Wenn man sich intensiv mit deutscher Lyrik beschäftigt, kommt man nicht umhin zu bemerken, welch hohen Anteil Frauen daran haben. Und in dem vorangegangenen Jahrhundert sind es vor allem jüdische Dichterinnen, die unsere Literatur enorm bereichert haben: Else Lasker-Schüler, Gertrud Kolmar, Mascha Kaleko, Ilse Aichinger, Rose Ausländer, Hilde Domin und – vor allem – Nelly Sachs, die am 10.12.1966, an ihrem 75. Geburtstag, mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde. Obwohl ihre Hauptwerke erst nach dem zweiten Weltkrieg entstanden, hat Kurt Pinthus, der Herausgeber der legendären „Menschheitsdämmerung“, einer Sammlung expressionistischer Gedichte, bereits 1936 Nelly Sachs in einem Aufsatz als herausragende Lyrikerin bezeichnet.
Es gibt ein Wort von Theodor W. Adorno, das immer wieder zitiert wird: „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frisst auch die Erkenntnis an, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.“ Damit hat er ein Problem angesprochen, das bei aller Literatur nach und über Auschwitz auftritt, dass nämlich durch die – für die Literatur im Allgemeinen und das Gedicht im Besonderen – geforderte Ästhetisierung eines Geschehens, eines Gefühls, eines Gedankens, einer Weltanschauung usw. im Falle des Holocaust eine Verfälschung, Verharmlosung, Verniedlichung der grauenhaften Ereignisse bewirkt werden kann.
Dennoch hat es „Gedichte nach Auschwitz“ gegeben, wofür Paul Celans „Todesfuge“ ein bekanntes Beispiel liefert, in der von der „schwarzen Milch der Frühe“, dem „Grab in den Lüften“, dem Tod als einem „Meister aus Deutschland“ oder dem „aschenen Haar der Sulamith“ die Rede ist. Dieses Gedicht ist auch ein schöner Beleg für die Richtigkeit der bewusst überspitzt formulierten Variation des Adorno-Zitates von Peter Szondi: „Nach Auschwitz ist kein Gedicht mehr möglich, es sei denn auf Grund von Auschwitz.“ (Wobei Auschwitz natürlich stellvertretend für das nationalsozialistische Vernichtungssystem insgesamt steht.)
Mit noch größerer Berechtigung lässt sich Szondis Aussage auf Nelly Sachs anwenden. Die grausige Erfahrung des Konzentrationslagers ist ihr zwar erspart geblieben, aber ihre in der Kindheit und frühen Jugend durch verschiedene traumatische Erlebnisse ausgebildete überaus große Sensibilität prädestinierte sie gewissermaßen zur Dichterin des Holocaust, was ich an zwei Gedichten exemplarisch zeigen möchte, wozu zum Vergleich noch ein früheres Gedicht herangezogen werden soll.
1938, also vor Auschwitz, hat sie ein kleines Gedicht geschrieben, das sich mit einem ähnlichen, nach dem Krieg veröffentlichten, vergleichen lässt:
Gedichte von Nelly Sachs:
Abschied, du Nachtigallenwort
Abschied, du Nachtigallenwort,
Das sich zu Gott versang,
Du Tränenkrug, drin hier und dort
Ein Schluchzendes ertrank.
Küsst sich in dir ein Schwalbenpaar,
Das auseinander zieht?
Trennt dich der Tod, ein leises Haar,
Das Lieb von Liebe schied?
Das Gedicht erinnert an die rührende Szene in Shakespeares „Romeo und Julia“, in der sich die Liebenden darüber streiten, ob sie die Nachtigall oder die Lerche gehört haben, wobei die erstere die Fortdauer der Liebesnacht, die letztere den Abschied für immer bedeutet. Wenn Nelly Sachs vom „Nachtigallenwort“ spricht, deutet sie damit an, dass ein Abschied stets auch etwas mit Tod zu tun hat, wie es in dem berühmten französischen Gedicht heißt: „partir, c’est mourir un peu“. 1949, also nach Auschwitz, schreibt sie ein weiteres Abschiedsgedicht:
Abschied
ABSCHIED,
aus zwei Wunden blutendes Wort.
