Als am 13. März 1938 der Anschluss Österreichs an Deutschland „vollzogen“ wurde, bedeutete dies auch einen Wendepunkt in der Pressegeschichte Österreichs. Hatte schon im Ständestaat (1933-38) nur noch eine relative Pressefreiheit bestanden, so fiel diese nun gänzlich der Propagandapolitik der Nationalsozialisten zum Opfer. Einige Zeitungen mussten ihr Erscheinen sofort einstellen, anderen verblieben noch wenige Wochen bis zur Volksabstimmung am 10. April 1938, damit der Anschein des vielfältigen und damit scheinbar freien Pressewesens Österreichs gewahrt wurde, bis auch diese Blätter entweder mit anderen Redaktionen bzw. Zeitungsverlagen zusammengelegt oder eingestellt wurden. Solche Zeitungen, die sich schon in der Ersten Republik oder später im Ständestaat deutlich gegen den Anschluss Österreichs an Deutschland und damit gegen Hitler ausgesprochen hatten, mussten nach dem Willen des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda unverzüglich von der Bildfläche verschwinden. Die Redaktionen wurden geschlossen, die Mitarbeiter verhaftet oder mit einem Schreib- bzw. Berufsverbot belegt, etwaig vorhandene Firmenbesitztümer der Zeitungsverlage und Privatbesitz zumeist jüdischer Eigentümer wurden vorerst beschlagnahmt und im Anschluss „arisiert“. Zu den ersten dieser Zeitungsverlage, die von den Maßnahmen der NS-Pressepolitik im März 1938 betroffen waren, zählten die Wiener Firmen Morgen-Verlag Ges.m.b.H. mit der Wochenzeitung „Der Morgen Wiener Montagblatt“, die Tag Verlag A.G. mit der Zeitung „Der Wiener Tag“ und die einst vom „Skandalverleger“ Imre Békessy gegründete Kronos-Verlag A.G. mit der Zeitung „Die Stunde“.
Zwischen allen drei Verlagen bestanden sowohl personelle als auch finanzielle Verbindungen und Abhängigkeiten: So waren viele der Mitarbeiter gleichzeitig für mehrere der Blätter tätig. Die Redaktionen der Zeitungen und die Verlagssitze befanden sich im März 1938 alle im Verlagshaus Canisiusgasse 8-10 im neunten Wiener Gemeindebezirk. Besonders die Tag A.G. und die Kronos A.G. waren auch durch gegenseitige Aktienanteilsinhabe miteinander verbunden. Alle drei Zeitungen wurden bei derselben Druckerei, der Johann. N. Vernay Druckerei- und Verlags A.G., im Hause Canisiusgasse 8-10 gedruckt, die selbst wiederum vor allem Anteile an den Verlagen Kronos A.G. und Tag A.G. hielt. Da die Vernay A.G. seit 1912 mit dem Compass-Verlag verbunden war, obgleich sich beide Firmen schon 1930 vorläufig und 1936 endgültig von einander getrennt hatten, hielt 1938 auch der Compass-Verlag über die Vernay A.G. noch Verbindungen zu den genannten drei Zeitungsverlagen. Damit waren in der Canisiusgasse 8-10 im März 1938 nicht nur diverse Zeitungsverlage und -redaktionen ansässig („Wiener Tag“, „Morgen“, „Stunde“, aber auch die Redaktionen der „Bühne“, „Mein Film“, die der Rätselzeitung „Die Sphinx“ und einige mehr), sondern auch eine große Druckerei (Vernay A.G.) mit Verbindungen zum Wirtschaftsverlag Compass und einige kleinere Druckereien („Gamma“ Buchdruckerei Ges.m.b.H., Buchdruckerei Rudolf Hanel). Damit nahm das Verlagshaus nicht nur eine wichtige Stellung als Sitz großer linksliberaler österreichischer Tages- und Wochenzeitungen in der Wiener Presselandschaft ein, es war gleichzeitig auch ein nicht unbeachtlicher Standort großer Firmen mit vielen Arbeitnehmern. So hatte allein die Vernay A.G. 1938/39 noch 400 Mitarbeiter zu verzeichnen.
Im März 1938 änderte sich die Situation schlagartig. Die letzten Ausgaben der Zeitungen „Der Wiener Tag“ und „Die Stunde“ fielen auf den 12. bzw. 13. März 1938, die der Wochenzeitung „Der Morgen“ auf den 07. März des Jahres. Die Redaktionen wurden geschlossen, die Zeitungen verboten und viele Mitarbeiter von der Gestapo in so genannte „Schutzhaft“ genommen. Darunter fielen zahlreiche bekannte Persönlichkeiten der Kultur- und Presselandschaft Wiens: Maximilian Schreier, Herausgeber des „Morgen“, Gründer der Morgen Ges.m.b.H. (1910) und der Tag A.G. (1922), Dr. Rudolf Kalmar, Chefredakteur des „Tag“, Vincenz Ludwig Ostry, gleichfalls Chefredakteur des „Tag“ u.v.a.
