Wolfram Wette / Gerd R. Ueberschär (Hrsg.): Kriegsverbrechen im 20. Jahrhundert, Darmstadt 2001.
Dieser Sammelband, an dem 43 Wissenschaftler, zumeist Historiker, aus vielen Ländern mitgewirkt haben, beschreibt Kriegsverbrechen im 20. Jahrhundert, aber zugleich auch die politischen und rechtlichen Anstrengungen der Staatengemeinschaft, diese durch verbindliche völkerrechtliche Bestimmungen und Sanktionen einzuschränken. Den chronologischen Ausgangspunkt bildet die Haager Landkriegsordnung von 1899 und 1907 mit ihrer Definition von Kriegsverbrechen, ohne allerdings ein entsprechendes internationales Gericht zu deren Ahndung zu schaffen. Dieses wurde ad hoc erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Nürnberger Internationalen Militärtribunal (IMT) geschaffen, und erst jetzt zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist die internationale Staatengemeinschaft dabei, einen ständigen Internationalen Strafgerichtshof ins Leben zu rufen. Mit der Verfolgung von Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien, Ruanda und anderswo wurde und wird ein weltweit wahrgenommener Anfang gemacht. Wie widersprüchlich dieser Prozess hin zur Bestrafung von Kriegsverbrechen abläuft, zeigt der Beitrag von Joachim Perels „Probleme der Ahndung völkerrechtswidriger Staatsverbrechen“ u. a. am Beispiel der USA, die gleichermaßen Vorreiter eines neuen Völkerrechts zur Ahndung von Kriegsverbrechen und dessen Widersacher – je nach geschichtlicher Konstellation waren. So hatte die US-Regierung kein Interesse daran, den Vernichtungsterror des Roten-Khmer-Regimes in Kambodscha Mitte der 70er-Jahre, das von sieben Millionen Einwohnern etwa 1,5 Millionen ausrottete, vor ein Kriegstribunal zu bringen, da die Regierung Pol Pots ein politischer Gegner Vietnams war. Joachim Perels folgert: „Die Wirklichkeit des Völkerrechts blieb eine abhängige Variable der Interessenslage der stärksten Führungsmacht der Welt“ (S. 26).
Der Schwerpunkt dieses Werkes liegt jedoch nicht auf einer Untersuchung der Entwicklung des Kriegsvölkerrechts, sondern auf der geschichtswissenschaftlichen Darstellung von Kriegsverbrechen in verschiedenen Weltregionen und Staaten während des 20. Jahrhunderts. Der Leser soll sich über die historischen Sachverhalte informieren können, von denen in der Regel lediglich die symbolbeladenen Ortsnamen – wie z. B. Katyn, Babij Jar, Nanjing, Dresden, Hiroshima oder My Lai – geläufig sind, ohne dass das hinter diesen Namen verborgene Verbrechensgeschehen im einzelnen bekannt wäre. Dabei ist es den Herausgebern, Wolfram Wette und Gerd R. Ueberschär, beide namhafte Militärhistoriker, gelungen, über deutsche Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg hinausgehend kompetente Wissenschaftler auch für die Darstellung des Forschungsstandes von Kriegsverbrechen anderer Staaten im 20. Jahrhundert zu gewinnen. Yuji Ishida und Uwe Makino beschreiben japanische Kriegsverbrechen in den 30er- und 40er-Jahren, insbesondere die Massenvergewaltigungen und Massentötungen von Zivilisten in China. Diese korrespondierten ebenfalls mit der Vorstellung des „totalen Krieges“. So betont Uwe Makino: „Der ‚Weltanschauungskrieg’, der ab dem Sommer 1941 in der Sowjetunion tobte und in der Konsequenz auch den Holocaust beschleunigen sollte, erinnert jedenfalls in seiner Maßlosigkeit an die Verbrechen der Japaner in China“ (S. 352). Und Yuji Ishida stellt klar, dass die „Gedanken der deutschen Geopolitik, wie die des Wortführers Karl Haushofer, in Japan sehr populär und unter den Militäreliten einflussreich waren. Die deutsche Raumforschung und Raumplanung wurde auch hinsichtlich der Besatzungspolitik in der Mandschurei stark berücksichtigt“ (S. 334). Weitere Beiträge thematisieren u. a. sowjetische Kriegsverbrechen an der polnischen Bevölkerung, kroatische Morde im Konzentrationslager Jasenovac, niederländische Verbrechen in Indonesien, sowjetische Gewalttaten auf deutschem Boden in der Schlussphase des Zweiten Weltkriegs, den alliierten Luftkrieg gegen die deutsche Zivilbevölkerung und US-amerikanische Gewalttaten während des Vietnamkrieges. Birgit Beck, Historikerin an der Universität Bern, untersucht Massenvergewaltigungen als Kriegsverbrechen in einer geschichtlichen Längsschnittuntersuchung vom Ersten Weltkrieg bis zum Krieg im ehemaligen Jugoslawien und beschreibt in diesem Zusammenhang die Entwicklung des Völkerrechts. In der Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien durch den UN-Sicherheitsratsbeschluss vom 25. Mai 1993 sieht sie einen bedeutenden historischen Fortschritt und resümiert: „Alleine durch die Aufnahme dieses Gerichtsverfahrens (erscheint) die Hoffnung berechtigt, dass Frauen in Zukunft nicht mehr die verkannten und ungesühnten Zielscheiben von Kriegsverbrechen sein werden, da die Verantwortlichen für diese Taten mit einer Bestrafung zumindest rechnen müssen. Die rechtlichen Grundlagen dafür sind am Beginn des 21. Jahrhunderts bereits geschaffen“ (S. 415).
