Mr. Jones, gerade auf den Filmfestspielen in Berlin vorgestellt, ist nicht irgendein Film: George Orwell ist eine so vertraute Allegorie über die Geschichte und Gefahren des 20. Jahrhunderts, dass es manchmal wirklich gut ist, an ihre Quellen erinnert zu werden – selbst, wenn es hier etwas mehr Orwell als nötig zu sehen gibt.
Agnieszka Hollands Drama Mr. Jones erzählt die Geschichte von Gareth Jones, einem walisischen Reporter, dessen investigativer Besuch in der UdSSR und insbesondere in der sowjetischen Teilrepublik Ukraine in den frühen 1930er Jahren die Wahrheit über den Hunger-Völkermord in der Ukraine publik machte und auch Orwells Geschichte inspirierte. Dies alles garniert mit einer Besetzung, die eindrucksvoll von James Norton geleitet wird, und einer Kinematographie, welche die Tristesse des Winters und der Entbehrungen mit grimmigen Effekten einfängt, wirkt Hollands Drama zum Teil wie eine akribisch veranschaulichte, beklemmend spannende Geschichtsstunde.
Mr. Jones brilliert insbesondere im Mittelteil, der die Reise des Reporters durch das Hungergebiet beschreibt und das Leid dokumentiert. „Holodomor“ genannt, eine der größten Katastrophen im frühen 20. Jahrhundert in Europa. Im Kern ist die Story geschichtswissenschaftlich fundiert. Das gereicht dem Film durchaus zum Vorteil: So wie er sich manchmal anfühlt, hat er narrativ als auch emotional genügend Gewicht, um weit über den (Qualitäts-)Mainstream hinaus einen Platz in der Filmhistorie einnehmen zu können.
Im Film treffen wir Jones im Jahre 1933. Wie so viele andere bekommt er die Folgen der Weltwirtschaftskrise am eigenen Leib zu spüren. Für seine Stelle als außenpolitischer Berater des britischen Premierministers Lloyd George reichen die finanziellen Mittel nicht mehr aus, weshalb seine Karriere an dieser Stelle ein abruptes Ende nimmt. Inwiefern diese offizielle Begründung den tatsächlichen Gründen seines Ausschlusses nahekommt, sei dahingestellt – denn Gareth Jones ist ein Mann, der die Sowjetunion bewundert, vor Hitler warnt und sich damit nicht nur Freunde macht. Unbeirrt durch diese Entwicklung, plant Jones schon seine nächsten Schritte. Nachdem er bereits Hitler interviewt hat, verschafft er sich ein Visum und reist nach Moskau. All das in der Hoffnung auch Stalin für ein Interview gewinnen zu können.
In Moskau angekommen, wird Jones vom Büroleiter der New York Times Moscow, Walter Duranty (Peter Sarsgaard), begrüßt, der fest an die neue sowjetische Ordnung glaubt, aber auch fragwürdiger Gastgeber einer Vielzahl von Partys ist, die von Drogen, Jazz und Nacktheit geprägt sind. Durch einen Trick verschafft Jones sich eine offizielle Erlaubnis, die SSR Ukraine zu besuchen, wo angeblich industrielle Wunder geschehen. Allerdings entflieht er seinen offiziellen Begleitern und macht sich selbst auf die Suche nach der Wahrheit.
An diesem Punkt hebt der Film wirklich ab und verlagert sich von einem akribischen, aber etwas halbfreizeitlichen Projekt eines Journalisten im Ausland zu einem Reisedrama. Mit einer gedämpften Farbwahl – teils fast schon schwarz-weiß – und einer klanglichen Strenge, die an Bela Tarr und einige der Spielfilme von Sergei Loznitsa erinnert, zieht Jones durch eine düstere, schneebedeckte Ukraine, die von schrecklichem Hunger und Tod beherrscht wird. Es gibt eine etwas folkloristisch-kitschige Stelle, als eine Gruppe von Kindern ein Lied über Tod und Hunger singt, aber die Episode bekommt bald eine stark erschreckende Wendung, als Jones bei einer verwaisten Familie Zuflucht sucht und herausfindet, dass sie nur durch Kannibalismus überlebt haben.
Das letzte Drittel des Films zeigt Jones zurück in Großbritannien und seinen Kampf seine Geschichte zu veröffentlichen. Duranty zeigt sich als machtvoller Gegenspieler, der sein ganzes Renommee ausspielt, um Jones als Lügner zu diffamieren. Zu wichtig scheint dem Stalin-Fan Duranty das sozialistische Experiment in der UdSSR, um es durch schlechte Nachrichten diskreditieren zu lassen. An diesem Punkt lernt er Eric Blair (Joseph Mawle) kennen, welcher sich als Schriftsteller unter dem Namen „George Orwell“ einen Namen machen wird. Tatsächlich haben wir Orwell bereits am Anfang getroffen, und es ist eine der schwächeren Ideen des Films, ihn zwischendurch Auszüge aus der Tierfarm durchlesen zu lassen; als ob die Geschichte von Mr. Jones nicht auch so schon außergewöhnlich genug wäre, um alleine zu bestehen.
Ansonsten hat die polnische Filmveteranin Holland (2017’s Spoor, US-Fernseharbeit einschließlich Treme und House of Cards) alles richtig gemacht. Das Casting ist stark, mit Norton – einem vielseitigen, britischen TV-Tausendsassa, bekannt aus Happy Valley, Grantchester und McMafia -, als Hauptdarsteller, der den entschlossenen Ermittler und Beobachter Jones spielt, aber alle übermäßigen Nuancen von unangebrachtem Heldentum abschwächt.
Sarsgaard spielt eindrucksvoll die Rolle eines „wohlgebildeten Schleimers“, was durchaus seine Stärke ist, während der Brite Doyen Kenneth Cranham den eher hinterhältigen Lloyd George gibt. Vanessa Kirby gibt – wie man heute sagen würde – ein gutes, naives „Fan-Girl“ der UdSSR ab, obwohl weder ihre Art noch ihr Aussehen auch nur annähernd dem Zeitgeist der 1930er entsprechen.
Antoni Komasa-Łazarkiewiczs Musik ist sowohl stimmungsvoll und treibend, als auch zurückhaltend-bedrückend – je nach geforderter Szene. Die strenge Kinematographie und das zuweilen monumentale Design holt das Beste aus den ukrainischen und schottischen Drehorten raus.
Mr. Jones ist eines der Highlights der Berlinale, weil er neben einer spannenden Story und eindrucksvollen Inszenierung einer der „vergessenen Katastrophen“ des 20. Jahrhunderts wieder ins Gedächtnis holt, ohne moralisierend oder mit falschem Heroismus verfälschend zu wirken. Auch und gerade vor dem Hintergrund des aktuellen Zeitgeschehens ein erhellendes Werk, welches den Ereignissen einen zusätzlichen, historischen Kontext verleiht.
Mr. Jones
Regie: Agnieszka Holland
Polen / Großbritannien / Ukraine 2019, Englisch, Ukrainisch, Russisch, Walisisch
192 Min · Farbe
Berlinale – Wettbewerb