Gestern noch Meereswort
mit dem sinkenden Schiff
als Schwert in der Mitte –
Gestern von Sternschnuppensterben
durchstochenes Wort –
mitternachtgeküsste Kehle
der Nachtigallen –
Heute – zwei hängende Fetzen
und Menschenhaar in einer Krallenhand,
die riss –
Und wir Nachblutenden –
Verblutende an dir –
halten deine Quelle in unseren Händen.
Wir Heerscharen der Abschiednehmenden
die an deiner Dunkelheit bauen –
bis der Tod sagt: schweige du –
doch hier ist: weiterbluten!
Der Abschied, der „Lieb von Liebe schied“, war gestern ein „aus zwei Wunden blutendes Wort“, d.h. dass die Liebenden, das „auseinander ziehende Schwalbenpaar“ des frühen Gedichtes, beide den Schmerz über die Trennung empfinden. Aber die Trennung war „gestern“ (d.h. vor Auschwitz) Teil des Lebens, so wie es Nelly Sachs in einem anderen frühen Gedicht ausgedrückt hat: „ … und Leben hat immer nach Abschied geschmeckt.“ „Heute“ jedoch (d.h. nach Auschwitz) bedeutet Abschied „zwei hängende Fetzen und Menschenhaar in einer Krallenhand, die riss“. Es sind nicht mehr blutende Wunden, die ja auch schmerzhaft sind, sondern grausige „hängende Fetzen“, und man reicht sich zum Abschied nicht mehr die Hand, sondern die „Krallenhand“ eines Monsters reißt dem Gegenüber das Haar aus, ein überaus gewalttätiges Bild, das auch die Form des Gedichtes bestimmt. Denn wie das „Nachtigallenwort“ zerfetzt ist, so ist auch das Gedicht zerfetzt. Die ersten drei Strophen bestehen nur aus Satzfragmenten, und erst die letzte Versgruppe enthält zumindest einen vollständigen Satz, der den Überlebenden des Holocaust gilt: „Und wir Nachblutenden […] halten deine Quelle in unseren Händen.“
Das zweite Gedicht entstammt dem 1947 im ostdeutschen Aufbau-Verlag erschienenen Band „In den Wohnungen des Todes“:
O die Schornsteine
Und wenn diese meine Haut zerschlagen sein wird,
so werde ich ohne mein Fleisch Gott schauen.
Hiob [Kap. 19, V. 26]
O die Schornsteine
Auf den sinnreich erdachten Wohnungen des Todes,
Als Israels Leib zog aufgelöst in Rauch
Durch die Luft –
Als Essenkehrer ihn ein Stern empfing
Der schwarz wurde
Oder war es ein Sonnenstrahl?
O die Schornsteine
Freiheitswege für Jeremias und Hiobs Staub –
Wer erdachte euch und baute Stein auf Stein
Den Weg für Flüchtlinge aus Rauch?
O die Wohnungen des Todes,
Einladend hergerichtet
Für den Wirt des Hauses, der sonst Gast war –
O ihr Finger,
Die Eingangsschwelle legend
Wie ein Messer zwischen Leben und Tod –
O ihr Schornsteine,
O ihr Finger
Und Israels Leib im Rauch durch die Luft!
