Auf einem der letzten Fotos liegt Hanni Lévy zu Hause im Krankenbett und streckt der Kamera frech die Zunge entgegen. Mit dieser einsteinschen Geste wollte sie dem Tod nochmals trotzen und allen Freunden in der Welt zeigen, dass sie ihren Berliner Humor noch nicht verloren hat. Diesmal aber hat dem „Sonntags- und Glückskind“, wie das einzige Kind von der Mutter genannt wurde, der Humor nicht geholfen und sie starb mit über 95 Jahren in ihrer Pariser Wohnung. Über die von Katharina Kaiser initiierte Ausstellung „Wir waren Nachbarn“ im Schöneberger Rathaus waren Claus Räfle und Alejandra López auf Hanni Lévy aufmerksam geworden und ihr Film „Die Unsichtbaren – Wir wollen leben“ (2017) machte die am 16. März 1924 in Berlin-Tempelhof als Hanni Weissenberg Geborene international bekannt. Der große Erfolg des Dokudramas über das Untertauchen von vier Juden in Berlin unter den Nazis vitalisierte die letzte Überlebende. Weil Ruth Arndt, Eugen Herman-Friede und Cioma Schönhaus bereits gestorben waren, reiste Hanni Lévy zu vielen Premieren, sogar nach New York und berichtete über die Zeit unter dem NS-Regime. Dank ihrer lebhaften und detailgenauen Erinnerung konnte Hanni Lévys Lebens- und Überlebensgeschichte „Nichts wie raus und durch!“, herausgegeben von Beate Kosmala 2019 im Metropol-Verlag, erscheinen. Jährlich mehrfach besuchte Hanni Lévy meist in Begleitung einer ihrer wunderbaren Kinder Nicole oder René, bis zuletzt Berlin und war auch im Jüdischen Museum immer ein gern gesehener Gast. Dort stand sie Schulklassen Rede und Antwort und im Nu war die von Statur kleine und vom Herzen so große Hanni Lévy bei solchen Auftritten von Jugendlichen umringt. Mit großen Augen und schierer Neugier hingen sie an Hannis Lippen und ließen sich vom Leben in der Illegalität erzählen. Schnell wurde sie von den jungen Menschen ins Herz geschlossen.
Mit der Reichspogromnacht vom 9./10. November 1938 war die Kindheit Hanni Weissenbergs zu Ende. Bereits 1935, nachdem die Nürnberger Gesetze verabschiedet waren, hatten die Eltern sie in der Joseph-Lehmann-Schule der jüdischen Reformgemeinde in der Joachimsthaler Straße angemeldet, zu der sie täglich aus der Solmsstraße in Kreuzberg fuhr. In diesem geschützten Raum hatte sie Spaß und viele Freunde, darunter Steffie Ries, die kleine Schwester des später berühmten New Yorker Fotojournalisten Henry Ries. Nach dem frühen krankheitsbedingten Tod der Eltern und der Deportation der Großmutter im Dezember 1942 ins KZ Theresienstadt war Hanni mit knapp 19 alleine auf sich gestellt. Sie leistete Zwangsarbeit bei der „Zehlendorfer Spinne“. Die Lage wurde nun aber immer bedrohlicher und sie entschied sich rechtzeitig – noch bevor am 27. Februar 1943 die SS in einer Großrazzia alle jüdischen Zwangsarbeiter abholte – unterzutauchen wie ungefähr 7000 andere jüdische Menschen in Berlin. Bis auf eine Ausnahme gelangte Hanni, das „Sonntagskind, ein Glückskind“, wie ihre Mutter sie bezeichnet hatte, immer an hilfsbereite Deutsche, die ihr trotz eigenem Risiko selbstlos halfen, darunter auch die Familie Most, wo sie auch Unterschlupf fand. Bereits unter einer anderen Adresse ließ sie sich mit Wasserstoffperoxid das Haar blondieren, trennte den gelben Stern vom Mantel und bewegte sich nun als „arische“ Deutsche in Berlin. Die Familie Matschkowski, wohnhaft in der Mackensenstraße 5 (heute Else-Lasker-Schüler-Straße nördlich des Nollendorfplatzes), erlaubten Hanni ihre Adresse zu nutzen, um sich unter dieser Adresse mit einem Postausweis für 50 Pfennig unter dem deutschen Namen Hannelore Winkler registrieren zu lassen. Sie verdiente sich u.a. Geld mit dem Austragen des „Völkischen Beobachters“ sonntags für einen Kiosk in der Kurfürstenstraße und sah sich öfter Filmschnulzen im Kino „Concordia“ in der Bülowstraße an. Bei einem der Besuche setzte sich ein junger Mann neben sie, der sich als Oskar Kolzer vorstellte und sie bat, sich mit ihm während der letzten drei Tage vor seiner Einberufung zur Wehrmacht zu Spaziergängen zu treffen. Sie solle sich bitte auch ab und an bei seiner Mutter Viktoria Kolzer, der Kassiererin im Kino, melden, da er sich um sie und seinen kranken Vater Sorgen mache. Etwas später, in der Not nach einer neuen Unterkunft, offenbarte sich Hanni gegenüber Viktoria Kolzer als „geflitzte Jüdin“. Die Familie Kolzer bewohnte eine kleine Parterrewohnung im rechten Seitenflügel der Hauses in der Nollendorfstr. 28 und nahmen Hanni Weissenberg wie selbstverständlich auf, um sie vor Verfolgung, Deportation und Vernichtung zu retten. Nach dem Tod des bereits kranken Jean Kolzer bangten Viktoria und Hanni um Oskar Kolzer an der Front und wuchsen regelrecht zu einer kleinen Familie zusammen.
