Klaus Kempter: Joseph Wulf. Ein Historikerschicksal in Deutschland. Göttingen 2013.
Er öffnete am 10. Oktober 1974 in der Giesebrechtstraße (Berlin-Charlottenburg) das Fenster und stürzte sich auf die Straße. Der Auschwitzüberlebende und autodidaktische Historiker Joseph Wulf beging Suizid, weil er befürchtete, „dass die Juden nicht mehr als besondere Gruppe mit einer sehr spezifischen Verfolgungserfahrung wahrgenommen werden würden und das singuläre Verbrechen an den Juden aufgrund der allgemeinen Aussöhnungsstimmung in einer unspezifischen Gewaltgeschichte des Zweiten Weltkrieges verschwinden würde“ (S. 375).
Der vom persönlichen Schicksal und Überlebenskampf lebenslang schwer gezeichnete Mann wurde 1912 in Chemnitz geboren, wuchs in Krakau auf und ließ sich dort zum Rabbiner an der Jüdischen Hochschule ausbilden. Die Deportation nach Auschwitz überlebt er und flieht nach vier Jahren Haft auf dem Todesmarsch. Zunächst in Polen geblieben, engagiert sich Wulf für die Auswertung aufgefundener Dokumente über jüdisches Leben und Sterben in Polen. 1947 emigrierte er über Paris um sich fünf Jahre später in Berlin niederzulassen.
Anfangs wirkte Joseph Wulf als Mitarbeiter der „Bundeszentrale für Heimatdienst“ (heute „Bundeszentrale für politische Bildung“) und informierte in diesen Rahmen als einer der ersten Betroffenen die bundesdeutsche Öffentlichkeit – das Ansinnen, ehemalige Diplomaten Anfang der fünfziger Jahre im Auswärtigen Amt unterzubringen, störte er empfindlich – über die Verbrechen des Nationalsozialismus. Durch seinen Zugriff auf Aktenbestände aus dem „Dritten Reich“ entstehen zahlreiche Dokumentationsbände. Sie werden zwar zur Kenntnis genommen, aber bringen den Außenseiter nicht den erhofften Erfolg und Aufsehen. Sein stets gepflegter Status eines Staatenlosen behinderte sein Anliegen ebenso wie die vollkommen anders gelagerten Erfahrungen der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Hinzu kam, dass er seine Mission, an historischer Aufklärung mitzuwirken, ohne wissenschaftliche Erfahrung und Ausbildung betrieb. Konflikte waren wegen seines fordernden Anspruchs mit Geschichts- und Politikwissenschaftlern vorausschaubar.
Seit 1965 versuchte Wulf, die Villa der Wannseekonferenz als ein Dokumentationszentrum einzurichten und dem „Verein zur Erforschung des Nationalsozialismus“ zur Nutzung zu übergeben. Der Plan war lange umstritten. 1988 wurde die Villa unter denkmalpflegerischen Gesichtspunkten zur Nutzung als Gedenkstätte rekonstruiert und 1992 als „Haus der Wannseekonferenz“ eröffnet.
Aus vielen persönlichen Kontakten die Joseph Wulf suchte, entwickelten sich nie bewährte Freundschaften. Nach seinem Freitod war der vorherrschende Tenor der für Rundfunk- und Fernsehsendungen Interviewten Weggefährten und Bekannten, dass er zwar als leidgeprüfter und gezeichneter Mann in der BRD kein Gehör findet, beständig zurückgestoßen wurde und deshalb nur noch den Ausweg im Freitod sah. „Wulf sah seine Arbeit nicht so sehr als Teil der geschichtswissenschaftlichen Diskussion, sondern in erster Linie als Versuch, die Öffentlichkeit über die nationalsozialistische Vergangenheit aufzuklären“ (S. 15). Um 1968 standen für die Geschichtspolitik im modernen Deutschland ganz andere Themen im Fokus der politischen Publizistik. Unter anderem die Reformen an den Universitäten, der Ausbau des Sozialstaates, die Liberalisierung der Lebensstile, die neue deutsche „Ostpolitik“ und der gewaltsame Kampf militanter marxistischer Sekten gegen den Staat als die von Joseph Wulf eingeforderte „Vergangenheitsbewältigung“.
Mehrere Versuche, Anschluss in den sechziger Jahren an die intellektuelle Elite zu finden, waren erfolglos. In näheren Kontakt mit Karl Jaspers, Golo Mann und Marcel Reich-Ranicki (Was ich machte, interessierte nicht, für ihn existierte keine Literatur) zu treten, scheiterten. Desgleichen war das Verhältnis mit Ernst Jünger gekennzeichnet: mehr Wunsch als Realität. Er ordnete den Schriftsteller zwar während der Weimarer Republik als weit rechts stehend ein und vermutet in ihm den geistigen Wegbereiter des Nationalsozialismus, aber ihm imponierte die konsequente Abkehr vom Regime. Nach einigen Treffen mit Jünger war Wulf am regen geistigen Austausch interessiert, dem der Schriftsteller reserviert begegnete. Die Briefe stellen „ein kurioses Dokument der intellektuellen Zeitgeschichte dar, waren die beiden doch in fast allen angesprochenen Fragen unterschiedlicher, ja gegensätzlicher Ansicht“ (S. 303).
Klaus Kempter legt mit seiner Studie erstmals einen umfassenden Lebensbericht über Joseph Wulf vor. Die Materialgrundlage fand der Historiker im Nachlass des Zentralarchivs zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland in Heidelberg sowie einigen anderen Dokumentationssammlungen. Der Text spürt dem Schicksal eines (fast) vergessenen Mahners und Protagonisten nach, der zu einer Zeit Opfergedenken einforderte als die Bevölkerung noch kein offenes Ohr für „fremdes“ Leid hatte. Wulf in seine Zeit zu stellen und die Facetten seines Scheiterns offen zu legen, ist das Verdienst des Autors.
Autor: Uwe Ullrich
Kempter, Klaus: Joseph Wulf. Ein Historikerschicksal in Deutschland; Schriftenreihe des Simon- Dubnow- Institutes, Band 18; Göttingen 2013; 422 Seiten, schwarz- weiß Abbildungen, 64,99 Euro