Im Zuge der „Arisierung“ bzw. Liquidierung der Firmen wurde bei allen drei Zeitungsverlagen derselbe kommissarische Verwalter im Auftrag der Vermögensverkehrsstelle (VVST) eingesetzt (zuerst ein gewisser Ernst Thiel, ab Juli 1941 Herr Albert Klapper), um das vorhandene Kapital der Firmen dem Staat nach vorangegangener Schuldentilgung zu übereignen. Jüdische Verlagsinhaber bzw. Teilinhaber (ebenso wie einfache Regimegegner) verloren ihr Vermögen, belegt sind auch „Arisierungen“ des Privatvermögens, das zuvor noch in einer groß angelegten Aktion der VVST unter der Überschrift „Private Vermögensanmeldung von Juden“ erfasst und dann mit diversen Steuern (angefangen von der Reichsfluchtsteuer bis hin zur Judensteuer) belegt wurde. Damit verloren jüdische Journalisten, Redakteure und Herausgeber nicht nur ihre berufliche sondern auch ihre private wirtschaftliche Existenz. Wer nicht bis zum 11. März 1938 Österreich hatte verlassen können, fürchtete nun um sein Leben. Einige Mitarbeiter des „Morgen“, des „Wiener Tag“ und der „Stunde“ wurden in Konzentrationslager verschleppt und kamen dort um (so starb der Satiriker Theodor Waldau am 27.03.1942 in Dachau), andere nahmen sich aus Angst vor Deportation in der Haft das Leben (darunter Maximilian Schreier), wiederum andere überlebten die Zeit im KZ und konnten nach 1945 am Aufbau eines neuen, unabhängigen und freien Pressewesens in Österreich mitwirken (zu nennen wäre hier unter anderem Rudolf Kalmar).
Der Compass-Verlag blieb von einer „Arisierung“ des Betriebes, also der „Beseitigung jüdischer Mitarbeiter“ aus dem Firmengeschehen in all seinen grausamen, unmenschlichen Auswüchsen und der Enteignung der Firma, verschont. Es kamen sogar ehemalige Mitarbeiter der „Stunde“ und des „Tag“ beim Compass-Verlag unter und konnten dort die Zeit des Nationalsozialismus in Österreich überstehen, weil sie vom Inhaber des Verlages, Dr. Rudolf Hanel, geschützt wurden. Hanel, der sich den Nationalsozialisten angebiedert und später den Tiroler Freiheitskämpfern angeschlossen hatte, war eine schillernde Figur jener Tage, der es gelang, trotz erwiesener Mitgliedschaft in der NSDAP und der SA einer Verurteilung gemäß dem Verbotsgesetz und dem Kriegsverbrechergesetz durch das Volksgericht zu entgehen, weil ebendiese von ihm geschützten Mitarbeiter für ihn ausgesagt hatten (dazu zählten Vincenz Ostry, Josef Wirth und Ernst Kirchweger). Fragen nach Schuld oder Unschuld der Verlagseigentümer und -mitarbeiter blieben ungeklärt. Der Fall Hanel steht symptomatisch für die unzureichende Aufarbeitung der NS-Geschichte des Presse- und Verlagswesens in Österreich nach 1945.
Die Vernay A.G. wurde dagegen tatsächlich „arisiert“. Diese „Arisierung“ geschah nach heutigem Forschungsstand von innen heraus, also durch die Mitarbeiter bzw. durch eine NS-Werksgemeinschaft der Vernay A.G. selber, welche damit die Schließung des Betriebes verhinderten, der schon allein auf Grund seiner Nähe zum tschechischen Außenministerium (die Vernay A.G. war gemäß ihrer Aktienanteilsinhaber mehrheitlich ein tschechischer Betrieb) eigentlich hätte liquidiert werden müssen. Offenbar wollte man keine so große Zahl arbeitsloser „Arier“ riskieren und so gelangte der Betrieb letztlich in die Hände Erwin Mettens und Nachfolger. 1949 trennten sich die Vernay A.G. und die Erwin Metten A.G. wieder voneinander, das Haus in der Canisiusgasse 8-10, welches im Besitz der Vernay A.G. gestanden hatte, ging wieder in deren Besitz über. Im Zuge finanzieller Schwierigkeiten der Vernay A.G. schlossen sich die Firmen Metten und Vernay A.G. jedoch 1974 wieder zusammen, bis die Vernay A.G. 1986 endgültig in Liquidation ging. Das Haus in der Canisiusgasse 8-10 ist heute im Besitz der ÖBB Genossenschaften und wurde zum Wohnhaus umgestaltet. An seine bewegte, 74 Jahre andauernde Geschichte als Verlagshaus erinnert heute weder ein Schild noch eine Gedenktafel.
Autorin: Susanne Swantje Falk
Literatur
Bolbecher, Siglinde/ Kaiser, Konstantin: Lexikon der österreichischen Exilliteratur, Wien 2000. (siehe dazu auch www.driesen-online.de)
Etzersdorfer, Irene: „Arisiert“. Eine Spurensuche im gesellschaftlichen Untergrund der Republik. Mit einem Vorwort von Peter Huemer. Kremayr & Scheriau, Wien 1995.
Falk, Susanne: Die „Arisierung“ Wiener Zeitungsverlage. Das Verlagshaus Canisiusgasse 8-10. Verlag Dr. H.H. Driesen, Taunusstein 2002.
Hall, Murray G.: Österreichische Verlagsgeschichte 1918-1938. Band I: Geschichte des österreichischen Verlagswesens; Band II: Lexikon der belletristischen Verlage. Wien: Böhlau Verlag 1985. (= Literatur und Leben. Neue Folge, Band 28/I-II.)
Hausjell, Fritz: Journalisten für das Reich. Der „Reichsverband der deutschen Presse“ in Österreich 1938-45. Verlag für Gesellschaftskritik, Wien 1993. (= Österreichische Texte zur Gesellschaftskritik; Bd. 56)