Zwischen Angst, Terror, Kameradschaft und Wahnsinn – Der Film “Je Suis Karl” vom Regisseur Christian Schwochow nimmt die Zuschauer mit auf die Reise einer jungen Frau, die nach schweren Verlusten ihren Platz im Leben sucht. Dabei findet sie sich schnell in einer Bewegung wieder, die sie wie eine unaufhaltsame Welle mitreißt.
Familienvater Alex (gespielt von Milan Peschel) denkt sich nichts dabei, als er ein Paket entgegennimmt, weil der eigentliche Empfänger nicht zuhause ist. Allerdings lässt er das Paket kurz unbeaufsichtigt, weil er noch Besorgungen erledigen muss. Das rettet ihm sein Leben. In dem Päckchen befindet sich eine Bombe und seine Explosion kostet nicht nur Alexs Frau, sondern auch seine beiden Söhne und sieben andere Menschen im Haus das Leben.
Auch Maxi (Luna Wedler) hatte Glück gehabt. Sie war zum Zeitpunkt des Anschlags nicht zuhause gewesen. Umso härter trifft sie die Nachricht über die Toten und stürzt sie in tiefe Verzweiflung. Indirekt gibt sie ihrem Vater eine Mitschuld an dem Unglück und streift ziellos durch die aufgewühlten Straßen Berlins, während die Nachricht von einem Terroranschlag die Runde macht. Für viele Leute steht schnell fest, dass es sich um islamistische Täter handeln muss.
Bei ihrem Herumirren trifft Maxi auf den charismatischen Karl (Jannis Niewöhner). E scheint auf jede Frage die richtige Antwort zu haben und versteht es, mit seiner Art bei Maxi genau die richtigen Knöpfe zu drücken. Als er Maxi direkt einlädt, mit ihm nach Prag zu einer Konferenz zu reisen, nimmt die junge, verletzliche Frau ohne große Überlegungen die Einladung an. Bald findet sie sich mitten im “Summer Camp” einer Gruppierung wieder, die sich selbst “Re/Generation Europe” nennt. Was wirkt wie das Zusammentreffen junger, aufgeklärter Menschen, hat seine Schattenseiten. Allzu schnell wird klar, dass die “Re/Generation Europe” mehr als diskutieren und Spaß haben wollen. Nur Maxi sieht nicht durch die Fassade – oder will sie es nur nicht sehen?
“Je Suis Karl” erinnert in vielen Teilen an ein Festival für Hipster und Influencer. Es gibt fetzige Hip-Hop Beats, grelle Lichteffekte und jede Menge Videoclips von Social Media Plattformen wie YouTube, Instagram und Co. Aber auch eine Gin-Verkostung ziehen die Mitglieder der Gruppe auf, um den Gemeinschaftssinn zu stärken und für eine lockere Stimmung zu sorgen.
Aber bei allen vermeintlich harmlosen, spaßigen Aktivitäten schwingen durchaus dunkle Töne mit. Das wird spätestens bei Diskussionen deutlich, die sich um die Sicherung der europäischen Grenzen, den Stopp von Einwanderer-Strömen und die Todesstrafe für ausländische Straftäter drehen. Aber auch Situationen wie eine Szene aus einem Prager Club, in dem alle Besucher zum Takt der Musik die Zeile “A la guerre” grölen (was auf Deutsch “In den Krieg” bedeutet), wirken verstörend und düster.
Für “Je Suis Karl” haben Regisseur Christian Schwochow und der Drehbuchautor Thomas Wendrich sich die Entwicklungen der rechten Gruppierungen in Europa genauer angeschaut. Sie haben unter anderem recherchiert, mit welchen Mitteln und Wegen solche Gruppen neue Anhänger für sich gewinnen wollen und wie sich diese Gruppen im Lauf der Jahre verändert haben. Die glatzköpfigen Neonazis mit Springerstiefeln und Baseball-Schlägern bekommt man als Zuschauer in diesem Film nicht präsentiert. Stattdessen geben sich die Rechten als jung, weltoffen, gebildet. Sie wissen, welche Social Media Trends grade in sind und nutzen die Wünsche und Ängste der Gleichaltrigen, um ihre Anhängerzahl zu stärken.
Selbst der Filmtitel “Je Suis Karl” ist ein kleiner, aber feiner Kniff. Christian Schwochow hat dafür den Slogan “Je Suis Charlie” abgeändert. Der Slogan kam 2015 auf, nachdem islamistische motivierte Attentäter einen Bombenanschlag auf das Verlagsgebäude des französischen Satire-Magazins “Charlie Hebdo” verübt hatten. “Je Suis Charlie” ging als Zuspruch und als Zeichen der Solidarität durch alle Medien. “Je Suis Karl” verdreht diesen Slogan passend zum Film und macht aus einem vermeintlichen Zeichen der Hoffnung ein Symbol der rechten Denkkultur.
