Zu den Highlights der Berlinale 2023 zählte zweifellos „Reality“. Allein schon die Tatsache, dass ein Film im Wesentlichen auf den Originaldialogen zwischen FBI-Agenten während einer Hausdurchsuchung basiert, ist ungewöhnlich und macht neugierig. Mindestens ebenso gespannt dürften Film-Profis und Berlinale-Publikum jedoch aus einem zweiten Grund gewesen sein, handelte es sich bei dem Doku-Drama doch um das Debüt der New Yorker Dramatikerin und (Theater-)Regisseurin Tina Satter im Bereich Drehbuch und Filmregie. Satter hatte sich mit dem Stoff bereits seit längerem beschäftigt und ihn 2019 unter dem Titel „Is This A Room“ in New York als Theaterstück inszeniert. Die Kritik hatte das Stück damals sehr positiv aufgenommen, und entsprechend hoch waren die Erwartungen an dessen Adaption für den Film.
Doch worum geht es darin eigentlich, und was hoffen die beiden FBI-Beamten in der von ihnen durchsuchten Wohnung zu finden? Die Handlung basiert auf einem realen Fall aus den Jahren 2017/2018, der in Deutschland zwar auch in den Medien thematisiert wurde, aber bei Weitem nicht so umfangreiche Beachtung fand wie in den USA. Dort war am 3. Juni 2017 die damals 25-jährige Reality Leigh Winner verhaftet und zwei Tage später wegen Spionage angeklagt worden. Parallel dazu hatte das Online-Medium „The Intercept“ einen Artikel veröffentlicht, der sich mit den mutmaßlichen russischen Versuchen einer Einflussnahme auf die US-Präsidentschaftswahl im Jahr 2016 befasste. Der Text berief sich auf Informationen der National Security Agency (NSA), des größten Auslandsgeheimdienstes der USA.
Die dem Film zugrunde liegenden Dialoge der FBI-Beamten waren protokolliert worden, während diese Winners Wohnung in Georgia durchsuchten. In der Eingangssequenz des Filmes wird zunächst das Social-Media-Profil einer jungen Frau gezeigt. Dieses wirkt so unspektakulär wie Tausende andere Profile auch. Zu sehen sind Fotos von ihren Haustieren, von sportlichen Aktivitäten sowie von verschiedenen Personen aus ihrem Freundeskreis. Die Reihe der Einträge endet abrupt mit dem 2. Juni, dem letzten Tag vor ihrer Verhaftung. Mit dieser beginnt dann die eigentliche Handlung des Films. Zwei Männer erwarten Winner vor ihrem Haus. Es wirkt auf den ersten Blick völlig harmlos, als sie die junge Frau in höflichem, freundlichem Ton danach fragen, ob sie Haustiere habe. Wenig später erfährt sie, dass die beiden einen Durchsuchungsbefehl für ihre Wohnung bei sich haben, doch bis sie wirklich Klartext mit ihr reden, dauert es beinahe eine Stunde.
Erst dann weiß sie wirklich, worum es eigentlich geht, auch wenn sie es wohl schon vorab vermutet haben dürfte. Die in Kingsville, Texas, aufgewachsene Winner hatte von 2010 bis 2016 bei der U.S. Air Force gedient und war dort zur kryptologischen Linguistin ausgebildet worden. So erlernte sie unter anderem Farsi, Dari und Pashto und war anschließend im Range eines Senior Airman als Sprachanalystin tätig. Ihre Arbeit erledigte sie offenbar sehr zur Zufriedenheit ihrer Vorgesetzten, sodass sie mit der Air Force Commendation Medal ausgezeichnet wurde. Unter anderem hatte sie sich in 1.900 Arbeitsstunden mit der Verwertung von geheimdienstlichen Informationen und mit dem Geotargeting von 120 feindlichen Kombattanten beschäftigt. Nach ihrer Dienstzeit bei der U.S. Air Force wechselte sie als Linguistin zur Pluribus International Corporation, einem für die NSA tätigen Informationsdienstleister. Im Februar 2017 setzte man Winner als Regierungsbeauftragte in einer Nachrichtendienststelle in Georgia ein, wobei sie die Top-Secret-Freigabe erhielt.
Die der Anklage gegen Winner zugrundeliegenden Vorgänge sollen sich so zugetragen haben: Die Redaktion von „The Intercept“ erhielt ausgedruckte Dokumente zugespielt, welche dort eingescannt und als PDF-Datei veröffentlicht wurden. In dem Scan waren jedoch noch Markierungen eines Farbdruckers enthalten, die Leser schon kurz nach der Veröffentlichung entdeckten. Eine Stellungnahme des FBI zu diesem Thema wurde von dem Magazin „Vice“ dahingehend interpretiert, dass Winner sich durch die Druckermarkierungen verraten habe. Die „Washington Post“ wollte sich zwar in diesem Punkt nicht festlegen, berichtete aber über Expertenmeinungen, denen zufolge dies der einfachste Weg gewesen sein dürfte, diejenige Person zu identifizieren, die das Dokument ausgedruckt hatte. Nachdem sich Winner im Juni 2018 schuldig bekannte hatte, wurde sie am 23. August 2018 zu einer Haftstrafe von 63 Monaten verurteilt. Wegen guter Führung erfolgte im Juni 2021 die Entlassung aus der Haft in ein Übergangswohnheim, verbunden mit der Auflage, eine elektronische Fußfessel zu tragen. Der Bewährungszeitraum soll im November 2024 enden.
Der Titel des Films „Reality“ lässt sich somit auf zweierlei Weise lesen. Zum einen handelt es sich um den Namen der zentralen Figur, die von Sydney Sweeney souverän verkörpert wird. Zum anderen verweist er auf ein reales Geschehen. Der Film, der sich im Kern auf das Geschehen an einem einzigen Tag fokussiert, zeichnet sich durch eine klare Bildsprache und überzeugende Charaktere aus, zu denen neben der Hauptdarstellerin auch Josh Hamilton und Marchánt Davis in den Rollen der beiden FBI-Agenten gehören. Von Reality Winner heißt es übrigens, ihr Vater habe den ungewöhnlichen Vornamen mit Blick auf den Familiennamen für seine Tochter ausgewählt. Sie habe ein „Real Winner“ werden sollen. Dieser Triumph wurde Tina Satter mit ihrem Erstlingswerk zwar noch nicht zuteil, doch immerhin errang sie mit ihrem Doku-Drama auf Anhieb eine Nominierung für den Publikumspreis der Berlinale. Für die Regisseurin, die eigens zur Weltpremiere ihres Films nach Berlin gekommen war, ist dies zweifellos mehr als nur ein Achtungserfolg.