Eine Sprache, mit der man überlebt
Ein Brot und ein Buch wechseln den Besitzer. Zunächst erscheint der Tausch absurd. Auf dem Weg ins KZ braucht man keine Lektüre, zumal kein persisches Buch über Mythen. Doch dann rettet Fantasie Leben, hilft Fantasie, zu erinnern und zu erzählen. „Persian Lessons“ ist ein Film über den Holocaust. Er ist auch ein Film über die Absurdität des Zufalls, den Willen, zu überleben, die Sprache. Er ist ein Film über Kultur und Brutalität, über Individualität und maschinisierte Gewalt.
Vadim Perelmans Film basiert auf einer Novelle von Wolfgang Kohlhaase. In „Erfindung einer Sprache“ wird erzählt, wie ein Jude mit Hilfe einer Fantasiesprache, die er einen SS-Mann lehrt, überlebt.
Gilles (meisterhaft gespielt von Nahuel Pérez Biscayart) gelingt es, Klaus Koch (Lars Eidinger) von seinen vermeintlichen Farsi-Kenntnissen zu überzeugen. SS-Offizier Klaus Koch hat einen Traum: Nach dem Krieg will er zu seinem Bruder nach Teheran und ein Restaurant eröffnen. Dazu braucht er eine Sprache, mit der man sich verständigen kann. Dazu sucht er Zugang zu einer fremden Kultur. Gilles sucht eine Chance, um zu überleben. Dazu braucht er eine Sprache, die er nicht kann und die er darum erfindet: eine Sprache, mit der man überlebt.
„Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch.“
Filmische Erzählungen über den Holocaust waren immer besonders belastet. Wie dreht man einen Völkermord? Darf man reales Grauen im Spielfilm darstellen? Das Verdikt von Adorno verbot eine ästhetische Auseinandersetzung mit den Lagern. Dem standen diejenigen entgegen, die das Lager erlebt hatten. In Buchenwald, in Auschwitz, in Theresienstadt gab es Kunst, Kunst auf verschiedenen Ebenen: Da waren die Lagerorchester, die beim Marsch zur Arbeit spielten, da war „Brundibár“, die Kinderoper, die immer neu besetzt werden musste, weil ihre Darsteller auf Transport gingen, da waren die Arbeiten, die für die SS angefertigt wurden, da waren die Zeichnungen und Skulpturen, die Häftlinge für sich schufen.
Kunst war Mittel zum Überleben, zur Auseinandersetzung, zur Erinnerung. Nicht anders verhält sich der Plot in „Persian Lessons“. In der Erzählung wird die erfundene Sprache als Ausdruck der Fantasie zu einer Möglichkeit, das Grauen zu überstehen. Dafür muss sich Gilles ein System schaffen. Er steigt in der Hierarchie auf und hilft in der Buchhaltung beim Erstellen der Listen. Aus den Namen toter Juden werden Vokabeln, die überleben helfen. Gleichzeitig steht das erfundene Farsi für den Traum des SS-Offiziers. Am Ende überlebt Gilles und mit ihm die Namen der Toten, während SS-Offizier Koch mit der Fantasiesprache scheitert. Das falsche Farsi überführt ihn und trägt zu seiner Verhaftung bei.
Dialektik von Kultur und Barbarei
„Persian Lessons“ nimmt die Herausforderung an, mit den Mitteln des konventionellen Spielfilms eine Episode des Holocaust zu erzählen. Regisseur Vadim Perelman bezieht sich auf „Schindlers Liste“. Er vermeidet ikonische Bilder und setzt auf die schauspielerische Umsetzung.
Die Verbindung von Kultur und Barbarei ist ein Stereotyp des deutschen Offiziers, das in Film und Literatur immer wieder aufgegriffen wurde. Der gebildete, feinsinnige Goethe-Kenner und Geigenspieler, wie ihn Reinhard Heydrich, der Henker von Prag, verkörpert, der gleichzeitig perfekte Arrangements zur Vernichtung bis ins Detail konzipiert und umsetzt. Der Arzt, der präzise forscht und im gleichen Atemzug selektiert.
Klaus Koch, der für die Versorgung des Lagers zuständig ist, träumt von einem eigenen Restaurant, von einer Küche im Iran. Präzise erarbeitet er einen Plan und setzt sich ein Soll täglicher Vokabeln, das er später erhöht. Er möchte lernen, um seinen Wunsch Wirklichkeit werden zu lassen.
Gilles möchte nur eins: überleben. Doch er nutzt seine Stellung, um anderen zu helfen. Er überlebt nicht um jeden Preis und er konzipiert auch ein System, anders kann er die künstliche Sprache nicht behalten. Er konzipiert es aus den Listen der Schreibstube.
Die Sprachen von Auschwitz
Vadim Perelman dreht einen Spielfilm. Er dreht ihn mit einem internationalen Team im Kaukasus. Seine Hauptdarsteller stammen aus Argentinien und Deutschland. Das Drehbuch schrieb Ilya Zofin in Russisch.
Die Vielfalt der Sprachen wird immer wieder in den Erinnerungen der Lagerhäftlinge beschrieben. Franzosen, Polen, Jugoslawen, Deutsche, Russen, Ungarn, Italiener kamen zusammen und fanden Formen der Verständigung. Der Film „Persian Lessons“ ist auch ein Film über Sprache und Verstehen. Es ist ein Film über Kommunikation. Das Fantasie-Farsi hat der Regisseur zusammen mit einem Sprachwissenschaftler entwickelt.
„Persian Lessons“ stellt die Frage nach der Wahrhaftigkeit von Kommunikation, denn neben der Lagersituation stellt sich ein Lehrer-Schüler-Verhältnis zwischen Gilles und Koch her, das das Verhältnis SS-Offizier und Häftling in Nuancen unterläuft. Gleichzeitig kann jeder Fehler, der Gilles in seinem Konstrukt unterläuft, den Tod bedeuten. Nur mit Mühe entgeht er seinem Sterben, als er einmal eines Fehlers überführt wird, da er selbst im Fiebertraum in seiner Fantasiesprache spricht.
Todeslisten und Kaddisch
Seine exakte Handschrift bringt Gilles von der Küche in die Schreibstube. Dort fällt ihm der Stoff zu, den er für seine Sprache braucht. Eine Sprache aus den Namen der Toten. Er setzt sie zusammen, um zu überleben und letztlich, um Zeugnis abzulegen. Fiktiv bleibt die Erfindung eines Sprachsystems nur so lange, bis man sie in ihrem Kontext versteht. Wer über das Mädchenorchester von Auschwitz gelesen hat, weiß, welche Leistungen unter widrigsten Umständen möglich waren. Wer vorher nur Klavier gespielt hatte, spielte plötzlich Geige. Wer vorher kein Farsi sprach, entwickelt es.
Der Exaktheit des Systems steht die Exaktheit Gilles‘ gegenüber. Der Exaktheit des Tötens die individuelle Exaktheit, die rettet. Als das Lager sich auflöst, bleibt das System der Sprache und mit ihm bleiben die Namen. Gilles sagt sie alle auf. Es sind 2840, die er sich gemerkt hat.
Persian Lessons
Russische Föderation / Deutschland / Belarus 2019, 127 Min.
Regie: Vadim Perelman
Mit: Nahuel Pérez Biscayart, Lars Eidinger, Jonas Nay, Leonie Benesch, Alexander Beyer
Berlinale 2020 – Sektion: Berlinale Special Gala