Auch wenn “Je Suis Karl” einen eher jungen Cast hat, können gerade die Hauptdarsteller mit ihren Darstellungen brillieren. Luna Wedler verleiht ihrer Rolle als Maxi eine Tiefe, die unter die Haut geht. Der Zusammenbruch im Krankenhaus am Anfang des Films ist herzzerreißend und wirkt alles andere als gekünstelt. Man könnte allein beim Anschauen denken, dass jemand vom Team der jungen Frau wirklich eine echte Hiobsbotschaft übermittelt hat, um diesen emotionalen Zusammenbruch auszulösen. Luna Wedler, die einigen Zuschauern vielleicht aus dem Film “Das schönste Mädchen der Welt” bekannt sein könnte, spielt ihre Stärken aus und kaschiert dabei geschickt einige kleine Schwächen des Films.
Aber auch ihr männlicher Gegenpart Jannis Niewöhner spielt als charismatischer Sunnyboy und eiskalter Anführer auf einem hohen Niveau. Schon in Filmen wie “Der Fall Collinni” konnte Niewöhner beweisen, dass er nicht nur die einfachen Rollen spielen kann. Da muss sich Milian Peschel als verzweifelter Vater Alex warm anziehen, um den jungen Wilden nicht das komplette Rampenlicht zu überlassen.
“Je Suis Karl” macht von Anfang bis Ende keine halben Sachen. Es dauert keine zehn Minuten, bis die Bombe in einer Berliner Wohnung explodiert und der Film die Zuschauer auf eine interessante Fahrt in die rechte Szene der Neuzeit mitnimmt. Spannend ist unter anderem zu sehen, wie die Gruppierung um Karl herum die neuen Möglichkeiten von Social Media und dem Internet nutzt, um gezielt auf junge Leute zuzugehen – genauso, wie es auch in der Realität vor sich geht.
Dagegen lässt sich bemängeln, dass der Film sich in manchen Bereichen fast zu generisch anfühlt. Es ist wieder eine junge Frau, die erst als verletzliche Zuschauerin anfängt und schnell zu einem festen Mitglied der Gruppe aufsteigt. Es gibt wieder einen Anführer, der sich in Szene setzt und der von seinen Anhängern gefeiert wird wie ein Rockstar. Und natürlich darf ein Außenstehender nicht fehlen, der das Treiben schnell durchschaut, aber es nicht abwenden kann.
Die Grundidee ist nicht neu und es gibt auch hier und da ein paar Logikfehler, die nicht aufgeklärt werden oder die für das Fortlaufen der Handlung überrollt werden. Aber Christian Schwochow und Thomas Wendrich wollen auch nicht das Rad neu erfinden. Sie wollen mit ihrem Film einen Einblick geben, mit welchen Mitteln sich rechte Gruppierungen in Europa festsetzen können. Außerdem soll es im Film darum gehen, wie schnell man auch als Neuling in eine Spirale geraten kann, die immer nur in eine Richtung führt. Diese beiden Aspekte des Films sind derart deutlich und werden auch wirklich eindrucksvoll verfolgt, dass man als Zuschauer auch die kleinen Stolpersteine gerne einmal übersehen kann.
“Je Suis Karl” ist vielleicht kein Film für das große Mainstream-Publikum. Allerdings befasst er sich mit einem Thema, das so aktuell ist wie lange nicht mehr. Der Film verbreitet eine ähnliche Atmosphäre wie “Die Welle” mit Jürgen Vogel, geht aber noch ein paar Schritte weiter. Man könnte sagen, der Film zieht das Thema größer und auch radikaler auf. Allerdings vermeidet der Film den Fokus auf Gewalt und Chaos. Darum werden Elemente wie die Explosion am Anfang des Films zwar verwendet, aber vergleichsweise schnell auch wieder abgelegt.
Wer sich für Filme interessiert, die einen kritischen Blick auf die Entwicklung bestimmter Bewegungen oder Ideen legt, wie es auch “Der Baader-Meinhof-Komplex“ schon getan hat, der wird mit “Je Suis Karl” auf jeden Fall gut unterhalten werden. Es ist spannend und streckenweise auch verstörend, den Schauspielern beim Versinken im rechten Sumpf zuzuschauen und auf ein versöhnliches Ende zu hoffen – das es so nicht geben wird.
Ab 16.9.2021 im Kino.
- Weitere Informationen unter: je-suis-karl.film
- Pädagogisches Begleitmaterial gibt es unter: https://je-suis-karl.film/#schulmaterial