Zarte bis kräftige Farbtöne in den Pastellzeichnungen, Siebdrucken und den Ölgemälden von R. B. Kitaj ziehen die Betrachter in den Bann. Ungewöhnlich verschachtelter Bildaufbau, gewagte Achsen und fragmentarische Kompositionen verstören und geben Rätsel auf, die entschlüsselt werden müssen. Die Kunst von Kitaj ist reich an Zitaten aus Geistes- und Kunstgeschichte sowie Politik. In den Bildern spiegelt sich die Ortlosigkeit eines jüdischen Intellektuellen im 20. Jahrhundert, der sich bewusst im geistigen Raum seine Heimat (er)fand. Der 1932 in Chagrin Falls bei Cleveland als Ronald Brooks-Benway Geborene nahm später den Namen seines Stiefvaters Walter Kitaj, eines aus Österreich emigrierten jüdischen Chemikers, an. Aufgewachsen ist R. B. Kitaj in einer säkularen Atmosphäre, in der die „Jiddischkeit“ – wie er das bewusste Bekenntnis zu einem eher kulturellen als religiösen Judentum später nannte – kaum eine Rolle spielte. Prägend war für Kitaj dann die schockierende Erkenntnis, dass „ein Drittel unseres Volkes ermordet wurde, während ich Fußball spielte, ins Kino und auf die High School ging und davon träumte, Künstler zu werden“. Hier klingt ein Schuldbewusstsein an, das in eine intensive künstlerische Beschäftigung mit jüdischen Intellektuellen in der Diaspora und dem Genozid umschlägt. Er setzt sich mit seinen Wurzeln mütterlicherseits auseinander und fügte ein Portrait seiner Großmutter in sein frühes Gemälde „Der Mord Rosa Luxemburgs“ von 1960 ein. Die Großeltern waren als Sozialisten vor der zaristischen Polizei nach Amerika geflohen. In den antisemitischen Pogromen in Russland wie in der Ermordung von Luxemburg sah Kitaj Vorzeichen des von Deutschland verursachten Genozids an den europäischen Juden. In einem Gemälde, das drei Frauen am Strand zeigt, widmet sich Kitaj dem Aufstieg des Faschismus. Die mittlere Figur wirkt fast martialisch und kriegerisch wie eine von Breker oder Thorak geschaffene Skulptur, und ist mit einem sehr männlichen Profil ausgestattet. Ihr zur Aktion erhobener rechter Arm ragt aus dem Bild hinaus. Die anderen Frauen mit bezaubernden Körpern und Gesichtszügen wirken reserviert und schauen der sich anbahnenden Handlung unbeteiligt zu. Man kann es als Kritik an der Passivität und als Appell für rechtzeitiges und beherztes Eingreifen lesen. Kitaj knüpfte an ein bekanntes Sujet an, das ihm aus dem Werk von Edgar Degas und Paul Cézanne bekannt war und überführte das „harmlose“ Motiv der Badenden in den Kontext der mörderischen Politik des 20. Jahrhunderts.
Wie kein anderer Maler hat sich Kitaj in Texten mit seiner Kunst und seinen Einflüssen auseinandergesetzt. Seine Werke erscheinen oft unfertig, skizzenhaft und sind deutlich in einem Duktus der Collage gehalten. Zum einen integrierte Kitaj Zeitungen und andere Druckerzeugnisse und zum anderen stellt er seine malerischen Elemente wie Bildgeschichten nebeneinander, ohne sie in eine Harmonie zu zwingen. Walter Benjamin als der dechiffrierende Flaneur der Moderne mit seinem Passagen-Werk stand hier ebenso Pate wie der Kunstwissenschaftler und Kulturanthropologe Aby Warburg. Mit beiden Intellektuellen hat sich Kitaj intensiv befasst und sie in seinen Bildern verewigt. Von Aby Warburg stammt die Begründung der „Lehre von den Bildern“, die Ikonologie, die später von Erwin Panofsky weiter ausgearbeitet wurde. Dieses mehrstufige Verfahren, mit dem Semantik, Syntax und Pragmatik der Bildelemente bestimmt werden, um die gesamte Komposition zu entschlüsseln, hilft bei der Untersuchung von Kitajs Gemälden. Die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ (Ernst Bloch), verschiedene historische Ebenen und Referenzen finden sich in Kitajs Bildern zuhauf und man könnte für sie den Begriff des Bildessays verwenden. Offenbar war sich Kitaj der Schwierigkeit bewusst, die das Publikum mit dem „Lesen“ seiner Bilder hatte und verfasste Texte, die seine Werke erläutern und Einflüsse benennen. Für den Gang durch die beeindruckende Ausstellung im „Jüdischen Museum Berlin“ ist der Audioguide unbedingt empfehlenswert, der die vielen selbstkritischen Reflexionen Kitajs hörbar macht. Auf das Werk Kitajs passt treffend der Titel einer Eric-Hobsbawn-Anthologie „Zwischenwelten und Übergangszeiten“. Denn aus der Ort- und Heimatlosigkeit machte der Agnostiker Kitaj ein sehr persönliches Programm, das er in zwei Manifesten veröffentlichte. In der Diaspora sah er die Zukunft für alle minoritären Gruppen, zu denen er übrigens auch die Palästinenser zählte.
Anlässlich einer Gruppenausstellung in Hamburg veröffentlichte Kitaj 1988 sein erstes „Diasporisches Manifest“, das übrigens in Zusammenarbeit mit, dem 2010 verstorbenen Künstler und Typographen, Christoph Krämer gestaltet wurde, der lange für das Layout der Zeitschrift „Konkret“ verantwortlich zeichnete.
Kitajs Intellektualität und umfassende Bildung, die in seinen Bildern und Texten deutlich spürbar ist, kam bei den Kritikern nicht immer gut an. Auf seine große Ausstellung in der „Tate Gallery“ in London 1994 reagierten viele Rezensenten mit vernichtenden Verrissen und schreckten auch vor persönlichen Angriffen gegen Kitaj nicht zurück. Der Kritiker Andrew Graham-Dixon bezeichnete Kitaj in seiner Kritik, die am 28. Juni 1994 im „Independent“ erschien, als „chronischen Wichtigtuer“, der „musenhafte Inspiration von einer stattlichen Anzahl wichtiger Schriftsteller und Maler für sich beansprucht“.
Kitaj empfand die geballte Kritik als „Tate-Krieg“ und hat diese Verletzung nie überwunden, zumal während jener Zeit auch seine Frau plötzlich starb. Er hat sich an seinen Kritikern in malerischer Weise gerächt und stellvertretend die „Yellow Press“ 1997 in einem Gemälde standrechtlich erschießen lassen.
Autor: Matthias Reichelt
R.B. Kitaj: Obsessionen
Jüdisches Museum Berlin
Bis 27.1.2013
Katalog 34 €
http://www.jmberlin.de/kitaj/de/kitaj.php