Robert Gerwarth: Reinhard Heydrich. Biographie. Siedler, München 2011.
Sich mit „kalter Empathie“ dem Chef des Reichssicherheitshauptamtes und Organisator der „Endlösung“ Reinhard Heydrich nähern – so beschreibt Robert Gerwarth, Historiker am University College in Dublin, seine biographische Methode. Die ersten Reaktionen auf das Buch waren durchaus euphorisch. So fand „Der Spiegel“ (Nr. 38/2011, S. 30 f.) schon vorab bemerkenswert, der junge Gerwarth habe herausgefunden, dass Heydrich „seiner Frau zuliebe“ zur SS ging und bei seiner Bewerbung 1931 habe Heydrich Himmler mit aus Spionageromanen gewonnenen Storys „bar jeden Wissens“ beeindruckt, so dass er ihn mit dem Aufbau eines Geheimdienstes innerhalb der SS betraute. Wie Gerwarth diese und andere Thesen belegt, ist also die zu klärende spannende Frage.
Gerwarth präsentiert Heydrich als einen in gut situierten Verhältnissen einer Musikerfamilie aufgewachsenen unsicheren, bis 1931 „eher apolitischen Einzelgänger“ (S. 12). Dieser sei nach seiner wegen eines gebrochenen Heiratsversprechens erfolgten unehrenhaften Entlassung aus der Marine von seiner neuen Verlobten, der glühenden Nationalsozialistin Lina von Osten, unter Druck gesetzt worden, sich bei Himmlers SS um eine zweite Karriere in Uniform zu bewerben. Richtig daran ist, dass Heydrichs spätere Ehefrau Lina tatsächlich eine fanatische NS-Anhängerin war. Spekulation ist, ob Heydrich „eher apolitisch“ war. Seine These, dass Heydrich bar jeder eigenen ideologischen Überzeugung bei Himmler vorsprach, ist dem Biographen so wichtig, dass er ohne Beleg erklärt, die von Heydrich später angegebene Mitgliedschaft von 1920 bis 1922 im extrem nationalistischen und antisemitischen „Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund“ sei von diesem nach 1933 wahrscheinlich nur gemacht worden, um seine frühe Zugehörigkeit zur extremen politischen Rechten zu beweisen (S. 50). Dass er als „technischer Nachrichtenoffizier im Funkwesen“ keine Basisausbildung im allgemeinen Nachrichtendienst erhalten habe und Himmler nur mit seinem Wissen aus Spionageromanen beeindruckt habe (S. 58 u. 73), „belegt“ Gerwarth mit Verweis auf die 1977 erschienene Heydrich-Biografie des neurechten Publizisten Günther Deschner (1) , zuletzt Chefredakteur des rechtsextremen Magazins „Zuerst!“, der wiederum für seine Darstellung keinen Beleg bringt und sich statt dessen u.a. bei den Herren David Irving und Paul Schmidt-Carell bedankt, die „dieses Buch durch Interviews Hinweise und Ratschläge bereichert haben“.(2) Nicht die einzige Räuberpistole, die Gerwarth da übernimmt. Als Heydrich sich am 22. Juli 1941 im „Unternehmen Barbarossa“ wieder einmal als Pilot versucht und abgeschossen wird, sollen die ihn rettenden Wehrmachtssoldaten mitgeteilt haben, er leide an einer Gehirnerschütterung, denn er „behaupte immer wieder der Chef des Reichssicherheitshauptamtes zu sein“ (S. 244). Quelle ist wieder Deschner und zusätzlich der „Jagdflieger“-Aufsatz eines Stefan Semerdjiev aus der rechtsextremen „Deutschen Militärzeitschrift“.(3) Nein, Gerwarth will aufklären, steht Rechtsextremen keinesfalls nahe – um so kontraproduktiver erscheint sein laxer Umgang mit Belegen.
Wohin seine der Geschichtswissenschaft fremde Methode der „kalten Empathie“ führt, zeigt ein eigentlich unglaublicher Satz des Autors auf Seite 107. Dort schreibt Gerwarth, Heydrich sei Anfang 1934 nichts anderes übrig geblieben, als seiner infolge der Weltwirtschaftskrise verarmten Familie zum wiederholten Male finanziell unter die Arme zu greifen, „wenn er sie nicht verhungern lassen wollte“. Der Hungertod aber drohte 1933/34 keinem deutschen Volksgenossen.
Diese zum Teil mehr als gravierenden Mängel schmälern leider den Wert einer Biografie, die den Werdegang Heydrichs vom scheinbar unpolitischen Jüngling zum tatsächlich ideologisch überzeugten Massenmörder nicht erklären kann. Immerhin erscheint die Darstellung Heydrichs als (stellvertretender) Reichsprotektor in Böhmen und Mähren überzeugend. Gerwarths aus den Archiven recherchierte beschönigten Lageberichte Heydrichs aus dem Protektorat an Bormann zeigen die Verlogenheit der bis heute kolportierten Legende, Hitlers Statthalter in Prag sei auch bei den Tschechen beliebt gewesen und es habe dort kaum Widerstand gegeben. Tatsächlich erhielten die tschechischen Rüstungsarbeiter in Kooperation mit einem seiner engsten Freunde, dem Ernährungsstaatssekretär Herbert Backe, gerade mal die Erhöhung der Kalorienzufuhr, die sie brauchten, um für die deutsche Kriegsmaschinerie produzieren zu können. Nach dem deutschen Sieg sollte die Minderheit der als eindeutschungsfähig betrachteten Protektoratsbewohner überleben, die Mehrheit aber der mit zu viel schlechtem, weil überwiegend tschechischem, Erbgut entwerteten Menschen, die deutsche Ernährungsbilanz nicht weiter belasten. Sie sollten wie Millionen andere Slawen und Juden verschwinden, sei es durch Deportation in „unwirtliche“ Gebiete, erschießen, vergasen oder verhungern.
Autor: Wigbert Benz. Erstveröffentlichung, leicht gekürzt und ohne Fußnoten, in: neues deutschland, 10. November 2011, S. 17
Robert Gerwarth: Reinhard Heydrich. Biographie. Siedler, München 2011, 478 S., 29,99 €
Anmerkungen
(3) Gerwarth verweist auf S. 244, FN 112, auf: Berichte Georg Schirmböck und Joachim Deicke, in: Prien, Jagdgeschwader 77, Bd. 2, S. 704 ff; Günther Deschner: Reinhard Heydrich, S. 141 f., der dort aber nichts zu dem von Gerwarth angegebenen Sachverhalt schreibt; Stefan Semerdjiev: Reinhard Heydrich. Der deutsche Polizeichef als Jagdflieger, in: Deutsche Militärzeitschrift 41 (2004), S. 36 f.;