Solange Politiker wie Medien das Ansehen der Lehrer ruinieren, solange werden wir bei Pisa nicht besser abschneiden.“ (Bauer 2003, 4).
[16] So rät ein Polizeihauptkommissar in einem schulischen Gewalt-Präventions-Projekt, Gewalt nicht mit Gegen-Gewalt zu beantworten, sondern ihr auszuweichen, wegzugehen oder um Hilfe zu rufen (vgl. Kiefer 2002, 9).