Dieses Werk ist in zweifacher Hinsicht bemerkenswert: zum einen wegen seiner eindringlichen Darstellung bewegender Schicksale, zum anderen wegen seiner außergewöhnlichen Entstehungsgeschichte.
Erschienen ist das historische Lesebuch „Es gab Juden in Reutlingen“ im Jahr 2005, in dem sich das Ende des Zweiten Weltkriegs zum 60. Mal jährte. Allerdings war die Veröffentlichung ursprünglich nicht für dieses Gedenkjahr geplant, sondern wesentlich früher. Die Anfänge des Buchs liegen nämlich, wie der Leser im Einführungskapitel erfährt, mehr als 20 Jahre zurück. Damals, im Herbst 1985, wurde die „Reutlinger Geschichtswerkstatt“ als Einrichtung der örtlichen Volkshochschule gegründet. Nach dem Motto „Grabe, wo du stehst“ fasste eine Gruppe historisch interessierter Laien den Entschluss, sich einem ganz speziellen Bereich der Stadtgeschichte zu widmen, der bis dahin großenteils im Dunkeln gelegen war: dem Schicksal der ehemaligen jüdischen Mitbürger Reutlingens.
Spätestens Ende 1987 sollten die Ergebnisse der Nachforschungen in Form einer Dokumentation vorliegen. Doch im Lauf der Recherche-Arbeiten stellte sich heraus, dass eine schier unerschöpfliche Menge an Dokumenten darauf wartete ausgewertet zu werden. So kam es, dass sich die Arbeit über viele Jahre hinzog und von ursprünglich einem Dutzend Mitarbeitern am Ende nur noch zwei Personen übrig blieben: der Journalist Bernd Serger, der das Projekt initiiert hatte, und die Kulturwissenschaftlerin und Historikerin Karin-Anne Böttcher. Herausgebracht wurde das Buch schließlich vom Reutlinger Stadtarchiv (stadtarchiv@reutlingen.de) unter der wissenschaftlichen Betreuung des Archivleiters Dr. Heinz Alfred Gemeinhardt.
Wie viel persönliches Engagement und welche ungeheure Leistung diese Arbeit erfordert haben muss, ahnt der Leser schon beim ersten Durchblättern des fast 600 Seiten starken, reich bebilderten Werks. „Niemand sollte vergessen werden – kein Jude, keine Jüdin, die einmal für längere Zeit in Reutlingen gelebt hatten. Vielleicht steckt dahinter ein Bedürfnis, die anklagende Leere beim Blick zurück in die Stadtgeschichte mit ‚Menschen’ oder wenigstens mit ihren ‚Daten’ zu füllen“, heißt es in der Einleitung.
Dieses Ziel ist mit dem vorliegenden Werk ohne Frage erreicht. Allein die Fülle an Daten, die hier zusammengetragen wurden, ist erstaunlich. So weist etwa der Anhang des Buchs eine lange Liste jüdischer Firmen in Reutlingen ab 1860 auf, ergänzt durch einen detaillierten Stadtplan. Und das eng gedruckte Personen-, Orts- und Sachregister erstreckt sich über 23 Seiten.
Was mich an dem historischen Lesebuch jedoch besonders berührt, sind die Lebensgeschichten der Menschen, die hier in 44 Kapiteln eindringlich geschildert werden. Mit Sorgfalt und Einfühlungsvermögen holt das Autorenduo ihre Schicksale aus dem Dunkel und zeichnet ihre Lebenswege nach. Es sind Geschichten, die mich gerade deshalb betroffen machen, weil die Autoren in ihren detaillierten Ausführungen vor allem die Fakten für sich sprechen lassen.
Da ist etwa der einflussreiche Bankier Siegmund G. Warburg, der bereits 1933 das Unheil in Deutschland kommen sah, entschlossen auswanderte und jenseits der Grenzen den Kampf mit Hitler aufnahm. – Die berühmte Kriegsfotografin Gerta Taro, die mit 27 Jahren im Spanischen Bürgerkrieg umkam, nachdem sie 1933 aus Reutlingen geflohen war. – Der Reutlinger Immobilienmakler Adolf Maier, der sich nach seinem Bankrott 1937 das Leben nahm und dessen Ehefrau später in Auschwitz ermordet wurde. – Das tragische Schicksal des Schuhgeschäft-Inhabers Heinrich Rosenrauch, der 1935 nach Palästina auswanderte, doch dann seiner Mutter zuliebe nach Reutlingen zurückkehrte. Später verbrachten er und seine Frau vier Jahre im Konzentrationslager.
Bei der Lektüre des Buchs wird dem Leser immer wieder schmerzlich bewusst: Diese Schicksale hätten sich ebenso gut in meiner unmittelbaren Nachbarschaft abspielen können – und haben sich wohl auch in ähnlicher Form abgespielt. Das Werk geht insofern deutlich über ein lokales Interesse hinaus.
So ist es erfreulich, dass das Buch offenbar nicht nur im unmittelbaren örtlichen Umfeld angemessen gewürdigt wird. Im November 2005 nahmen die beiden Autoren für ihre „herausragenden Leistungen für die Heimatforschung Baden-Württembergs“ den Landespreis für Heimatforschung entgegen.
Viele der Zeitzeugen, mit denen die Autoren in den Achtziger- und Neunzigerjahren noch ausführliche Interviews führen konnten, sind inzwischen verstorben. So gesehen kann man froh sein, dass das Buch „Es gab Juden in Reutlingen“ nicht erst zum 60. Jahrestag des Kriegsendes entstanden ist. Bedauerlicherweise schwinden mit jedem Jahr die Chancen, Menschen anzutreffen, die von den Jahren des Terrors und Kriegs in Deutschland aus eigener Erfahrung berichten können. Und doch wünscht man sich nach der Lektüre dieses Buchs eins: dass noch in vielen anderen Orten in Deutschland Menschen dem Beispiel der „Reutlinger Geschichtswerkstatt“ folgen werden und dort anfangen zu graben, wo sie stehen.
Autorin: Rita Steininger
Bernd Serger und Karin-Anne Böttcher: Es gab Juden in Reutlingen. Geschichte, Erinnerungen, Schicksale. Reutlingen 2006. Erhältlich beim Stadtarchiv Reutlingen: E-Mail: stadtarchiv@reutlingen.de / www.reutlingen.de