Nord-Böhmen sollte ein Muster für das ganze Reich werden
Als Hitlers Armee am 15. März 1939 den Rest der freien Tschechoslowakei besetzte, hatte das Grenzgebiet bereits fünf Monate Okkupation hinter sich. Vor 68 Jahren kulminierten die langen und anspruchsvollen Vorbereitungen einer Umformung des größten Teils des heutigen Bezirks Ústí im neuen Reichsgau Sudeten. Dieser sollte ein Muster für ganz Deutschland werden. Wo würde der Sitz der Bezirksregierung sein, wie sollte der Palast des Polizeipräsidiums aussehen, was müsste alles beseitigt werden? Solche Probleme bewegten an jenem 15. März vor 68 Jahren die Stadt Ústí nad Laben (damals natürlich Aussig an der Elbe), die Sitz der Regionalregierung des Gaus Sudeten war. Damals weltbekannte Architekten sollten die nordböhmische Metropole in ein Schaufenster des Nationalsozialismus verwandeln. Ein paar Monate später brach freilich der Krieg aus, zur Realisierung der kühnen Pläne fehlten Arbeitskräfte und Mittel. Die Mehrheit der megalomanischen Projekte blieb letztlich nur papierene Vision.
Hitler hegte neben seinen wahnsinnigen Bestrebungen nach der Weltherrschaft seit 1934 den Wunsch, die Verwaltung von ganz Deutschland so zu verändern, dass die letzten Überbleibsel demokratischer Strukturen beseitigt würden. Er wollte die relativ freien Bundesländer beseitigen und an ihre Stelle Gaue setzen, die direkt von der zentralen Macht dirigiert würden. Der Widerstand einzelner Länder verhinderte das zunächst. „Würden zum Reich erst Länder mit noch nicht fixierten Machtverhältnissen stoßen, also Österreich und das tschechische Grenzland, dann bestünde für Berlin die Möglichkeit, in ihnen ein neues Modell der Reichsgau auszuprobieren, das Mustercharakter für die restlichen Reichsgebiete hätte“, schrieb Zdeněk Radvanovský, ein Historiker aus Ústí, in seinem Buch „Das Sudetenland unter dem Hakenkreuz“, in welchem er die Ausnahmestellung des besetzten Sudetengebiets charakterisierte. Der neue Sudeten-Gau sollte drei Regierungsbezirke mit den Hauptstädten Opava (Oppau), Karlovy Vary (Karlsbad) und Ústi (Aussig) haben. In Liberec (Reichenberg) sollte die oberste Gauverwaltung residieren.

Hans Krebs (1888-1947)
Dem Regierungspräsidenten von Ústí, Hans Krebs (1888-1947, Bild), genügte das Gebäude des ehemaligen tschechischen Gymnasiums bald nicht mehr, er verlangte für sein Amt einen repräsentativen Palast. Für den Muster-Gau war das Beste gerade gut genug und so entstand das Projekt eines Regierungsgebäudes an der „Mariánská skála“, die heute das Stadtzentrum von den entfernteren Siedlungen teilt. Fotographien des Baumodells sind erhalten geblieben. Es sollte ein majestätischer Bau werden, der von dem griechischen Tempel auf dem Berg Olymp inspiriert war. Eine Säulengalerie streckte sich bis zum Uferfelsen oberhalb der Elbe. Die bildhauerische Verzierung des Hauptgebäudes war bereits fertig. Sie bestand aus drei muskulösen arischen Jünglingen, die sich nach jahrelanger Unterdrückung durch das „tschechische Element“ endlich erhoben haben und die Fäuste ballen. Das Werk trug den Titel „Befreiung der Sudetendeutschen“.
In der Stadt brach in den ersten Besatzungsmonaten eine intensive Bautätigkeit aus und die Leute wussten über die geplanten Neubauten Bescheid: „Die Bělská-Straße wird begradigt, da kommt das Elektrizitätswerk hin. Das alte Heinzwerk am Bahnhof kommt ebenfalls weg. Das Fleischgeschäft Houdek muss einer neuen Straße weichen, die bis zum Matterni-Platz führt. Das soll sehr rasch geschehen. Die ehemalige tschechische Schule in der Solná-Straße ist bereits verschwunden, dort steht jetzt ein riesiges Hotel. Ich weiß nicht, was man noch alles zerstören und bauen wird“, beschrieb Jan Müller, ein Tscheche aus Ústí, Anfang 1939 in einem Brief die stürmische Lage. Damals ahnte er noch nicht, wie bald die Baupläne ihn auch persönlich tangieren würden: „Mein Chef bekam vom Bauamt einen Hinweis, dass unsere Straße verbreitert würde, wofür alle Häuser auf unserer Straßenseite verschwinden müssten, um den Bau zu ermöglichen. Auch wir müssen ausziehen“, resümierte er die konkreten Ideen der Bauplanung. Müller wohnte in der Hrnčířská-Straße, die als Standort des riesigen Polizeipräsidiums vorgesehen war.

