Addio heißt auf Italienisch Abschied. Ein Addio findet im Film gleich auf mehrerlei Hinsicht statt. Zunächst einmal handelt es sich bei dem Film um einen filmischen Abschied des Regisseurs von seinem Bruder. Paolo Tavianis lässt seine Geschichte mit einer handschriftlichen Einblendung beginnen, die seinem Bruder Vittorio gewidmet ist. Auch das letzte Drittel des Filmes endet mit einem berührenden Abschied, der hier aber nur erwähnt werden soll, damit nicht zu viel verraten wird, da der Film an dieser Stelle stark mit den Erwartungen bricht. Einen weiteren Abschied stellt der lange Abschied von Luigi Pirandello dar, dem berühmten italienischen Nobelpreisträger für Literatur von 1934.
Und hier nimmt die Geschichte Fahrt auf, denn was zunächst behäbig beginnt, mündet in einer ausufernden, kurzweiligen und teils absurden Szenerie. Paolo Taviani lässt in seinem Film sein großes Idol Luigi Pirandello sterben. Der Nobelpreisträger will nicht mehr und verfügt, dass sein Leichnam nach Rom gebracht wird und seine Asche in einer Urne in Sizilien, seiner Heimat, eingemauert wird. Der Wunsch des größten Dramatikers Italiens wird natürlich gehört und soll umgesetzt werden. Das Italien des Jahres 1936 aber, das der Film darstellt, ist ein faschistisches Italien und die Faschisten schicken den Leichnam zunächst ganz schmucklos hinter steinerne Wände in Rom. Zehn Jahre später erst wird ein Delegierter beauftragt, der den Leichnam nach Sizilien überführen soll. Die nun beginnende Reise ist grotesk, abgründig, und also das wahre Leben.
Während die amerikanischen Befreier unfähig sind, den Leichnam des Schriftstellers auszufliegen, weil die anderen Passagiere wegen des Sarges fluchtartig das Flugzeug verlassen, benutzen die Italiener in der Eisenbahn die Überreste des Schriftstellers als Unterlage für ihr Kartenspiel. Schließlich kommt der Nobelpreisträger für Literatur dann fast auch noch um seine letzte Segnung, da die Priester ihn lediglich in einem Sarg segnen wollen und nicht in einer griechischen Vase, in der er sich mittlerweile befindet. In Sizilien angekommen, können sich die Sizilianer nicht das Lachen verkneifen, da Pirandello mittlerweile in einem Kindersarg liegt und dort nicht einmal ganz hineinpasst.
Ein Spiel mit Zitaten und Erwartungen?
Die restliche Asche landet dann auf einer Zeitung, die es dem Film ermöglicht, innerhalb des Filmes in eine von Pirandello verfasste Novelle abzugleiten, denn die Novelle entstand aus einer Zeitungsnotiz und erzählt vom Mord eines sizilianischen Jungen an einem Mädchen in New York. Das Thema des Filmes ist Italiens Nachkriegstrauma: Tod, Werteverlust, Auswanderung und die Suche nach einer neuen Orientierung und Ordnung.
Und natürlich Luigi Pirandello! So kommt es, dass unzählige Zitate und Verweise auf das Leben und Werken des Schriftstellers im Film integriert und auf geschickte Weise montiert sind. Wer sich mit Luigi Pirandello auskennt, den mag jedes erkannte Zitat ungemein freuen, doch auch für Zuschauer, denen Pirandello noch ein Fremdwort bedeutet, können vom Film gleichermaßen informiert, vorwiegend aber unterhalten werden. Bereits die Unvermitteltheit des Titels stößt ins Auge, wenn etwa „Leonora addio“ zwar auf eine Novelle von Pirandello anspielt, diese aber gar nicht aufgegriffen wird. Auch eine Leonora gibt es im Film nicht. Auf übergeordneter Ebene lässt sich nicht unbegründet vermuten, dass es dem neunzigjährigen Regisseur um das Spiel und vor allem um den Bruch mit Erwartungen geht.
So erzählt der Film etwa eine gute Stunde von der Reise des Schriftstellers nach seinem Tod und bis dieser umständlich und endlich Sizilien erreicht. Dann kommt es zum radikalen Bruch: Der Zuschauer wird in Pirandellos Novelle „Der Nagel“ hineingezogen. Der Plot handelt nun von dem besagten Mord eines Sizilianers an dem Mädchen in Brooklyn. Während sich dem Zuschauer die Reise Pirandellos in Schwarz-weiß darbietet, findet er sich plötzlich im kontrastreichen wie farbigen Brooklyn wieder. Wer hätte das erwartet? Niemand! Und darum geht es Paolo Taviani mit seinem im Februar 2022 bei den 72. Internationalen Filmfestspielen in Berlin uraufgeführten Werk.
Dass Taviani Pirandello zur Hauptfigur macht, bzw. dessen Asche, dürfte Pirandello selbst amüsiert haben. Dass der Film nicht das ist, was er zu sein scheint, ist hingegen ganz im Sinne Pirandellos, der ebenso gerne wie Taviani mit Erwartungen gebrochen hat. Die schon angesprochene Widmung Tavianis an seinen Bruder zu Beginn des Films stellt aber keinen Bruch dar, sondern ist eher folgerichtig und konsequent, da Pirandello in den gemeinsamen Arbeiten zwischen ihm und seinem Bruder immer wieder aufgetaucht ist. So ist es auch nicht verwunderlich, dass Taviani weitere Zitate seines Bruders einflicht und natürlich frech wie er ist, auch sich selbst zitiert. Man muss nicht jedes Zitat und jeden Verweis verstehen, um vom Film unterhalten zu werden. Das intellektuelle Spiel Tavianis zu verstehen, bereitet sicher aber mehr Freude. Dass dieses komplizierte Spiel aber nicht von allen geteilt werden konnte, mag als Ursache dafür gelten, dass der preisverdächtige Film am Ende doch leer ausging.
Leonora addio
Regie:
Italien 2021
Berlinale – Sektion Wettbewerb