Die endlos erscheinende Bilderfolge von Kriegsgräueln jeder Art beginnt mit einem vermeintlich harmlosen Einstieg. Behutsam legen zwei Hände ein Familienfoto ins Innere eines Modellbauhauses, als wollten sie dem Bild ein Heim geben. Schnell wird dem Zuschauer klar, es geht in diesem Film um Verlust und die Erinnerung an seine Ursachen. Rithy Panhs Film „Irradiés“ ist eine Dokumentation gegen das Vergessen der mannigfachen Grausamkeiten, die Menschen fähig sind einander anzutun. Was nun folgt, ist nichts für schwache Nerven. Der Regisseur reiht Bilder von Leichenbergen, Menschen im Todeskampf, Aufnahmen aus KZs, von Menschen nach Giftgasangriffen, den Bombenangriffen auf Hiroshima und Nagasaki und anderen Massakern derartigen Ausmaßes aneinander. Die Kamera fährt durch Folterhäuser der Roten Khmer und über Napalmopfer in Vietnam, halbtote Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg und Überlebende aus Auschwitz und Bergen-Belsen hinweg. Durch dazwischen eingeblendete oder überblendete Aufnahmen von einzelnen Personen, wie einer jungen Kambodschanerin kurz vor ihrem Tod, wird deutlich, hier geht es immer um menschliche Schicksale, um das unermessliche Leid jedes einzelnen Menschen, der diese Grausamkeiten erdulden muss.
Neben den Überblendungen greift Filmemacher Panh zur Technik des Split Screen. Gleich einem Triptychon ist die Leinwand bei dieser Technik dreigeteilt, mit der Möglichkeit, entweder unterschiedliche Perspektiven einer Szenerie oder ein ähnliches Motiv an unterschiedlichen Orten aufzeigen zu können. Und oftmals ist auf allen drei Bildsegmenten dasselbe Bild zu sehen. Der Regisseur nutzt das filmische Mittel der Montage, um die Wirkung der Bilder auf den Zuschauer zu verstärken. Sie zwingt zum genauen Hinsehen. Andererseits schafft die Technik der bewegten Bildcollagen aber auch die nötige Distanz, um die Wucht des Gezeigten etwas besser ertragen zu können. Über den Bildmontagen liegen eine weibliche (Rebekka Marder) und eine männliche (André Wilms) Erzählstimme, die in ruhigem Ton aus dem Off poetische Texte (auf Französisch) vortragen. Der Inhalt, der in keinem anderen als einem thematischen Zusammenhang steht, dreht sich darum, was es für einen Menschen heißt, durch das abgrundtief Böse bestrahlt (irradier – bestrahlen) worden zu sein. Unterstrichen wird die Kernaussage auch durch die Performance eines Kabuki-Tänzers (Bion), der in einer Szene seine Haut abzustreifen versucht. Er zeigt damit auf, wie unmöglich es ist, seinem erlittenen Trauma zu entrinnen.
Die Auschwitz Überlebende und Schauspielerin Marceline Loridan-Ivens, mit der Rithy Panh lange Gespräche über sein Projekt führte, stellte ihm für „Irradiés“ Ausschnitte aus „Chronik eines Sommers“ (von Jean Rouch und Edgar Morin) zur Verfügung, einem film-experimentellen Gesellschaftsportrait aus dem Jahr 1961. Darin befragte Loridan Menschen nach ihrem persönlichen Glück. Panh greift dieses Thema auf, reflektiert darüber und kommt zu dem Schluss, neue Hoffnung könne nur durch Erinnerung und nicht durch Verdrängung aufkeimen.
Bei dem Bild in der Eingangssequenz könnte es sich um das fehlende persönliche Familienfoto des Regisseurs handeln. Rithy Panhs Familie wurde im Zuge der Zwangsumsiedlungskampagne der Roten Khmer 1975 aus Phnom Penh aufs Land deportiert, um auf den Reisfeldern zu schuften. (Den Despoten waren Städter und vor allem Intellektuelle – Panhs Vater war Lehrer – ein Dorn im Auge.) Wer unter den mörderischen Bedingungen nicht durchhielt, wurde umgebracht oder starb ausgemergelt und unterernährt an Krankheiten. Als Einzigem seiner Familie gelang es damals dem jungen Rithy, sich zu retten und über ein thailändisches Lager bis nach Frankreich zu fliehen. Dort studierte er an der Pariser Filmhochschule. Obwohl ihm von seiner Familie nur die Erinnerungen geblieben sind, kehrte er nach seinem Examen in seine Heimat Kambodscha zurück. Seitdem beschäftigte er sich immer wieder mit dem systematischen Vernichtungssystem der ehemaligen Despoten, mit den Gräueltaten der Roten Khmer. Sein Film „L’image manquante“ handelt von seiner glücklichen Jugend inmitten der Familie und der gemeinsamen Deportation in ein Arbeitskollektiv, in dem jeglicher persönlicher Besitz (wie ein Foto) strengstens verboten war. Das titelgebende fehlende Bild ließ er mit bemalten Tonfiguren nachbauen. Der Film gewann 2013 als erste kambodschanische Dokumentation einen Oscar.
Die Rezeption von „Irradiés“ ist sehr kontrovers. Von manchen Kritikern wurde dem Film Pathos und sogar Kitsch vorgeworfen, wegen der Einspielungen mit der Kabuki-Figur, wegen der Willkür mancher zusammengeschnitten Szenen und wegen einer brennenden Weltkugel. Als spräche die Macht der Bilder nicht für sich. Die zuständige dreiköpfige Jury auf der Berlinale schloss sich diesem Urteil nicht an und vergab den diesjährigen Dokumentarfilmpreis an Rithy Panh und seine Produzentin Catherine Dussart. Der Film sei ein „extremer, notwendiger Film, der mit unnachgiebiger Wucht in Auge und Herz dringt“ befand die Jury. Und die Intendantin des Rundfunk Berlin-Brandenburg, der in diesem Jahr das Preisgeld vergab, bezeichnete in ihrer Laudatio „Irradiés“ als „aufwühlendes Werk“. Es verlangt dem Zuschauer zweifelsohne Kraft ab, die 88 Minuten des Films durchzuhalten. Oftmals wünscht man sich angesichts der Bilder des Schreckens die Augen zu schließen, wohl wissend die Augen davor nicht verschließen zu dürfen, dass auch heute noch Menschen einander mit dem Bösen verstrahlen.
Es ist schwer zu dem Film „Irradiés“ des kambodschanischen Dokumentarfilmers Rithy Panh eine eindeutige Haltung zu gewinnen, der Film stößt ab und fasziniert zugleich. Sowohl in Bezug auf Inhalt als auch Machart polarisiert er, doch gleichgültig lässt er nicht. Vielleicht ist es gerade diese Ambivalenz, in der sich der Zuschauer emotional spiegeln kann, die die besondere Qualität des Films ausmacht.
Irradiés – Irradiated
Frankreich / Kambodscha 2020, 88 Min.
Regie: Rithy Panh
Mit: mit Bion, André Wilms, Rebecca Marder
Berlinale 2020 – Sektion: Wettbewerb