Fritz Höger (1877-1949)
Wie unlängst Matěj Páral, ein Architekt aus Ústí, herausfand, war der weltbekannte deutsche Architekt Fritz Höger (1877-1949, Bild) für die Gestaltung des palastähnlichen Polizeipräsidiums zuständig. Dieser war besonders durch den Bau des „Chile-Hauses“ in Hamburg, das vermutlich in keinem Lehrbuch der modernen Architektur fehlt, berühmt geworden. „Entgegen seinen progressiven Bauten der Vergangenheit war seinem Projekt in Ústí deutlich anzumerken, dass er dem Geschmack der Nationalsozialisten entgegenkommen wollte und ihm seine Kreation weitgehend anpasste. Obwohl es sehr interessant gewesen wäre, in Ústí ein Bauwerk von Fritz Höger zu haben, war es wohl gut so, dass gerade dieses letztendlich nicht ausgeführt wurde“, kommentierte Matěj Páral das Vorhaben.
Der renommierte Architekt entwarf für Ústí noch zwei weitere Großkomplexe an Verwaltungsgebäuden, unter anderem einen Alternativvorschlag für den Regierungssitz an der Mariánská skála. Aber warum ließ sich dieser bedeutende Gestalter überhaupt mit den Nationalsozialisten ein, gab sein freies Schaffen auf und akzeptierte den Auftrag in Ústí „am äußersten Rand des Deutschen Reichs“? Nach Ansicht der deutschen Historikerin Ingrid Claudia Turtenwald hatte er Angst, den letzten Zug in die neue Ära verpasst zu haben. Er dachte, dass das seine letzte Arbeit sein könnte.
Im Archiv von Ústí sind auch die Pläne aufbewahrt, die der Architekt Blünnler für den Bau einer regionalen Feuerwache in Neštěmice entworfen hatte. Im Geist der Zeit projektierte er einen überdimensionalen Bau – einen Komplex von Gebäuden an einem neuen Platz, der nach Adolf Hitler benannt werden sollte. Für die Platzmitte sah er ein Kriegsdenkmal mit ewigem Feuer vor. Der Architekt entwarf sein Projekt 1940 und allein das Denkmal verriet, welch schlechte Propheten er, seine Vorgesetzten und die obersten Befehlshaber waren. Auf dem Denkmalssockel sollten laut Entwurf die Jahreszahlen 1939-1943 angebracht werden, d.h. Blünnler war überzeugt, der Krieg wäre nach vier Jahren vorüber – selbstverständlich mit einem deutschen Sieg. In den Plänen zur Neugestaltung Ústís war auch der Bau eines Flugplatzes in Kočkov vorgesehen. Aber das anspruchsvollste Projekt war der Plan, durch die Mariánská skála einen langen Straßentunnel zu graben, der eine direkte Verbindung zwischen Ústí und Děčín (dt.: Tetschen-Bodenbach) gesichert hätte. Diese war vor allem zu Zeiten von Überschwemmungen wichtig, in denen der Hauptarm der Elbe regelmäßig über die Ufer trat. Der Bau wurde tatsächlich begonnen, Arbeiter gruben einige Dutzend Meter Tunnel und zwei Belüftungsschächte. Heute dient das Objekt als Atombunker. Neben der Ausführung von politisch wichtigen Bauten proklamierten die Nationalsozialisten auch ihre Absicht, die drückende Wohnungsnot zu beseitigen. Sie ließen für Ústí und seine Umgebung ganze Siedlungen projektieren, die aber das Schicksal des Baus eines Regierungspalastes teilten. Sie wurden nie ausgeführt.
Nur ein einziger geplanter Palast erlebte in Ústí seine Fertigstellung, nämlich das heutige Gebäude der Tschechischen Sparkasse auf dem Friedensplatz, das Franz Arnold, ein herausragender Architekt aus Ústí, entworfen hatte. Ganz typisch für die Umgestaltung Ústís zum Regierungssitz des Sudetengaus war der Neubau des Lidice-Platzes. Die Nationalsozialisten ließen Bäume ausreißen, zerstörten den Marktbrunnen und setzten an seine Stelle einen Appellplatz für Militärparaden. Erinnerungen an alle diese Projekte mussten später die größenwahnsinnigen Pläne erwecken, die in sozialistischen Zeiten vorgelegt wurden, als man den Umbau Ústís zur regionalen Metropole betrieb. Denen fiel u.a. auch das Haus von Jan Müller zum Opfer, das im Krieg gerade noch der Zerstörung entgangen war. Die späteren Architekten hatten sich wohl von Högers Entwürfen für ein Polizeipräsidium inspirieren lassen.
Autor: Martin Krsek. Shoa.de dankt Martin Krsek für die Erlaubnis, seine Studie in deutscher Übersetzung veröffentlichen zu dürfen. Quelle des Originals: Martin Krsek: Sever měl být vzorem celé Řiší, in: Mladá fronta dnes 20.3.2007. Die Übersetzung aus dem Tschechischen fertigte Wolf Oschlies an.