Nach der Befreiung zog Hanni 1946 nach Paris zu Onkel und Tante, und heiratete dort 1948 den selbstständigen Maler und Tapezierer Ernst Jakob Lévy. 1952 kam der Sohn René und 1957 die Tochter Nicole zur Welt. Sehr früh nach dem Krieg setzte sich Hanni für Viktoria Kolzer ein, damit sie als Antifaschistin und „Unbesungene Heldin“ geehrt und mit einer Zusatzrente ausgestattet wurde. Nach dem frühen Tod ihres Mannes 1989 startet sie in ihr „drittes Leben“ und widmete sich der Gedenk- und Erinnerungspolitik. Es war 2009, als Hanni Lévy mit dem Filmteam von Räfle und López Beatrice Magnus-Wiebel um Einlass bat, damit im Hof gefilmt werden könne. Magnus-Wiebel hatte über die Geschichte gelesen und begriff sofort, dass es sich um die untergetauchte Jüdin handeln musste, die hier vor laufender Kamera interviewt wurde. Aus dieser Begegnung entstand eine enge und herzliche Freundschaft von Hanni Lévy zu einem Gros der Hausbewohner in der Nollendorfstraße 28, darunter auch Manfred und Monika Schlösser, die dort den Verlag „Agora“ mit einem Schwerpunkt auf Exilliteratur betreiben. Heute erinnern nicht nur eine Gedenktafel am Seitenflügel an die Rettung Hanni Lévys, sondern zwei zusätzliche an die Familie Kolzer an der Straßenfront des Hauses. Zu beiden Anlässen, die als große Feste zelebriert wurden, ließ es sich Hanni Lévy nicht nehmen, engagierte Reden zu halten. Am Gedenktag der Auschwitz-Befreiung am 27.1.2018 sprach Hanni Lévy auf Einladung von Claudia Roth auf dem Parteitag der Grünen in Hannover und brachte die für sie wichtige Botschaft schon im ersten Satz unter: „Ich stehe vor Ihnen, um zu bezeugen, dass nicht alle Deutschen Mörder waren.“ Am 26. Juni 2018 war sie in Begleitung der Tochter Nicole zum Tête-à-Tête mit Angela Merkel ins Bundeskanzleramt geladen, das auf einem Foto von Steffen Seibert verewigt wurde. Freunde hatte Hanni Lévy schon lange in vielen Ländern und mindestens auf zwei Kontinenten, aber die wohl intensivsten Beziehungen hatte sie zu „ihrer“ Stadt Berlin, in der sie noch mehr als „einen Koffer“ hatte, um hier das Lied von Ralph Maria Siegel zu zitieren, das durch Marlene Dietrich und Hildegard Knef weltberühmt wurde. Bereits zu ihrem 90. Geburtstag war eine weit verstreute Fangemeinde nach Paris gereist, so auch aus der Nollendorfstraße 28. Noch mit 94 besaß Hanni Lévy eine so große Energie, von der Sechzigjährige nur träumen können. Spontan konnte sie das vielstrophige Fredy- Sieg-Lied von der Krummen Lanke rezitieren. Hanni Lévy hat das ihr entgegengebrachte Interesse sehr genossen. Stets hat sie sich gegen Antisemitismus und Rassismus engagiert und für Humanismus und Weltoffenheit geworben. Berlin und besonders die junge deutsche Generation haben eine Botschafterin in Paris verloren.
Autor: Matthias Reichelt