Der informative Nutzen dieses verdienstvollen Sammelbandes und seine Bedeutung für die historisch-politische Bildung stehen für den Rezensenten außer Frage, auch wenn es leider versäumt wurde, im Rahmen dieses interdisziplinären Gemeinschaftswerkes didaktische Perspektiven explizit einzubeziehen. Und doch seien zwei kritische Hinweise angemerkt: ein spezieller auf einen Einzelbeitrag bezogen und ein weiterer, der den konzeptionellen Ansatz des Werkes tangiert. In seinem Beitrag „Babij Jar 1941. Das Verwischen der Spuren“ stellt Wolfram Wette zu Recht den Tatbestand dar, dass sowohl die Wehrmacht 1941 und danach alles getan hat, um ihren Anteil an der Ermordung von ca. 30.000 jüdischen Menschen am 30. September 1941 zu verschleiern, als auch einige Historiker bis heute (als Beispiel nennt er unter Anmerkung 33 Joachim Hoffmanns Buch „Stalins Vernichtungskrieg“) diese Tendenz zur Verharmlosung der Wehrmachtsverbrechen unterstützen. Gleichzeitig lobt er Klaus Jochen Arnold. Dieser habe die Forschung zu Babij Jar, wenn auch nur in Nebenaspekten, „ein beträchtliches Maß vorangetrieben“ (S. 152). Dieses Lob befremdet insofern, als Klaus Jochen Arnold in seiner Studie zu Babij Jar (vgl. Militärgeschichtliche Mitteilungen, Bd. 58/1999, S. 22–63) eine eindeutig apologetische Darstellung bietet und die Wette selbst, allerdings nur als Randnotiz seiner Anmerkung 5, andeutet. Der Leser wird mit diesem zumindest partiellen Widerspruch alleine gelassen. Ebenso unverständlich erscheint ein konzeptionelles Defizit. In ihrem Vorwort stellen die Herausgeber Gerd R. Ueberschär und Wolfram Wette einen Katalog von Leitfragen vor, den sie den Autoren der Einzelbeiträge sozusagen als heuristisches Hilfsmittel an die Hand gaben (S. 12). Leider ist dieser Fragenkatalog wenig geeignet, eine Stufung bzw. Differenzierung der Kriegsverbrechen von völkerrechtswidrigen Aktionen bis zum Vernichtungskrieg vornehmen zu können. So erscheinen trotz aller Kompetenz der Autoren die Einzelbeiträge als mehr oder weniger gleichrangige Reihung völkerrechtsverletzender Kriegsführungen überall in der Welt. Und die Herausgeber können als das allen Einzelbeiträgen gemeinsame Resultat – aufgrund ihrer eigenen Vorgaben – feststellen: „Dabei wird deutlich, dass die Vorstellung von einer verbrecherischen Kriegführung im Osten und einem mehr oder weniger völkerrechtskonformen Kampf im Westen und Norden kaum haltbar ist“ (S. 14). Eine größere begriffliche Schärfe wäre hier wünschenswert gewesen.
Autor (Rezensent): Wigbert Benz
Erstveröffentlichung in: Informationen für den Geschichts- und Gemeinschaftskundelehrer. Wochenschau Verlag, Schwalbach am Taunus o. J.
Wolfram Wette / Gerd R. Ueberschär (Hrsg.): Kriegsverbrechen im 20. Jahrhundert. Primus Verlag, Darmstadt 2001, 589 S., ISBN 3-89678-417-X.