Genialer Arzt oder Scharlatan?
Wer war Jan Mikolášek? Dieser Frage geht die für „Hitlerjunge Salomon“ oscarnominierte Regisseurin Agnieszka Holland nach. Dieser tschechische Arzt, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts unzählig vielen Menschen das Leben rettete, ist heute fast unbekannt. Dabei galt er zu seiner Zeit als Star der Branche, obwohl er für die damalige Fachwelt wegen seiner unkonventionellen Methoden eher als Scharlatan bezeichnet wurde. In ihrem Biopic zeigt Agnieszka Holland die Hauptfigur als eine getriebene und ambivalente Persönlichkeit. Dabei beweist sie eine erzählerische Kunstfertigkeit, die uns diese von Ivan Trojan großartig verkörperte historische Figur und seine Zeit sehr nahe bringt.
Wir stehen mit in der langen Menschenschlange, die bei ihm für einen Termin anstehen. Gespannt und hoffnungsvoll warten wir auf seine Diagnose und vor allem auf seine Medikation. Jan Mikolášek war ein Experte der Kräuterkunde. Und er war bekannt dafür, nur anhand der Urinproben seiner Patienten deren Erkrankung festzustellen. Selbst das Todesdatum einiger seiner Patientinnen und Patienten soll er vorhergesagt haben können.
Aber Agnieszka Holland zeigt auch die andere Seite dieses Arztes. Können wir auf der einen Seite sein Genie bewundern, so erschüttert uns sein Hang zu Grausamkeiten. Zum Beispiel dann, wenn er während seine Ausbildung die Katzenbabys nicht ertränkt, sondern in sadistischer Grausamkeit wiederholt gegen einen Stein schmettert, bereitet uns die Regisseurin hier einen Schock, von dem wir uns während des ganzen Films kaum erholen können. Und doch ist dieser Schock wichtig, damit Jan Mikolášek für uns nicht als Wunderheiler von Szene zu Szene wandelt.
Sein Status als Arzt mit außergewöhnlicher Heilungsquote ist in ständiger. Nicht zuletzt auch wegen seiner Homosexualität und seiner Liebesbeziehung mit seinem Assistenten František, gespielt von Juraj Loj. In der besonders sensiblen Darstellung der Intimität dieser beiden Männer gelingt Agnieszka Holland eine Tiefe, für die sie schon ausgezeichnet wurde. Dabei kann sie sich vor allem auf den Hauptdarsteller Ivan Trojan verlassen, der Jan Mikolášek in seiner ganzen Ambivalenz großartig darstellt.
Ein Film wie aus dem Lehrbuch
Charlatan ist formal betrachtet reif für die Lehrbücher. Die Kameraarbeit von Martin Štrba, der Schnitt von Pavel Hrdlička und auch die Kostüme von Katarína Štrbová-Bieliková sowie von René Stejskal und Gabriela Poláková gestaltete Maske zeugen von sehr großem Können. Auch von den Führungsqualitäten der bekannten Regisseurin. Der ganze Film glänzt in üppiger Ausstattung und jedes Set, jedes Kostüm bringt uns Zuschauern das Tschechien der Zeit so nah, dass wir uns stellenweise als Komparsen fühlen können.
Doch genau in diesem Hang zur Perfektion und in der Routine liegt das einzige Manko dieses Films. Er lässt keinen Raum für Ungewöhnliches, für Überraschungen und noch nie erlebte Momente. Keine intime Szene ist zu lang und zu intim, kein schockierender Moment zu laut. Jeder Dialog scheint bei aller Authentizität und hervorragender Schauspielkunst genau berechnet und jedes Zeichen einer Baufälligkeit in der historischen Kulisse genau dort, wo man es erwartet.
Nichts davon spricht gegen das große Können Agnieszka Hollands. Aber manchmal wäre ein etwas weniger mehr gewesen. Dabei ist der Film sehr kurzweilig. Die Darsteller, allen voran Ivan Trojan als Jan Mikolášek zeigen sich als wahre Meister ihres Fachs und die Dramaturgie zeichnet einen perfekten Spannungsbogen, ohne sich durch die Autobiografie Jan Mikolášeks einengen zu lassen.
Ein Blick auf die historischen Ereignisse geraten dabei ein wenig schwach. Nur kurz erhalten wir Eindrücke vorbeiziehender nationalsozialistischer und kommunistischer Diktatur. Wie sehr sich der Arzt in die Politik und vor allem zwischen den Zahnrädern der Bürokratie verfangen hatte, wird kaum sichtbar. Andere Szenen aus dem Leben Jan Mikolášek waren der Regisseurin wichtiger. Das schadet Charlatan allerdings nicht. Der Film ist und bleibt eines der spannenderen Biopics neuerer Zeit.
Charlatan
Tschechische Republik / Irland / Polen / Slowakische Republik 2020, 118 Min.
Regie: Agnieszka Holland
Mit: Ivan Trojan, Josef Trojan, Juraj Loj, Jaroslava Pokorná
Berlinale 2020 – Sektion: Berlinale Special Gala