Wenn Nelly Sachs ihrem Gedicht ein Motto aus dem Buch Hiob des Alten Testaments voranstellt, fragt sie indirekt nach dem Sinn des menschlichen Leidens. Damit ist die Deutungsrichtung des Gedichtes „O die Schornsteine“ vorgegeben, und da es das erste des gesamten Bandes ist, auch die der folgenden Gedichte: Nelly Sachs will „Das Leiden Israels“ darstellen, will denen eine Stimme geben, die selbst nichts mehr sagen können, so wie dies Gertrud Kolmar in ihrem Zyklus „Das Wort der Stummen“ bereits 1933 verwirklicht hatte. Hier wird in äußerst präziser Form auf die Krematorien der Vernichtungslager hingewiesen. Die „sinnreich erdachten Wohnungen des Todes“ waren zunächst LKWs, deren Abgase man zur Ermordung der Juden verwendete, und „einladend hergerichtet“ waren sie in der Tat, da man die Fenster des Führerhauses mit Gardinen verhängt hatte. Als die LKWs sich als ineffektiv erwiesen, wurden die Gaskammern erbaut. Die Schornsteine der Krematorien leiteten den Rauch der Verbrannten in die Luft, die dermaßen von den schwarzen Wolken erfüllt wurde, dass die Sterne verdunkelten. (Bezeichnenderweise trägt Nelly Sachs‘ zweiter Gedichtband den Titel „Sternverdunkelung“)
In der dritten Strophe dieses Gedichtes spricht Nelly Sachs von dem „Wirt des Hauses, der sonst Gast war“ und macht damit in überaus klarer Weise deutlich, wie vorherrschend in den Todesfabriken von Auschwitz, Buchenwald, Maidanek und anderen das Gesetz der Perversion ist. Denn die „Wohnungen“ sind normalerweise für die Lebenden gedacht und der Tod ist nur ein gelegentlicher „Gast“. So antwortet z.B. Mephisto auf Fausts Klage, dass das Leben ihm verhasst sei, mit den Worten: „Und doch ist nie der Tod ein ganz willkommner Gast“. Hier aber, im Gedicht der Nelly Sachs, wird der „Gast“ zum „Wirt“, der Besucher zum allgegenwärtigen Besitzer, zum (Haus-)„Wirt“. Auf diese Weise wird ein indirekter Vorwurf gegen die Erbauer der „Wohnungen“ laut, weil diese „sinnreich erdacht“, also funktionell und effektiv sind, und der Tod an die Stelle des Lebens tritt. Dieser Gedanke wird durch die letzten drei Zeilen der Strophe noch besonders hervorgehoben, wenn die „Finger“ (des Arztes oder Sturmbannführers an der „Rampe“) die Grenze zwischen Leben und Tod markieren: „Die Eingangsschwelle legend wie ein Messer zwischen Leben und Tod“. Die abschließende Strophe fasst dann die Klage noch einmal knapp und beschwörend zusammen.
Diese beiden Gedichte (neben vielen anderen) zeigen, dass Nelly Sachs mit ihrer Lyrik das Urteil Adornos eindrucksvoll widerlegt hat. Dies ist auch die Ansicht Hans Magnus Enzensbergers, der sich wie kaum ein anderer dafür eingesetzt hat, dass die Dichterin den ihr gebührenden Platz in der deutschen Literatur findet. In einem 1963 veröffentlichten Aufsatz – also noch zu ihren Lebzeiten, weswegen er auch das Präsens verwendet, – hat er geschrieben:
„Adorno hat einen Satz ausgesprochen, der zu den härtesten Urteilen gehört, die über unsere Zeit gefällt werden können: Nach Auschwitz sei es nicht mehr möglich, ein Gedicht zu schreiben. – Wenn wir weiterleben wollen, muss dieser Satz widerlegt werden. Wenige vermögen es. Zu ihnen gehört Nelly Sachs. Ihrer Sprache wohnt etwas Rettendes inne. Indem sie spricht, gibt sie uns selber zurück, Satz um Satz, was wir zu verlieren drohen: Sprache.“
Autor: Helmut Mertens
Literatur
Dinesen, Ruth: Nelly Sachs. Eine Biographie, Frankfurt am Main 1994.
Lermen, Birgit / Braun, Michael: Nelly Sachs. „An letzter Atemspitze des Lebens“, Bonn 1998.
Sachs, Nelly: Gedichte, Frankfurt am Main 1966.
Sager, Peter: Nelly Sachs. Untersuchungen zu Stil und Motivik ihrer Lyrik, Dissertation, Bonn 1970.